Meine Damen und Herren, für die Fraktion des Gesamtdeutschen Blocks/BHE habe ich zu der Regierungserklärung folgendes auszuführen. Ich werde mich bemühen, dabei den Mahnungen des Herrn Präsidenten und den Vereinbarungen des Ältestenrats zu entsprechen.
Niemand von uns und niemand, dem die Begriffe „Freiheit" und „Menschenrecht" noch etwas besagen, hat sich in den vergangenen Tagen dem entziehen können, was Millionen in der freien Welt gefühlsmäßig bewegt hat und was in Tausenden von Proklamationen und Demonstrationen seinen hörbaren und sichtbaren Ausdruck gefunden hat. Es geht dabei um die eine, immer wieder zu stellende Frage, ob den Menschen und Völkern auf dieser Erde das Recht gegeben und bewahrt werden kann, ihre politische und soziale Lebensform selbst zu bestimmen. Von dieser Frage her gesehen wird bei allen Erörterungen der Weltlage mit Recht zuerst das ungarische Volk genannt und seines Schicksals gedacht. Niemand kann diesem Volk die Bewunderung für den großartigen Mut versagen, mit dem es zum Kampf um seine Freiheit und seine Selbstbestimmung angetreten ist. Und niemand in der freien Welt darf sagen, daß es nicht ein besseres Schicksal verdient hätte, als unmittelbar vor dem Tor zur Freiheit von einer rücksichtslos gegen alle Regeln des Völkerrechts eingesetzten militärischen Macht am Eintritt in eine freie Zukunft gehindert zu werden. Der Staat, der seine militärischen Machtmittel in dieser Weise zum Einsatz brachte und damit die für die Freiheit in der Welt gebrachten Opfer an Menschenleben auf ein ungezähltes Maß erhöhte, hat sich damit vor der
gesamten Welt ins Unrecht gesetzt und sich dadurch zunächst jeder Glaubwürdigkeit begeben, jedes Glaubens daran, daß es ihm mit der von ihm bekundeten Absicht zur Herstellung einer friedlichen Koexistenz auf der Grundlage des Völker- und Selbstbestimmungsrechtes ernst sei.
Es ist deshalb eine durchaus verständliche Reaktion der freiheitliebenden Menschen, daß sie geneigt sind, jeder Möglichkeit eines gemeinsamen politischen Handelns mit der Sowjetunion für die Zukunft zu mißtrauen oder sie gar abzulehnen. Es ehrt die freie Welt, daß ihre Empörung Hand in Hand geht mit der uneingeschränkten Bereitschaft, dem in so tiefe Not gestürzten ungarischen Volk wenigstens jede nur mögliche karitative Hilfe zuteil werden zu lassen.
In diesem Zusammenhang und .an dieser Stelle darf vielleicht auch einmal auf etwas hingewiesen werden, was der deutschen Öffentlichkeit vielleicht nicht in vollem Ausmaße bewußt ist: daß in diesem Ungarn und damit unter der ganzen leidenden ungarischen Nation sich auch noch etwa 300 000 Deutsche befinden.
Meine Damen und Herren, wenn wir von dieser Hilfeleistung der Welt, an der auch wir unseren Anteil haben, sprechen, dann müssen wir aber die Frage stellen: Reicht das aus, um die Stimme unseres Gewissens zu entkräften, die uns sagt, daß von der westlichen Welt und von uns eigentlich viel mehr und viel Besseres hätte geschehen können? Die Stimme unseres Gewissens sagt uns, daß wir mehr tun müßten, während unser Verstand uns sagt, daß wir es nicht können. Aber haben wir als verantwortlich denkende und handelnde Politiker uns nicht zu fragen, warum wir, warum die westliche Welt nicht etwas Besseres tun konnten? Haben wir nicht die Pflicht, zu untersuchen. ob wir, ob die freie Welt, deren Angehörige wir sind, nicht mit Schuld tragen an diesem Unvermögen, in friedlicher Weise mehr zu wirken, als Proteste es können? Ich meine das nicht im Sinne eines Bekenntnisses zu einer westlichen Kollektivschuld — eine Kollektivschuld gibt es nicht und gab es nie —, sondern im Sinne der Erkenntnis, daß der Frieden und die Freiheit unteilbar sind und von der Mitverantwortung aller getragen werden müssen.
Von dieser Erkenntnis aus beschleicht uns ein bitteres Gefühl bei der uns berechtigt und notwendig erscheinenden Verurteilung des unmenschlichen Vorgehens der Sowjets in Ungarn. Ich meine, es sollte nicht die Frage politischen Kalküls in der gegenwärtigen Weltsituation und unserer Lage sein, die uns daran hindern dürfte, uns von diesem Gefühl dazu leiten zu lassen, einmal auch das auszusprechen, was uns am Verhalten der freien westlichen, d. h. unserer eigenen Völkerwelt unrichtig erscheint. Die Regierungserklärung — in ihrer Beurteilung stimme ich Herrn Dr. Dehler vollkommen zu — geht zwar davon aus, die Bemühungen der Bundesrepublik um eine friedliche Lösung aller offenstehenden Streitfragen ausführlich darzulegen. Aber sie unterläßt es doch, in jede konkrete Erörterung der Frage nach einer moralischen Mitschuld des Westens an der ungarischen Tragödie und überhaupt der Gefährdung des Weltfriedens einzutreten. Die Regierungserklärung begnügt sich mit allgemeinen Postulaten an das moralische Gewissen der Welt und die Verantwortung der Staaten für die Erhaltung des Friedens.
Meine Damen und Herren, uns ist diese Zurückhaltung, dieses Herumgehen um weltpolitisch doch auch bedeutsame Geschehnisse und Probleme nicht ganz verständlich. Wir müssen uns doch die Frage stellen, ob die Bundesregierung etwa anders über das Verhalten Englands und Frankreichs im Nahost-Konflikt urteilt, als es die Vereinigten Staaten und mit ihnen die überwältigende Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen bei ihren Beschlüssen getan haben.
Ich will hier nicht die uns allen allerdings naheliegende Frage aufwerfen, ob das Schicksal Ungarns ohne die westlichen Angriffshandlungen am Suezkanal sich anders gestaltet hätte. Das kann niemand beweiskräftig behaupten; allerdings kann aber ebensowenig der gegenteilige Beweis geführt werden,
nämlich daß die Sowjets ohne das anglo-französische Vorgehen in Ägypten den ungarischen Freiheitskampf in derselben Weise niedergewalzt hätten. Es soll hier keineswegs behauptet werden, daß ein faktischer Zusammenhang zwischen diesen beiden Vorgängen bestehe oder daß das eine das andere nach sich gezogen oder das eine das andere verhindert hätte. Aber es muß doch mit Bedauern festgestellt werden, daß die westliche Welt sich gegenüber der sowjetischen Einmischung in Ungarn durch den anglo-französischen Gewaltakt in Ägypten in einer ungleich schwächeren moralischen Position befindet, als sie es im andern Falle gewesen wäre.
Es muß mit ebenso tiefer Besorgnis die Frage erhoben werden, ob der Westen in seiner Gesamtheit wieder die moralische Position zurückgewinnen kann, die von den Regierungen zweier seiner führenden Mächte um imperialistischer Interessen willen aufs Spiel gesetzt worden ist.
Unsere Sorge gilt darüber hinaus der Einheit des Westens überhaupt. Die Bundesregierung bemüht sich in ihrer Erklärung sehr nachdrücklich darum, diese doch äußerst brüchig gewordene Einheit wiederherzustellen. Aber reicht es denn wirklich aus, daß wir uns nach wie vor zu dieser Einheit bekennen und dabei auf ihre Grundlagen hinweisen, die doch soeben rücksichtslos verletzt und mißachtet worden sind? Wir meinen, daß uns diese Geschehnisse unausweichlich vor die Notwendigkeit stellen, mit allem Ernst die Frage zu erheben, ob das, was unsere Verbündeten getan haben, nicht auch den Geist und den Inhalt der Verträge berührt, die uns mit ihnen verbinden. Wir sind der Meinung, daß das zumindest die Frage beinhaltet: Was muß im Rahmen der westlichen Vertragswerke, der WEU und der NATO, geschehen, um mit Sicherheit zu verhindern, daß sich ähnliche Verstöße gegen Geist, Inhalt und Zielsetzung der vertraglichen Abmachungen wiederholen? Wir verstehen unter diesen Verstößen, deren Wiederholung verhindert werden muß, nicht etwa nur, daß militärische Aggressionen stattgefunden haben, ohne daß sich die Bündnispartner vorher darüber verständigt haben, sondern wir verstehen darunter, daß solche Aktionen überhaupt stattfinden können, obwohl sie den Weltfrieden und damit die Lebensinteressen auch der Bündnispartner empfindlich zu treffen geeignet sind.
Meine Damen und Herren, wenn es heute oder morgen noch gelingen sollte, die in der Einheit des Westens entstandenen Risse zu kitten, dann hat das überhaupt nur einen Sinn, wenn gleichzeitig alles getan wird, zu verhindern, daß neue Risse entstehen, die dann das Gebäude in einer von uns weiß Gott nicht wünschenswerten Weise zum Einsturz bringen können.
Unsere vertrauensvolle Zuversicht — auch das hier mit allem Nachdruck auszusprechen fühle ich mich veranlaßt — gehört dabei den Vereinigten Staaten.
Ihrer einsichtsvollen, ihrer unabdingbar auf Erhaltung des Friedens gerichteten Politik sind wir zu tiefstem Dank verpflichtet. Wir haben mit Befremden festgestellt, daß dieser Dank in der Regierungserklärung fehlte.
— Die Regierungserklärung — Herr Stücklen, lesen Sie sie bitte nach enthält kaum ein Wort der Anerkennung für die unbestreitbare Tatsache, die für die Erhaltung des Friedens und die Zukunft der Welt doch von entscheidender Bedeutung ist, daß die Vereinigten Staaten als einzige westliche Großmacht aus den Ereignissen der vergangenen Wochen mit unverändertem moralischem Prestige hervorgegangen sind.
Zur Frage, ob wir amerikanischer als die Regierung sein wollten: Nein, wir sind taktvoller, als es die Regierung in diesem Falle war.
Meine Damen und Herren, das hätte nämlich von der Regierung gesagt werden müssen. Wenn wir uns als Opposition veranlaßt sehen, diese Unterlassungssünde der Regierung gutzumachen, dann nicht etwa deshalb, weil wir glauben, der Bundesregierung etwas von ihrer Verantwortung abnehmen zu können, sondern deswegen, weil wir der Überzeugung sind, daß diese Haltung der Vereinigten Staaten bei einer Überlegung der zukünftigen Möglichkeiten einer deutschen Außenpolitik der positivste Faktor ist. Sicherlich gab es auch in England eine vernehmbare Opposition gegen die Politik der Regierung Eden. Aber es besteht für uns leider noch nicht die Möglichkeit, sie bei der Neuorientierung der Weltpolitik in Rechnung zu stellen, zumal diese Opposition — das müssen wir bei dieser Gelegenheit auch einmal zum Ausdruck bringen — an anderer Stelle, wo es sich um für uns Deutsche lebenswichtige und uns unmittelbar berührende Fragen handelt, das Selbstbestimmungsrecht nicht so eindeutig bejaht hat, wie sie es jetzt getan hat und wie wir es von ihr erwarten müssen, wenn wir auf der Grundlage dieses Selbstbestimmungsrechts zu einer gemeinsamen Neuord-
nung der europäischen Verhältnisse kommen wollen.
Es wird eine der wichtigsten Aufgaben der deutschen Außenpolitik sein, gerade nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen in Ungarn und im Nahen Osten, die gemeinsame westliche Politik auf eine uneingeschränkte Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts hinzuführen.
Denn nur auf dieser Grundlage — nur auf dieser Grundlage! — kann es eine friedliche Koexistenz der Völker und auch verschiedener Gesellschaftsordnungen in der Welt geben. Wir erwarten gerade von den Vereinigten Staaten, daß sie, deren staatlicher Ursprung selbst auf einer Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts beruht,
sich auch für die Wahrung und Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts in Europa einsetzen werden.
Ich habe das Selbstbestimmungsrecht als die einzig mögliche Grundlage einer Koexistenz, eines friedlichen Zusammenlebens der Völker bezeichnet. Ich knüpfe daran unsere Forderung, daß sich die Großmächte bereit finden, das Selbstbestimmungsrecht allen Völkern, auch dem deutschen, und unter allen Umständen zu gewähren. Wir sind auch durchaus bereit, anzuerkennen, daß ein guter Anfang damit an der Saar gemacht worden ist, und hoffen, daß dort nun schnellstens die Konsequenzen, die praktischen Folgerungen sichtbar werden.
Es liegt mir fern, Herr Bundeskanzler, jetzt noch einmal auf die Kritik an Ihrer Pariser Reise einzugehen. Wir haben Ihnen vorher unsere Meinung dazu mitgeteilt. Sie hatten die Freundlichkeit, daran zu denken; Sie haben es mir selbst gesagt. Aber ich darf bei dieser Gelegenheit im Zusammenhang mit Ihrer Pariser Reise doch der Erwartung Ausdruck geben, daß auch ohne Ihren Besuch von Frankreich kein Versuch gemacht worden wäre, den vom Selbstbestimmungsrecht zwingend geforderten Folgerungen an der Saar auszuweichen, und daß alle Mächte des Westens, die mit uns heute von den Sowjets das Selbstbestimmungsrecht in Ungarn fordern, dies auch für alle Teile des deutschen Volkes fordern werden,
wenn einmal die deutsche Frage in weltpolitischen Verhandlungen zur endgültigen Lösung steht.
Und noch ein Wort zur Parisreise. Wenn sie mit dazu beigetragen hat, die Entspannung zu fördern und die Ausweitung der Konflikte zu vermeiden, dann ist es doch gerade eine Frage des Taktes gegenüber anderen, gegenüber Kräften, die in den Vereinigten Staaten und in den Vereinten Nationen am Werke waren, und der Rücksicht auf die historischen Tatsachen und ihre Beurteilung, daß man nicht versucht, die Ergebnisse dieser Reise in einer Weise auszuschlachten, die nur innerpolitischen oder parteitaktischen Motiven entspringen kann.
Meine Damen und Herren, es wird keinen dauerhaften Frieden in der Welt geben, solange nicht auch die Unrechtszustände beseitigt sind, die wir, allerdings als das Erbe einer unseligen Politik vor 1945, in den Satellitenstaaten ebenso wie im deutschen Osten zu beklagen haben. Aber es wird — das haben die Vorgänge der letzten Wochen bewiesen — auch keinen dauerhaften Frieden geben, solange sich Machtblöcke in der Welt feindlich gegenüberstehen und keine übergeordnete Instanz vorhanden ist, die sich in der Beilegung lokaler Konflikte durchzusetzen vermöchte.
Unsere zweite Hoffnung gilt daher den Vereinten Nationen. Wir schließen uns dem Dank der Bundesregierung an alle die an, die sich in ihrem Rahmen um die Beilegung der Konflikte bemüht und verdient gemacht haben. Aber wir glauben nicht, daß es genügt, resigniert festzustellen, daß die Vereinten Nationen überfordert gewesen seien, und den Eindruck zu erwecken, daß ihre Unzulänglichkeit durch regionale Zusammenschlüsse ausgeglichen werden könnte. Wir glauben vielmehr feststellen zu müssen, daß gerade diese regionalen Zusammenschlüsse heute in eine Krise geraten sind und zu einer Krise geführt haben,
zu einer Krise, der die Welt nichts anderes entgegenzusetzen hat als die moralische Autorität der Vereinten Nationen. Wir sollten daher bereit sein, mit allen Mitteln diese Autorität zu stärken und ihr Durchsetzungsmöglichkeiten zu verschaffen, und dabei das Ziel verfolgen, sie durch ein umfassendes Sicherheitssystem zu untermauern.
Wenn die Weltöffentlichkeit angesichts des Abgrunds, an dessen Rand sie sich in diesen Tagen sah, die Fragwürdigkeit der bisherigen Weltpolitik zu überlegen beginnt, dann müssen auch wir trotz der tiefen Erschütterung, in die unsere Zuversicht auf eine friedliche Lösung der strittigen Fragen vor allem ,durch das Vorgehen Sowjetrußlands in Ungarn gebracht wurde, überlegen, ob auch unsere eigene und die westliche Politik im gesamten in allen ihren Handlungen geeignet ist, den Boden für friedliche Lösungen zu bereiten, und darüber mit unseren Vertragspartnern in allem Ernst und mit allem Nachdruck sprechen.
Wir sollten angesichts der Erfahrungen, die das ungarische Volk in so furchtbarer Weise machen mußte, auch die Frage stellen, ob es tunlich ist, daß vom deutschen Boden aus propagandistische Einflüsse in den sowjetisch beherrschten Teil Europas gehen, die nicht von der letzten Verantwortung für das Schicksal der von ihnen erfaßten Menschen getragen sind.
Die Sowjetunion hat es in einer grausamen Weise zu erkennen gegeben, daß sie nicht davor zurückschreckt, Schuldlose dafür büßen zu lassen, daß sie dieser Propaganda den Wert aktiver Hilfsversprechungen beigemessen haben.
— Ja, „Free Europe" ist gemeint; danke für den Zwischenruf! Es ist die höchste Zeit, daß wir uns einmal ernsthaft über das Verschwinden derartiger Institutionen unterhalten.
Wir Deutschen werden nie aufhören, die Forderung nach freier Selbstbestimmung der europäischen Völker zu erheben. Aber wir müssen uns
streng davor hüten, bei den Unterdrückten Illusionen über die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung aufkommen zu lassen.
Die Verhütung solcher Illusionen sollte auch eines der Anliegen sein, die die Bundesregierung bei den Westmächten nachdrücklich zu vertreten hat. Vielleicht kann auch das dazu beitragen, daß der Osten sich einmal auf eine andere Sprache einläßt, als es die der Panzer und Raketen Ist. Denn wir wollen — ich muß das auch sagen — und wir dürfen nicht die Hoffnung aufgeben, daß es noch einmal eine Politik des freimütigen und friedlichen Gesprächs mit dem Osten über die Neuordnung Europas gibt. Der Glaube an diese Möglichkeit, so schwer er geworden ist, bildet sicher eines der Elemente, auf denen die Rettung ides Weltfriedens sich in diesen Tagen aufbaut.
Es ist das große Verdienst unserer Schweizer Nachbarn, daß sie in diesem Glauben gehandelt und zu einer Konferenz Indiens, der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Englands auf Schweizer Boden eingeladen haben. Wir hoffen, daß sie zustande kommt. Denn noch wissen wir ja nicht, ob am Suezkanal die Waffen endgültig schweigen und welche Leiden idem ungarischen Volke noch bevorstehen.
Wir werden alle Gespräche, die in den nächsten Wochen und Monaten geführt werden müssen, mit Aufmerksamkeit, aber auch mit der Bereitschaft zu der Überlegung verfolgen müssen. ob auch unsere Haltung einer Überprüfung und unsere Politik einer Änderung bedarf. Wir werden als kleiner Staat und ohne entscheidende militärische Machtmittel in dieser spannunggeladenen Welt nur bestehen können, wenn wir, statt uns in politischen Vorurteilen und rechthaberischem Festhalten an vorgefaßten Auffassungen gegenüberzutreten, uns einmal im einzelnen bemühen, zu überlegen, durch welche Maßnahmen unserer Politik wir uns an die veränderte Weltlage anpassen und ihr Rechnung tragen können.
Ich sage das ohne jede innenpolitische Absicht aus der festen Überzeugung, daß aus diesen Geschehnissen der letzten Wochen und Monate, aus der Erkenntnis, am Abgrund eines dritten Weltkrieges und damit der Vernichtung gestanden zu haben, sich die Weltpolitik einer grundlegenden Veränderung zuwendet.
Lassen Sie mich dieser Hoffnung noch zwei Anregungen meiner Fraktion hinzufügen. Zunächst stimmen wir der Auffassung zu, die auch von anderer Seite schon zum Ausdruck gebracht worden ist, daß wir unsere Lieferungen an Israel so lange einstellen oder unterbrechen sollten, solange sich Israel einer friedlichen Regelung des NahostKonflikts auf der Grundlage von UN-Vorschlägen widersetzt und der Friede in Nahost nicht völlig gesichert ist. Dafür sollte die Bundesrepublik aber ihre Bereitschaft erklären, nach besten Kräften all den Menschen zu helfen, die Not leiden, weil sie zwischen die Mühlsteine der Machtpolitik geraten sind, sei es in Ungarn, sei es im Nahen Osten oder an anderen Stellen der Welt. Durch eine solche Haltung wird es uns vielleicht möglich sein, das Ansehen bei den Völkern der Welt wiederzugewinnen, das wir in der Vergangenheit als Nation eingebüßt haben, ein Umstand, der es uns manchmal schwer macht, das Unrecht anzuklagen, das uns und anderen laufend geschieht.
Wenn wir an der Linderung der Folgen des Unrechts aktiv mitzuhelfen bereit sind, dann werden die Völker der Erde sich auch einmal bereit finden, für unser Recht einzutreten, und wir hoffen das, weil nur auf der Wiederherstellung des Rechtes die Erhaltung des Friedens in der Welt beruht.