Rede von
Reinhold
Rehs
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Bundestag vor etwa Jahresfrist das Bundeswahlgesetz — mit einer Sperrklausel von 50/o auf Bundesebene — verabschiedete, war mit ziemlicher Sicherheit vorauszusehen, daß damit noch nicht das letzte Wort gesprochen sein würde.
Durch sein Verhalten in der Vergangenheit den kleineren Partnern in der Koalition gegenüber hatte der große christliche Bruder deutlich genug gezeigt, was er mit dieser Klausel beabsichtigte. Es war klar, daß eines Tages der Strick, der damit um den Hals der kleineren Fraktionen gelegt wurde, angezogen werden sollte, nicht, um sie gleich vollends zu erdrosseln — das wäre nicht immer wirtschaftlich gewesen —, sondern um sie so in Atemnot zu bringen, bis sie sich allen Wünschen gefügig zeigen würden.
Die Vorgänge der letzten Wochen und Tage haben hierfür erneut ein trübes, aber äußerst lehrreiches Anschauungsmaterial geliefert. Da wird mit Hilfe einer bestimmten, für solche Dinge immer bereiten Presse die Parteienvielzahl des Weimarer Staates und ihre außer Zweifel verhängnisvolle Rolle beschworen und in besorgten und bewegten Worten die Gefahr einer Wiederkehr dieser Zustände an die Wand gemalt. Das ist die treuherzige Fassade für den Bundesbürger.
Aber im gleichen Atemzug wird das ganze bewährte Arsenal der Zermürbungstaktik gegen die kleineren Parteien in Bewegung gesetzt. Da rollen wieder die goldenen Kugeln, da wird ein Ministerpräsident um Bericht ersucht und in einer Weise unter Druck gesetzt, daß seine Freunde sich nicht anders zu helfen wissen, als die Flucht in die Öffentlichkeit anzutreten und mehr oder minder deutlich von Nötigung zu sprechen. Da ist man bereit, alles zu tun, um die kleinen Parteien auch auf Bundesebene am Leben zu erhalten, wenn, ja wenn sie nur ihrerseits bereit sind, sich schon jetzt auch für die Zeit nach der Bundestagswahl auf Bundesebene und insbesondere auch auf gewisser Länderebene an die Kette legen zu lassen.
— Herr Kollege, der Unterschied dürfte Ihnen klar sein. Er besteht nämlich darin, daß Sie Bedingungen stellen und wir keine,
daß wir in die Öffentlichkeit gehen und durchaus mit Ihnen gemeinsam das Problem entgiften wollten. Aber Sie wollten Ihre Suppe allein kochen. Das ist der große Unterschied.
Wir sind in dieser Hinsicht von der Kanzlerpartei aus den vergangenen Jahren vieles gewohnt. Aber die Skrupellosigkeit, mit der man jetzt wieder in der Praxis genau das Gegenteil von dem tut, was man in der Theorie dem Bürger als Staatsnotwendigkeit hinzustellen versucht, ist doch erstaunlich. Warum überlassen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn Sie wirklich reinen Herzens sind und wenn Ihre Sorge um eine Parteizersplitterung echt wäre, nicht die kleinen Parteien sich selbst? Warum überlassen Sie die Frage nicht einer sauberen Entscheidung durch die Wähler, denen Sie doch sonst die Neigung zu einem Zweiparteiensystem so gern bescheinigen? Und warum insbesondere sind Ihnen die Verhandlungen der kleineren Parteien um einen Wahlzusammenschluß und gegenseitige Wahlstützung so unangenehm?
Ich möchte ausdrücklich feststellen, daß der Anstoß zu der jetzigen erneuten Diskussion um den Umfang der Sperrklausel durch den Antrag der Fraktionen des BHE und der DP erfolgt und damit aus dem Schoß der Koalition selbst gekommen ist. Das ist bezeichnend; denn es zeigt, wie unheimlich selbst Ihrem bisher treuesten Paladin die Situation in Ihren Armen geworden ist.
Wir haben Verständnis dafür, daß auch er sich aus dieser Umklammerung zu befreien versucht und vielleicht wirklich einmal zu einem gewissen politischen Eigenleben kommen möchte.
— Zum Weinen ist das höchstens für Sie, Herr Kollege Dittrich.
Aber in dem Antrag der GB/BHE-Fraktion und der DP-Fraktion wird — und das müssen wir herausstellen — nur das Problem der eigenen Existenz dieser Parteien gesehen, und die darin vorgeschlagene Lösung ist auschließlich auf den eigenen Zweck dieser Parteien abgestellt. Die Annahme dieses Antrags würde eine gewisse Einseitigkeit und Ungerechtigkeit anderen, in ähnlicher Weise betroffenen kleineren Parteien gegenüber bedeuten.
Die sozialdemokratische Fraktion ist daher der Auffassung: Da infolge dieses Antrags die Frage der Sperrklausel erneut aufgeworfen ist, sollte die prinzipielle Regelung mit einer fairen und gleichen Chance für alle kleinen Parteien erfolgen. Deshalb haben wir den Antrag eingebracht, die Bundessperrklausel in eine Landessperrklausel zu ändern, und wünschen, daß in § 6 Abs. 4 das Wort „Wahlgebiet" — das die Bundesebene bedeutet — durch das Wort „Land" und die Worte „drei Wahlkreise" durch „ein Wahlkreis" ersetzt werden.
— Herr Kollege Dittrich, das ist kein neuer Standpunkt meiner Fraktion. Diese Regelung hat bereits nach dem ersten Bundeswahlgesetz gegolten, und wir haben diesen Standpunkt auch bei den Beratungen zu dem jetzigen Gesetz vertreten. Wir wollen also durchaus keine ad-hoc-Lösungen.
— Nein, das Problem ist aufgeworfen, und selbstverständlich wollen wir entsprechend unserem früheren Standpunkt, den wir konsequent vertreten haben, eine klare, grundsätzliche Regelung in der von mir dargelegten Weise.
Meine Damen und Herren, es ist überflüssig, zu betonen: Auch wir unterschätzen die Gefahr, die der Demokratie aus einer Parteienzersplitterung erwachsen kann, keineswegs.
Wir brauchen hierüber keine Belehrungen und brauchen keine durchsichtigen Ermahnungen. Wir wenden uns aber dagegen, daß dieser Weimarer Tatbestand immer wieder an falscher Stelle und mit falschem Zungenschlag dazu benutzt wird, um ganz andere und höchst eigensüchtige Motive und Absichten dahinter zu verstecken.
Wir sind der Auffassung, daß die von uns vorgeschlagene Sperrklausel auf Landesebene sich bereits bei dem Wahlgesetz des Jahres 1949 bewährt und in Verbindung mit den im Grundgesetz verankerten Garantien für eine Stabilität der Regierung — ich brauche darauf heute nicht mehr näher einzugehen; das ist in erschöpfender Weise bei den Beratungen des Bundeswahlgesetzes geschehen — auch als ausreichend erwiesen hat, als ausreichend, um eine Wiederkehr der Weimarer Parteienvielfalt zu verhindern.
Meine Damen und Herren, wie sehr diese Klausel ausreicht, hat ja kein anderer als der Bundeskanzler selber zu Beginn dieser Legislaturperiode festgestellt. In der Regierungserklärung vom 20. Oktober 1953 hat er nämlich festgestellt:
Auch 1949 gab es eine Sperrklausel, die zwar geringere Anforderungen als die 1953 gültige Klausel stellte. Aber auch diese frühere Sperrklausel würde von keiner der erfolglos gebliebenen Parteien übersprungen worden sein.
An dieser Feststellung Ihres eigenen Parteichefs sehen Sie, wie Ihre jetzigen Vorstellungen zu kennzeichnen sind. Gewiß muß in diesem Punkte die Entwicklung aufmerksam im Auge behalten werden. Aber es besteht nach unserer Überzeugung kein Zweifel — das hat die Entwicklung bei all den letzten Wahlen ergeben —, daß sich die Parteiensituation bei uns ganz von selbst stabilisiert.
Lassen Sie mich aber gegenüber allen denen, die auch in dieser Frage gern mit Angstkomplexen operieren und die von den Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung usw. sprechen, noch einmal auf den gedruckten Bericht der Wahlrechtskommission des Innenministers verweisen. Ich empfehle Ihnen, die betreffenden Ausführungen noch einmal nachzulesen. Er enthält zu diesem Problem einige sehr bemerkenswerte Feststellungen. Ich darf mit Erlaubnis des Präsidenten nur eine zitieren. Da heißt es:
Die oft vorgetragene Behauptung, daß das Vorhandensein vieler Parteien die Regierungsbildung erschwere, wird nicht uneingeschränkt anerkannt werden können. Die Existenz einer Anzahl sehr kleiner Parteien braucht die Regierungsbildung nicht notwendig zu beeinträchtigen ... . Ob sich die Regierungsbildung leicht vollzieht und ob sie eine stabile Staatsführung erzeugt, hängt nicht nur von der Zahl, sondern noch mehr von dem Verhältnis der Parteien untereinander ab.
Ich möchte hinzufügen: und von ihrem Verhalten! Es würde sich lohnen, meine Damen und Herren von der CDU, über diese Feststellungen in dem Bericht der Wahlrechtskommission etwas eingehender nachzudenken. Die Geschichte wiederholt sich nicht — oder nur selten — in den gleichen Formen.
— Jedenfalls nicht in sehr kurzen Zeiträumen,
Herr Kollege Stücklen! Auch die Gefahren ändern
ihr Gesicht. Die Demokratie kann auch auf andere Weise und mehr bedroht und gefährdet werden als durch die Existenz einiger kleiner Parteien.
Dazu gehört das ganze Kapitel des Mißbrauchs der Macht bei der Wahlgesetzgebung, der Strangulierung der kleinen Parteien
und der Korrumpierung des Wahlgedankens durch die Methoden aller möglichen und unmöglichen Wahlmanipulationen, Blockabsprachen und Kuhhandeleien, mit denen der Wille der Wähler schon vor der Wahl retuschiert und bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Ich kann mich in dieser Hinsicht den Ausführungen meines Vorredners in vollem Umfange anschließen. Sie selber, meine Damen und Herren, wissen über Ihre Praktiken in dieser Hinsicht ja noch besser Bescheid als wir. Wir haben Sie immer wieder vor diesen Methoden und ihren Folgen gewarnt. In jeder Wahlgesetzdebatte — schon im 1. Bundestag und auch bei dem jetzigen Gesetz
— haben wir Sie aufgefordert, endlich den Wähler zu respektieren und seinen Willen unverfälscht sprechen zu lassen. Sie haben unsere Anträge auf Verbot von Wahlabsprachen, Listenverbindungen usw. immer wieder abgelehnt. Selbst als wir Ihnen
— Herr Kollege Stücklen! — bei Beratung des Antrags zum Mehrheitswahlrecht die Frage vorlegten, ob Sie gegebenenfalls bereit seien, auf alle diese Dinge zu verzichten, sind Sie die positive Antwort schuldig geblieben.
Dann wollten Sie uns, meine Damen und Herren von den Christlichen Demokraten, Ihren Standpunkt — wie Sie es ja auch jetzt wieder in der Presse tun und wahrscheinlich hier ebenfalls in Ihrer Erklärung nachher tun werden — noch mit den bösen Erfahrungen aus dem Weimarer Staat und mit „staatspolitischen Notwendigkeiten" plausibel machen. Sie sagen „Weimar", aber Sie denken ja nur an das Palais Schaumburg!
Mit solchen schönen Redensarten und mit ein paar billigen Phrasen machen Sie sich nach all dem, was Sie in der Vergangenheit in dieser Hinsicht auf sich geladen und gesündigt haben, nicht wieder glaubwürdig. Sie haben die Geduld des Bundesbürgers in dieser Beziehung viel zu sehr strapaziert.
Wie war es denn mit der jahrelangen Verschleppung des Wahlgesetzes, das ja eine so bequeme Kandare für aufbegehrende Koalitionspartner war? Wie war es denn mit dem finsteren Anschlag mit dem Grabensystem? Wie haben Sie landauf, landab manipuliert mit Blockbündnissen etc.. bei denen auch der letzte Rest von politischen Grundsätzen und politischem Anstand über Bord geworfen wurde! In Kiel haben Sie sich in einer Kommunalwahl sogar mit der DRP von Herrn Hedler verbündet; in Büdelsdorf bei Rendsburg haben Sie sich mit dem Dänischen Wählerverband verbündet, gegen den Sie dann 60 km nordwärts eine ,,patriotische" Einheitsliste aufgestellt haben. — Natürlich, Herr Rasner, Sie wissen genau Bescheid!
Sie reden von staatspolitischen Notwendigkeiten und davon, daß Sie die kleinen Parteien nicht im Bundestag haben wollen. Wer anders als Sie hat denn 1953 die Deutsche Partei, die ja nur 3.2 % der Stimmen auf Bundesebene hatte, in den Bundestag
gebracht, Sie durch Ihre Wahlabsprachen?! Wie war die Geschichte mit dem Zentrum, und wie war die Geschichte Ihrer damaligen Verhandlungen mit der Bayernpartei, die Sie schon damals bloß reingelegt haben?!
— Herr Stücklen, das können Sie sich selber sehr genau beantworten!
Also, meine Damen und Herrn, die Entscheidung über diese Frage sollte Ihnen verhältnismäßig einfach sein. Sie haben die Möglichkeit, Ihre Beteuerungen, daß es sich hier um staatspolitische Notwendigkeiten handelt, dadurch glaubwürdig zu machen, .daß Sie sich bereit erklären, die kleinen Parteien ,aus dem Würgegriff dieser Klausel freizugeben und den Wählerwillen unverfälscht und unmanipuliert bei dieser Wahl zum Ausdruck kommen zu lassen. Nehmen Sie unseren Antrag an, und wir werden bereit sein, Ihren Erklärungen auch in diesem Punkt einen neuen Vertrauenskredit einzuräumen.