Rede von
Dr.
Ludwig
Schneider
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Namen der Fraktion der Freien Volkspartei gebe ich folgende Erklärung ab. Ich betone: Erklärung.
Die Brutalität und Hinterhältigkeit des sowjetischen Vorgehens in Ungarn hat den Schleier zerrissen, den die sowjetische Führung im Zeichen der von ihr proklamierten Koexistenzpolitik über ihre wahren Absichten gelegt hatte. Es hat sich gezeigt, daß die Sowjets nicht gesonnen sind, den Völkern ihrer Satellitenstaaten die begehrte Freiheit zu geben, auch wenn diese Völker mit dem heroischen Mut des ungarischen Volkes, dem unsere Bewunderung gehört, für die Freiheit kämpfen. Sie sind unter grober Verletzung des Warschauer Pakts zu den grausamsten Methoden der stalinistischen Gewaltpolitik zurückgekehrt, indem sie dem ungarischen Volk unter rücksichtslosem Einsatz ihrer Machtmittel die verhaßte Sklaverei aufs neue aufzwangen.
Die Sowjets haben damit aller Welt klargemacht, daß ihr Bekenntnis zu den Prinzipien des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Völker nur für Staaten außerhalb ihres Machtbereichs gelten soll und daß diese Prinzipien somit für sie nichts anderes sind als Propagandamittel, die sie in den Dienst der Politik einer weiteren Ausdehnung ihrer Macht stellen.
Die Verschlagenheit und Doppelzüngigkeit der sowjetischen Politik und die Unbedenklichkeit des Einsatzes aller Machtmittel, deren sich Moskau bedient, sind eine Mahnung an die Völker außerhalb des sowjetischen Machtbereichs, daß es gut für sie ist, alle politischen und Verteidigungsanstrengungen zu machen, damit sie nicht in die Gefahr kommen, eines Tages Moskau hilflos ausgeliefert zu sein.
Es ist bedauerlich, daß in diesem Augenblick, in dem das Mitgefühl der ganzen Welt dem schweren Schicksal des ungarischen Volkes gilt, die moralische Kraft, die die westliche Welt gegenüber den Sowjets zugunsten Ungarns einsetzt, durch das Vorgehen der englischen und der französischen Regierung gegen Ägypten abgeschwächt wurde. Zwar haben die Sowjets am allerwenigsten Anlaß, sich über die englisch-französische Intervention in Ägypten zu entrüsten.
Die Sowjets bleiben der Welt schuldig, ihre Truppen aus Ungarn zurückzuziehen, bevor sie legitimiert sind, über eine Beilegung der Feindseligkeiten im Nahen Osten mitzusprechen.
Noch weniger kann behauptet werden, die sowjetische Gewaltanwendung in Ungarn wäre unterblieben, wenn das Vorgehen am Suezkanal unterblieben wäre. Die Sowjets waren schon im Sommer entschlossen, jede auf eine neutrale Stellung abzielende Freiheitsbewegung in ihren Satellitenstaaten rücksichtslos auszulöschen. Schon bei seinem Besuch in Belgrad im September dieses Jahres äußerte Chruschtschow in einer Rede — ich zitiere wörtlich -:
Der internationale Kommunismus ist wie ein Kompanie Soldaten. Wenn in Reih und Glied einer zu straucheln beginnt und hinfällt, fallen alle anderen über ihn, und es gibt einen Sauhaufen.
— Das stammt nicht von mir; ich zitiere. —
Das müssen und das werden wir verhindern. In Polen und in Ungarn gibt es degenerierte Kommunisten, die glauben, der Kommunismus sei ein Warenhaus, in dem jeder das einkaufen kann, was ihm gerade paßt. Das ist ein Irrtum.
Entsprechend diesem Prinzip haben die Sowjets in Ungarn gehandelt. Für sie gibt es keine Freiheit von Satellitenstaaten, die zur Einräumung einer auch nur neutralen Stellung führt.
Darüber hinaus muß auch gesagt werden, daß ein Vergleich zwischen den sowjetischen Gewaltmaßnahmen in Ungarn und dem militärischen Eingreifen Englands und Frankreichs am Suezkanal nicht möglich ist. Ungarn wird von den Sowjets seit elf Jahren unterdrückt wie alle anderen europäischen Völker in ihrem Bereich. Ägypten hingegen ist ein Land, das durch die Mithilfe Englands die Souveränität erhalten hat. In Ungarn ereignete sich ein elementarer Ausbruch der Verzweiflung, Ägypten hingegen steht unter der Herrschaft eines Diktators, der nicht nur durch einen eindeutigen Vertragsbruch einen typischen Akt der bei Diktatoren so beliebten Politik der vollendeten Tatsachen vollzog, sondern darüber hinaus einen ständigen Druck auf Israel ausübte und sich bei den Freiheitsbestrebungen der arabischen Welt zugunsten des sowjetischen Imperialismus mißbrauchen ließ.
Dessen ungeachtet bleibt es bedauerlich, daß England und Frankreich den militärischen Eingriff zu einem Zeitpunkt und unter Umständen begannen, die zur Folge hatten, daß sich eine starke Mehrheit der Vereinten Nationen unter Führung der stärksten Macht des Westens, der USA, gegen die englisch-französische Aktion wandte, die obendrein eingeleitet wurde, ohne daß die Bündnispartner der beiden demokratischen Länder in der NATO und der WEU konsultiert wurden.
Wir dürfen aber jetzt unserer Genugtung und Freude darüber Ausdruck geben, daß sich die englische und die französische Regierung inzwischen entschlossen haben, die Waffen wieder schweigen zu lassen. Es sollte nun das Bemühen aller politischen Kräfte außerhalb des sowjetischen Machtbereichs sein, die Erneuerung solcher Gefahren durch das Vorgehen einzelner demokratischer Mächte für die Zukunft unter allen Umständen auszuschließen.
Für die deutsche Politik darf es auch weiterhin nur ein Gesetz des Handelns geben, und das ist das der Festigung des Friedens auf der Grundlage von Recht und Freiheit. Deshalb sollte die Bundesregierung mit ihrer ganzen Kraft dazu beitragen, daß die Vereinten Nationen zu einem tauglichen Instrument der Friedenserhaltung entwickelt werden, und hierfür ist nichts wichtiger, als daß die Vereinten Nationen mit einer internationalen Polizeistreitkraft von hinreichender Stärke ausgestattet werden, damit die Vereinten Nationen gerade in solchen Streitfällen wirksam intervenieren können, in denen sich die beiden Weltmächte gegenseitig paralysieren. Die Sowjetunion dürfte mit ihren neuerlichen Gewaltmethoden die Illusionen derjenigen gründlich zerstört haben, die in neutralistischen Wunschbildern einen Ausweg suchen. Entgegen diesen Illusionisten halten wir es für unsere Pflicht, den Defensivschutz unserer Divisionen und eines bodenständigen Heimatschutzes mit noch mehr Energie und Zielstrebigkeit zu schaffen, als das bisher der Fall war.
Die letzte Rede Grotewohls vom 2. November bestätigte erneut, daß das Pankower stalinistische Regime nichts anderes ist als eine Organisation von Handlangern im Dienste der russischen Machtpolitik. Es kann nicht wundernehmen, daß diese Handlanger einer solchen Gewaltpolitik, gestützt auf die sowjetischen Divisionen in Mitteldeutschland, eine Volksarmee von 120 000 Mann und Betriebskampfgruppen von 300 000 Mann, nur die Form der Wiedervereinigung Deutschlands anstreben, die ganz Deutschland zum sowjetischen Satelliten machen würde. Gefahren, die von daher drohen, können nur ausgeschlossen werden, wenn die Bundesrepublik über eine hinreichende Abwehrkraft im Rahmen der Gesamtabwehr der westlichen Welt verfügt. Dies bleibt die unerläßliche Voraussetzung dafür, daß in Zukunft Verhandlungen mit den Sowjets über die deutsche Wiedervereinigung zu dem angestrebten Ziel gebracht werden können.
Zu unser aller Leidwesen liegt eine tiefe Tragik in der Tatsache, daß das brutale Vorgehen der Sowjets in Ungarn die von der Bundesregierung betriebene und von den Koalitionsparteien getragene Außenpolitik nachdrücklich als richtig bestätigt. In Zukunft sollte es daher in der Bundesrepublik keine neutralistische Bewegung mehr geben. Es sollte auch keine politischen Kräfte mehr geben, die sich gegen die Stärkung Europas wenden oder gar die Wehrpflicht und die Aufstellung der deutschen Verteidigungskräfte verneinen.
Jedes Zögern bei der Verwirklichung dieser Vorhaben würde die Sowjets nur in der Hoffnung bestärken, es könnte ihnen die Unterwühlung der Bundesrepublik gelingen, und sie könnten ihr Ziel, die Macht über ganz Deutschland zu erlangen, erreichen.
Es liegt nun bei uns, es liegt am ganzen deutschen Volk, es liegt bei diesem Hohen Hause, zu erkennen, daß der Verzicht auf Verteidigungsanstrengungen im Westen unermeßliche Gefahren
über alle europäischen Völker, vor allem aber über das deutsche Volk heraufbeschwören würde.
Die Freie Volkspartei stimmt der Regierungserklärung nach Form und Inhalt zu.