Rede von
Dr.
Heinrich
Krone
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sich in den letzten Tagen in der Welt ereignete, braucht in seinem Ablauf in dieser Stunde nicht mehr aufgezeigt zu werden. Es hat sich zu tief und zu schmerzvoll in das Bewußtsein aller Völker eingegraben; es ist jedem von uns in seinen Spannungen so gegenwärtig, daß es unserer Generation nicht mehr aus dem Gedächtnis schwinden wird.
Niemals seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ist das deutsche Volk und die gesamte Welt so schwer erschüttert worden wie in diesen Tagen.
Durch die Völker ging die fragende Sorge nach dem, was morgen sein werde, und selbst in einer amtlichen Verlautbarung aus einem Nachbarland stand das Wort vom Vorabend des dritten Weltkrieges, ein Wort, das von den Menschen, die es lasen, nur als eine Bestätigung der eigenen großen Besorgnis aufgefaßt werden konnte.
Als vorgestern die Nachricht von der bevorstehenden Waffenruhe am Suezkanal bekannt wurde, ging ein Aufatmen durch die Welt, und die Freude über diese Nachricht konnte einen Augenblick fast übersehen lassen, daß die russischen Panzer noch immer am Werke sind, dem ungarischen Volke die durch eigene Kraft wiedergewonnene Freiheit wider Menschen- und Gottesrecht erneut zu rauben.
Der Ernst der Lage, über die wir heute sprechen, ist allen Mitgliedern dieses Hohen Hauses so sehr bewußt, daß die Verantwortung für jedes Wort, das heute hier gesagt wird, schwer auf uns liegt.
Zu keinem Zeitpunkt seit der Gründung der deutschen Bundesrepublik haben deutsche Politiker ihre Worte so sorgfältig abwägen, so gewissenhaft wegen der möglichen Folgen und Ausdeutungen überdenken müssen.
Die Fraktion der CDU/CSU hat deshalb diese Erklärung, die sich zu den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers rückhaltlos bekennt, auf wenige Gesichtspunkte beschränkt.
Es ist eigentlich überflüssig, aber im Hinblick auf immer wiederkehrende Versuche, uns andere Absichten und Pläne zu unterstellen, notwendig, zu sagen, daß wir immer auf der Seite des Friedens und des Rechtes stehen werden.
Wir begrüßen jeden Schritt, der dem Frieden dient, und sind bereit, ihn mit unserer ganzen Kraft zu unterstützen. Noch nie sind so viele Werke des Friedens zu tun gewesen wie in unseren Tagen. Auch haben wir von unserer Seite den Verzicht auf jede Gewaltanwendung für die Lösung unserer
I deutschen Frage nicht mit irgendeinem Vorbehalt erklärt,
sondern in der festen, unerschütterlichen Überzeugung, daß Gewalt nur Unglück zeugt.
Wir sind glücklich darüber, daß Frankreich und Großbritannien die Waffen im Vorderen Orient zum Schweigen gebracht haben. Man hat von dem Zeitpunkt des englisch-französischen Eingreifens gesprochen und dabei darauf hingewiesen, daß dem brutalen Eingriff der Sowjets in den ungarischen Freiheitskampf kein besserer Vorwand hätte geboten werden können. Hier sind, so ungleich der Vergleich ist, ohne Zweifel den Sowjets Argumente in die Hände gefallen, und sie haben sich ihrer geschickt bedient, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von der ungarischen Tragödie abzulenken.
Doch mit Entschiedenheit wende ich mich gegen eine aus verschiedenen Kreisen kommende Parole, die Ungarn und Ägypten in einem Atem nennen möchte.
Die Menschen danken jedem, der für den Frieden arbeitet. Die Welt dankt denen, die in London und Paris, in Washington, bei den Vereinten Nationen und in vielen anderen Hauptstädten diesen Schritt zum Frieden getan haben. Wir Deutsche schließen uns diesem Dank aus vollem Herzen an. Ich danke aber auch dem deutschen Bundeskanzler und dem deutschen Außenminister.
Wir glauben zuversichtlich an eine Lösung der Suezkanalfrage, die sowohl den Rechten Ägyptens als auch den unbestreitbaren Ansprüchen und Interessen aller Schiffahrt treibenden Nationen entspricht, und wünschen, daß die Bundesregierung hieran auch weiterhin mitarbeitet.
Lassen Sie mich aber eins hier noch einmal mit aller Deutlichkeit herausstellen. In Ägypten kehrt der Friede ein; über Ungarn jedoch weht der eisige Atem des Todes.
Wir dürfen uns durch nichts den Blick dafür trüben lassen, welche Kräfte heute in der Welt jede Gelegenheit wahrnehmen, um Unfrieden zu stiften und Haß zu säen,
statt sich in fairer, humaner Weise an der friedlichen Aufbauarbeit zu beteiligen. Wer in den Wetterwinkel der Weltpolitik Waffen liefert und die Verständigung zu hintertreiben sucht, den sollte kein Volk in irgendeinem Erdteil, auch nicht in Asien oder Afrika, als einen Freund und Helfer betrachten.
Der ist vielmehr der große Störenfried, der die wirtschaftliche und soziale Situation der hilfsbedürftigen Nationen benutzt, um sie auf die Seite des Unheils zu ziehen.
Aber auch das muß gesagt werden: Die hochentwickelten Industriestaaten der freien Welt sind heute zu einer ernsten Gewissenserforschung aufgerufen. Ich nehme davon die Bundesrepublik nicht aus. Auch wir sind zu langsam, zu sparsam, zu nachdenklich mit unserer Hilfe gewesen. Gerade wir Deutsche müssen für die Völker, die es wollen, etwas leisten, was den Leistungen entspricht, die die Vereinigten Staaten mit dem Marshallplan für uns vollbracht haben.
Wir verneigen uns in Ehrfurcht vor dem großen Volk der Ungarn. Dort haben Kommunisten und Nichtkommunisten — welch beschämendes Bild für Pieck, Grotewohl, Reimann und Genossen! —
Seite an Seite gekämpft, um das Joch einer Fremdherrschaft zu zerbrechen.
Diese nationale Erhebung droht in einer erschütternden Tragödie unterzugehen. Mit blutendem Herzen stehen wir dabei. Europa trauert um die Opfer eines herzergreifenden Freiheitskampfes. Ich spreche es mit tiefster Ergriffenheit aus: Wir haben eine Schicksalsstunde der Menschheit erlebt.
Nun droht Ungarn wieder in die Finsternis zurückzusinken. Aber jeder von uns hat das Aufleuchten erlebt, und wenn es weiter im Blut erstickt werden sollte — wir wünschten, es geschähe nicht —: dieses Aufleuchten ist einmal dagewesen!
Auf der Suezkonferenz in London hat der russische Außenminister in eindrucksvollen Worten das Bekenntnis abgelegt, daß die Souveränität eines Landes unantastbar sei.
Er hat sich gegen jegliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes ausgesprochen. In Ungarn kann die Sowjetregierung beweisen, daß es ihr mit solchen Worten ernst ist; sonst sind sie Phrase und Täuschung.
Mögen die sowjetrussischen Truppen Ungarn verlassen und die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung einer UNO-Truppe übergeben!
Mögen sie dasselbe in der Sowjetzone, in allen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang tun!
Dann beweist der Kreml, daß er wirkliche Demokratie und wirkliche Freiheit will.
Wenn nicht, dann weiß die Welt erneut, woran sie mit ihm ist.
Es scheint uns die bedeutsamste Lehre des so grausam niedergeknüppelten ungarischen Freiheitskampfes zu sein, daß auch zehn Jahre kommunistischer Terrorherrschaft nicht ausgereicht haben, um
den Unabhängigkeitssinn des ungarischen Volkes zu töten. Wie kleinmütig haben wir gedacht, wenn wir von der Sorge beunruhigt wurden, die Freiheit könnte eines Tages für die der Freiheit entwöhnten Völker zu spät kommen. Die großen Ideale der Menschheit gehen auch in der grausamen Zone des Schweigens nicht unter. Irgendwann brechen sie hervor. Es mag geschehen, was da will, plötzlich blickt ein Volk zu den Sternen auf und findet wieder zu sich selbst zurück. Wir müssen uns auf diese Erkenntnis einstellen.
Man spricht von dem Versagen der westlichen
Welt. Wenn ein solches vorgelegen haben sollte,
dann nicht deshalb, weil wir keine militärische
Hilfe leisten konnten und durften. Unser eigentliches Versagen und vielleicht sogar eine echte
Schuld bestehen darin, daß wir dem Ungestüm dieser Bewegung staunend zusahen, statt sie auf gewisse Realitäten hinzuweisen. Es ist nicht entscheidend, ob ein Satellitenstaat den Warschauer Pakt
heute oder morgen kündigt und seine Neutralität
erklärt. Entscheidend ist nur, daß eine Nation wieder einen eigenen Willen bildet, ihn im Rahmen
des Möglichen betätigt, daß sie ihr Geschichtsbewußtsein zurückfindet und wiederum Nation wird.
Ich habe soeben dieses Gefühl der Ohnmacht erwähnt, das wir als Zuschauer der ungarischen Tragödie empfunden haben. Alles, was wir über Ungarn sagen, bleibt leere Deklamation, wenn wir uns mit dem Erlebten als etwas Unvermeidlichem abfinden.
Von den verschiedenen Kausalzusammenhängen, die in den letzten Tagen konstruiert worden sind, hält nach meiner Auffassung nur einer der kritischen Nachprüfung stand: Der Überfall auf das zur Freiheit aufgestandene Ungarn ereignete sich im Augenblick einer ernsten Krise der westlichen Welt.
Der Aggressor konnte die zeitweilige Uneinigkeit und Schwäche des Westens benutzen. Das war der Moment, wo in Ungarn das Unglück seinen Lauf nehmen konnte. Dieser Schwächezustand darf jetzt als überwunden angesehen werden. Nicht zuletzt bedeutet auch der große Wahlsieg Präsident Eisenhowers, daß der Westen endlich wieder aktionsfähig ist. Nun müssen wir das Eisen schmieden. Es darf auf westlicher Seite in Europa keine Alleingänge mehr geben.
Unsere Sicherheit, auch die Berlins, beruht auf den Verträgen. Auch die Kritiker können an dieser Tatsache in diesen Tagen nicht achtlos vorbeigegangen sein.
Der Streit um die militärische Verteidigung der Bundesrepublik kann und muß heute als überholt angesehen werden.
Wir sind in dramatischer Weise belehrt worden, daß es nicht nur die Gefahr eines atomaren dritten Weltkrieges gibt.
Ebenso deutlich lehren die Ereignisse, daß militärische Ohnmacht die Gefahr einer wenn auch begrenzten Aggression nur erhöht.
Die Anwendung brutaler Gewalt unterbleibt um so sicherer, wenn sie auf ein zur Verteidigung entschlossenes und dazu technisch vorbereitetes Volk trifft.
Wir haben die Möglichkeit europäischer Kriege mit herkömmlichen Waffen in so erschreckender Weise vorgeführt bekommen, daß es darüber keine Diskussion mehr geben kann.
Erlauben Sie mir auch ein Wort über unser Verhältnis zu Sowjetrußland. Es hat weder uns noch irgendeinem anderen genützt, sondern nur geschadet und furchtbare Folgen gehabt, daß in der letzten Zeit so viele Illusionen aufkommen konnten.
Die Zeit der Illusionen sollte vorbei sein.
Die Sowjetunion ist in Europa als Aggressor aufgetreten. Sie hat ein freiheitlich gesonnenes Volk niedergeschlagen, ein Volk, mit dem unser deutsches Volk durch jahrhundertealte Traditionen, auch des Blutes, verbunden ist. Diese Tatsache wirft einen bösen Schatten auf die von uns ehrlich aufgenommenen Bemühungen um eine Besserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Vielleicht lernen aber auch die Sowjets aus der in den Satellitenstaaten entstandenen Bewegung. Wenn sie Realpolitik treiben wollen, dann müssen sie endlich von der Erkenntnis ausgehen, daß das deutsche Volk weder hier im Westen noch in der Zone jemals kommunistisch wird.
Die Politik muß trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen weitergehen. Und das ist wirkliche Politik: dramatische Auseinandersetzungen zwischen den Völkern vermeiden. Wir haben, wenn wir nach Osteuropa schauen, allen Grund zu der festen Überzeugung, daß die ungarische Tragödie andere Völker, die sich in derselben Lage wie Ungarn befinden, nicht davon abschreckt, in einer langsamen und steten Entwicklung zur Freiheit zurückfinden. Dieser Prozeß setzt sich durch.
Kein Verantwortlicher war in diesen Tagen so vermessen, die Deutschen in der Zone zum Aufstand aufzurufen. Er hätte sie in die sowjetischen Panzer hineingetrieben. Nichts wäre falscher, als gerade der stillen, täglich geübten Tapferkeit, mit der jene 18 Millionen zur unauslöschlichen Tradition der. Heimat stehen, die Anerkennung zu versagen.
Das gilt auch für die Berliner auf beiden Seiten des Brandenburger Tores, deren unbeugsamer Selbstbehauptungswille immer unsere Bewunderung findet.
Das ist der moralische Rückhalt für unsere Bemühungen um die Zustimmung der Siegermächte zu einer Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit. Ich sage es heute noch einmal mit besonderer Betonung: Wiedervereinigung nicht nur in Freiheit, sondern auch in Frieden, nicht als ein Akt der Gewalt, sondern der Politik; Wiedervereinigung ohne Blutvergießen, ohne Rache, ohne Vergeltung, eine Wiedervereinigung in Freiheit und in Frieden.