Rede von
Dr.
Hermann
Schmitt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
— Herr Professor Schellenberg, ich würde Sie doch bitten, mich ebenso anzuhören, wie ich vor einiger Zeit Sie angehört habe, als Sie Ihren Plan vortrugen. Ich habe mir damals keine Mühe gegeben, Sie durcheinanderzubringen.
Die grundsätzlichen Fragen waren in der vorausgegangenen Diskussion weitgehend geklärt worden, so daß diese Abschlußarbeiten nur die gesetzliche Formulierung der vorliegenden Grundsatzerkenntnisse gebracht haben.
Ich sagte bereits, daß die Diskussion um die Sozialreform sich vor allem mit dem Funktionswandel beschäftigte, den das System der sozialen Sicherung in der jüngsten Vergangenheit durchgemacht hat. Wenn wir an die Zeit zurückdenken, in der unter der Schirmherrschaft von Bismarck die deutsche Sozialversicherung geschaffen wurde, dann stellen wir fest, daß damals im sozialpolitischen Raum andere Voraussetzungen, von denen
der Gesetzgeber auszugehen hatte, gegeben waren als die, die wir heute finden. Zu jener Zeit war der Mensch im allgemeinen in dem Sicherheitsverband der Familie eingebettet. Diese Familiengemeinschaft beruhte auf andersartigen wirtschaftlichen und gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen als heute, wo der Besitz von Haus und Hof als wirtschaftliche Grundlage für die Familie nur noch für einen kleinen Teil der Bevölkerung von Bedeutung ist.
Seit der Zeit der Schaffung der deutschen Sozialversicherung ist die Mehrheit der Bevölkerung von der ländlichen Lebens- und Arbeitsweise zu einer städtisch und industriell geprägten Lebensführung übergegangen. Wir müssen hier die realen Tatbestände klar sehen und dürfen uns nicht auf irgendwelche ideellen Vorstellungen verlas-. sen. Im sozialpolitischen Raum gilt einfach der Tatbestand und nicht das, was man gerne hätte. Es entsprach also den damaligen Gegebenheiten, wenn man die Rente aus der sozialen Rentenversicherung entsprechend der Vorstellungswelt, wie sie um die Jahrhundertwende herrschte, als einen Zuschuß zur Lebenshaltung ansah.
Inzwischen ist aus der damaligen Minderheit der abhängigen Beschäftigten eine überwiegende Mehrheit geworden. Die Menschen haben sich vereinzelt. Die wirtschaftliche Einbettung in den Schoß der Familie kann nicht mehr als Regel gelten. Auch hohe und wachsende Einkommen schützen den Menschen nicht mehr vor der Unsicherheit des Daseins. Eher ist sogar das Gegenteil richtig. Je besser man verdient, um so härter empfindet man den Verlust eines regelmäßigen Arbeitsentgeltes.
Wir können also feststellen, daß sich mit zunehmendem Wohlstand auch ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis geltend macht. Aus diesem Grunde haben wir allen Anlaß, das geltende System der sozialen Sicherheit daraufhin zu prüfen, ob es auf alle diese gesellschaftlichen und ökonomischen Wandlungen, die sich in den vergangenen 70 Jahren vollzogen haben, noch ausreichend Rücksicht nimmt. Wir haben hierbei nicht nur an die Millionenzahl derer zu denken, die heute schon Renten beziehen, sondern auch an diejenigen, die in der Zukunft auf Renten angewiesen sein werden. Deshalb gilt es, eine gesellschaftspolitische Entscheidung zu fällen. Es entspricht unserer heutigen Auffassung von der Würde des Menschen und seiner Arbeit, wenn wir uns bemühen, ein Auseinanderfallen von Verdienenden und Nichterwerbstätigen zu beseitigen und für die Zukunft zu verhindern. Wir müssen dabei helfen, daß sichergestellt wird, daß jeder Rentenbezieher am Aufstieg seines Standes oder seines Berufes teilnimmt, und zwar nach Maßgabe seiner individuellen Position im Sozialgefüge, die er sich und den Seinen während der Dauer seines Arbeitslebens erarbeitet hat.
Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die alten Menschen in der Zeit, als sie selbst noch im arbeitsfähigen Leben standen, das Ihrige zur Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse beigetragen haben und daß die gegenwärtig schaffende Bevölkerung zum Teil von ihren Vorleistungen zehrt, dann ist es, glaube ich, selbstverständlich, daß auch sie im Ruhestand an den Früchten der gemeinsamen Anstrengungen der Generationen teilhaben. Die Sicherstellung des einmal erworbenen Lebensstandards ist dann nicht ein Akt der Barmherzigkeit seitens der jeweils Erwerbstätigen oder gar des Staates, sondern die Erfüllung einer geschuldeten Pflicht und der Ausdruck einer von den Umständen begründeten Solidarität zwischen den Generationen. Auf diesem Wege wird es uns gelingen, den Riß, der sich in unserer Gesellschaft zwischen den Verdienenden und den nicht mehr Verdienenden abzuzeichnen droht, zum Verschwinden zu bringen. So wie die Gemeinschaft das Eigentum des einzelnen schützt, muß sie auch das Arbeitseinkommen schützen. Unser Ziel muß sein, den Menschen das Bewußtsein zu geben, daß sie sich auch nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben den Lebensunterhalt selbst verdient haben.
Ich hoffe, hiermit deutlich gemacht zu haben, daß es uns um mehr als um die Lösung des Problems des Alters- und Invalidenrentners und der Hinterbliebenen geht.
Wir haben uns bei der Erarbeitung dieses Gesetzes von dem Gedanken leiten lassen, daß es nicht nur Hilfe für diejenigen bringen soll, die alt und invalide geworden sind oder den Ernährer verloren haben, sondern daß auch eine Stärkung des Lebensgefühls für jeden Arbeitenden während seines ganzen Arbeitslebens erreicht werden muß.
Wie bei der Schaffung der Sozialversicherungsgesetze diese staatspolitische Grundeinstellung das Fundament der ganzen Gesetzgebung war, so hat sich auch diesmal über alle vordergründigen Argumente hinweg diese Grundauffassung von der Verpflichtung der Staatsführung durchgesetzt. Das Vertrauen des einzelnen in die Gemeinschaft, in die er geboren und in die er mit seiner Arbeit hineingestellt ist, soll dadurch gestärkt werden, daß die Menschen für einen wichtigen Abschnitt ihres Lebens nicht von der Entwicklung der gesamten Gemeinschaft ausgeschlossen werden. So wie es eines unserer vornehmsten Ziele ist, die Freiheit der Einzelperson im Rahmen der Gesamtheit zu stärken und zu schützen, so muß auch diese Sicherheit gestärkt und geschützt werden. Diese gesellschaftspolitische Grundentscheidung, die jedem Arbeiter und Angestellten das Vertrauen in die Stabilität seiner Alters- und Invaliditätssicherung gibt, will damit zugleich das Vertrauen des Bürgers zu der Gemeinschaft, die ihm diese Sicherheit gewährt, stärken.
Von hier aus versteht sich auch die Entscheidung der Kernfrage des Entwurfs, nämlich der Frage nach der Rentenformel. Die Rentenberechnung erfolgte bisher nach einer starren, d. h. lediglich den Nennwert der Beiträge berücksichtigenden Rentenformel. Bei der Festlegung dieser Formel am Ende des vergangenen Jahrhunderts konnte man noch nicht übersehen, daß die Fortschritte der Technik und der Produktivität, die durch menschliche Energie und Erfindergeist erfolgten, solche stürmischen Ausmaße annehmen würden. Der technische Fortschritt führte zu einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität und damit zu einer Produktionsausweitung, die sich ganz allgemein in dem fortlaufend steigenden Lebensstandard niederschlägt. Die gestiegene Produktivität hat steigende Löhne und Gehälter zur Folge.
Die gegenwärtige Rentenformel erwies sich als ungeeignet, den Rentner an dieser Gesamtentwicklung in entsprechender Weise teilnehmen zu lassen. Wiederholte Rentenerhöhungsgesetze mit lebhaften Auseinandersetzungen führten zu unsystematischen, unübersichtlichen und beim Fortgang
der Entwicklung sehr bald unbefriedigenden Teillösungen. Der durch die Entwicklung hervorgerufenen unbefriedigenden Rentenerhöhung steht auf der anderen Seite die Tatsache gegenüber, daß sich die Einnahmen der Rentenversicherungsträger infolge prozentualer Bemessung der Beiträge im Einklang mit den Lohn- und Arbeitsverhältnissen entwickelten und zu ständig wachsenden Vermögensüberschüssen führten.
Auf seiten der Bundesregierung besteht Einmütigkeit darüber, daß eine schematische Versorgung, die jeden Menschen unabhängig von seiner Lebensleistung auf ein Einheitsrentenniveau herabdrückt, für unser Volk nicht in Frage kommen kann. Deshalb geht die neue Rentenformel von dem Gedanken aus, daß das Einkommen des einzelnen seinen Beitrag zur Erstellung des Sozialprodukts der jeweiligen Periode zum Ausdruck bringt. Die für den Rentner so nachteilige Veränderung der Löhne und Gehälter im Laufe eines längeren Arbeitslebens ließ sich dadurch abfangen, daß man zum Maßstab der Beiträge eine von solchen Veränderungen unabhängige Größe herangezogen hat. Auf diese Weise konnte die Höhe der Renten dem jeweiligen Stand der wirtschaftlichen Entwicklung angepaßt werden.
Der Grundgedanke einer elastischen Rentengestaltung ist inzwischen auch in denjenigen Kreisen anerkannt worden, die sich zunächst den soeben angedeuteten Erkenntnissen zu verschließen suchten. Die Meinungsverschiedenheiten beschränken sich gegenwärtig ,auf die Frage nach dem Ausmaß der Rente. Der Grundgedanke des neuen Rentenbemessungsverfahrens ist also der folgende: Wenn durch eine Erhöhung des Sozialprodukts die Gesamtmasse dessen, was unserem Volk zum Verzehr zur Verfügung steht, vergrößert wird, so sollen an dieser Erhöhung der Verbrauchsgütermenge auch die Rentner teilnehmen.
Ich darf noch einmal betonen, daß es sich hierbei nicht um ein Geschenk an die alten Menschen handelt. Wir vollziehen vielmehr lediglich einen Akt der Gerechtigkeit, weil die alten Menschen in früheren Jahren mit die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß gegenwärtig mehr Güter erzeugt werden und zur Verfügung gestellt werden können.
Seit die Beschlüsse der Bundesregierung über die Alters- und Invaliditätssicherung bekanntgeworden sind, macht man sich an vielen Stellen Gedanken über die wirtschaftlichen Auswirkungen. Natürlich sind wir alle daran interessiert, daß die sozialpolitisch für notwendig gehaltene Regelung und der daraus sich ergebende zusätzliche Rentenaufwand keine schädlichen Folgen für unsere Wirtschaft haben. Doch kann ich keineswegs einsehen, welche schädlichen Auswirkungen von der vorgeschlagenen Neuregelung ausgehen könnten.
Man hat zuweilen von inflationistischen Wirkungen gesprochen. Da jedoch die Renten sich in der Zukunft stets und immer nur in Abhängigkeit von der Lohnentwicklung bewegen und sich ihr mit zeitlicher Verzögerung anpassen werden, ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet davon eine Inflationsgefahr ausgehen sollte. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, daß die Rentner niemals mehr für Konsumzwecke ausgeben können, als die arbeitende Generation vorher in Form von Beiträgen an Konsumverzicht auf sich genommen hat. Bedenken Sie bitte bei solchen Überlegungen, daß die Gesamtsumme der Renten, die wir in der sozialen Rentenversicherung zahlen, stets nur einen
Bruchteil der Gesamtsumme ausmacht, die für den privaten Verbrauch aller Menschen des Volkes ausgegeben wird.
Ebenso scheinen mir Besorgnisse bezüglich der Stabilität unserer Währung im Zusammenhang mit einer Neuordnung der Renten nicht begründet zu sein. Man kann doch kaum anerkennen, daß eine ungerechte Rentenordnung bestehen müsse, weil die Möglichkeit bestehe, daß sich die Preis--und Lohnentwicklungen nicht im Rahmen des vernunftmäßig Gebotenen hielten. Ich kann nur nochmals betonen, daß es sich bei den Renten um abgeleitetes Einkommen handelt, von dem keine schädlichen Wirkungen ausgehen können, solange diejenigen richtig handeln, die für Löhne und Preise verantwortlich sind. Letzten Endes hängt natürlich jede Art der sozialen Sicherung, sei sie nun modern oder weniger modern, in ihrem Erfolg von der Stabilität der Preise und der Sicherung der Währung ab. Ich glaube, wir können in diesem Punkt den Hütern unserer Währung weithin vertrauen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Finanzierungsverfahren sagen. Die soeben geschilderten Fortschritte fallen naturgemäß nicht vom Himmel, sie wollen erarbeitet und bezahlt sein. Bezahlen kann sie stets nur die arbeitende Bevölkerung, unabhängig davon, über welche Konten man diese Gelder verrechnet. Ich glaube, daß es gerade zur Festigung der Freiheit der Einzelperson in unserem Wirtschaftsleben führt, wenn wir die erhöhte Sicherheit nicht als ein Geschenk, sondern als das Ergebnis eigener Arbeit und eigenen Verzichts ansehen.
Eine Abhängigkeit vom Staate sollte bei einer Neuordnung der sozialen Sicherheit im Interesse aller Menschen soweit wie möglich vermieden werden. Dies läßt sich gegenwärtig nicht in vollem Umfange vermeiden. Doch soll die Alterssicherung auf jeden Fall ohne eine staatliche Beteiligung allein aus Beiträgen finanziert werden. Es ist für den Versicherten wertvoll, die rechnungsmäßige Beziehung zwischen seinem Beitragsaufkommen und der Rentenleistung klar zu übersehen. Hierin liegt für die Versicherten auch die Sicherheit, daß der Rechtsanspruch auf Rente unangefechten bleibt, so daß hier eine Bedürftigkeitsprüfung niemals eingeschaltet werden kann. Auch das trägt zur Stärkung und Wiederherstellung der Würde des Alters im Rahmen der Gesamtgesellschaft bei. So werden auch die Versicherten eine Beitragshöhe als gerecht empfinden, die eine auskömmliche Rente verspricht und finanziert.
Für den Fall der Invalidität liegen die Verhältnisse anders, so daß hier auch die Leistungsgestaltung unterschiedlich sein muß. Wenn ein Versicherter noch vor Erreichung der Altersgrenze wegen einer Beeinträchtigung seiner Erwerbsfähigkeit aus dem Arbeitsleben ausscheiden muß, so wird auch dann, wenn er bis dahin schon eine gute Einkommensposition erworben hat, die Versicherungsdauer oft nicht dazu ausreichen, eine angemessene Rentenhöhe zu gewährleisten. Der Entwurf sieht eine wesentliche Verbesserung der Leistungen im Falle der Invalidität vor. Es gilt, solche Familien, die von dem Unglück einer vorzeitigen Invalidität des Ernährers betroffen werden, in ihrer wirtschaftlichen Existenz zu sichern und insbesondere für die Fälle vorzusorgen, in denen noch Kinder zu unterhalten sind. Das Risiko der vorzeitigen Invalidität
muß von der Gesamtheit der Staatsbürger mit getragen werden. Aus diesem Grunde sind für solche Fälle Staatszuschüsse notwendig, berechtigt und in der Gesetzesvorlage vorgesehen.
Der Entwurf unterscheidet bei der Rentenbemessung zwischen Invalidität und völliger Erwerbsunfähigkeit. Die Rente für völlig erwerbsunfähige Personen soll in ihrer Höhe der Altersrente entsprechen.
Die Hilfe bei vorzeitiger Invalidität ist noch aus einem anderen Grunde ein gesellschaftspolitisches Anliegen, dem wir unsere ganze Aufmerksamkeit schenken müssen. Die Krankheitshäufigkeit der Bevölkerung hat sich gesteigert, die körperlichen und seelischen Anspannungen haben Abnutzungserscheinungen zur Folge, so daß trotz der verlängerten Lebenserwartung die Arbeitsfähigkeit in den vorgerückten Lebensjahren nicht in gleichem Umfange gestiegen, sondern eher geringer geworden ist. Es kann jedoch nicht unser einziges sozialpolitisches Ziel sein, die Lebenserwartung der Menschen zu erhöhen, sondern wir müssen auch dafür Sorge tragen, daß sie dieses verlängerte Leben in Gesundheit durchleben können. Eine wirkliche Lebensfreude kann sich nur in einem gesunden Körper entwickeln.
Dieses Anliegen hat natürlich auch die angenehme Auswirkung, daß wir mit Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit der Menschen wieder Menschen der Produktion zuführen können, die vorher zur Untätigkeit verurteilt waren. Damit werden der Produktionskraft unseres Volkes wie auch der Beitragsleistung der Versicherungsgemeinsch aft erhöhte Beiträge zugeführt und die gesamte Rentenlast vermindert. Aber Sie alle werden mit mir darin einig sein, daß wir hierin nicht den vornehmsten Zweck dieser Maßnahmen erblicken. Es geht uns vor allem darum, die Menschen gesund und froh zu machen. Hierbei dürfen wir sicherlich von der gemeinsamen Auffassung ausgehen, daß ein Leben erst durch Arbeit seinen wahren Sinn erhält.
Die Bedeutung, die die Bundesregierung diesem Komplex beigemessen hat, ersehen Sie bereits daraus, daß in den Vorschriften des Entwurfs die Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Gesundheit und damit der Erwerbsfähigkeit als selbständige Aufgabe der Rentenversicherungsträger der Gewährung von Renten und sonstigen Leistungen vorangestellt werden. Aus einzelnen Formulierungen des Entwurfs ergibt sich, daß solche Maßnahmen auch dann durchgeführt werden können, wenn sie nicht zur Einsparung oder zum Wegfall einer Rente führen, also auch zur Herstellung der Gesundheit der Rentner, die bereits eine feste Rente beziehen. Die Rentenversicherungsträger werden hier ein reiches und ausbaufähiges Arbeitsfeld vorfinden. Sie werden sich dieser Aufgabe, entsprechend der Grundtendenz des Gesetzentwurfs, daß Vorbeugung und Wiederherstellung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit wichtiger sind als die Gewährung von Rente, in stärkerem Maße zuwenden können, als es bisher der Fall war.
Hierbei ist auch dafür Sorge zu tragen, daß der Erfolg der medizinischen und berufsfördernden Hilfen nicht dadurch beeinträchtigt wird, daß der Betreute während der Dauer der Wiederherstellungsmaßnahmen für sich und seine Familie von wirtschaftlichen Sorgen belastet ist. Als neuartige
Leistung wird deshalb ein sogenanntes Übergangsgeld vorgesehen.
Es ist klar, daß der Erfolg der wiederherstellenden Maßnahmen im wesentlichen davon abhängt, daß gesundheitliche Schäden möglichst frühzeitig erkannt werden. Der Entwurf sieht deshalb vor, daß die Träger der Krankenversicherung und die Arbeitsverwaltung dem Rentenversicherungsträger sofort mitteilen müssen, wenn ihnen Fälle bekannt werden, in denen vorbeugende oder wiederherstellende Maßnahmen angezeigt erscheinen.
Zusammenfassend darf ich sagen, daß das neue Sicherungssystem unvollkommen wäre ohne die geschilderten Maßnahmen mit dem Ziel einer planmäßigen Zurückdämmung und Einschränkung der vorzeitigen Invalidität. Schließlich ist es die Gesellschaft ihren Mitgliedern auch schuldig, daß sie das Möglichste auf diesem Gebiet nicht ungetan läßt. Ich vertraue hier für die Zukunft auf eine langfristig angelegte Gemeinschaftsarbeit der Ärzte, der Psychologen, der Berufsberater und der Arbeitsvermittler, für die wir versucht haben, in dem vorliegenden Entwurf eine solide Grundlage für ihre weitere Arbeit zu schaffen.
Ich kann im Augenblick nur versuchen, Ihnen die wesentlichen Anliegen des Entwurfs vor Augen zu führen. Neben den bereits bekannten Punkten bringt der Entwurf für Witwen und Waisen eine Besserung der sozialen Sicherung in mehrfacher Weise. Die Witwenrenten werden auf 6/10 der Versichertenrente heraufgesetzt. Damit wird dem Sachverhalt Rechnung getragen, daß der Lebensbedarf für eine Person mehr erfordert als den Betrag, der bei einem Haushalt von mehreren Personen auf den einzelnen entfällt. Die Waisenrenten werden auf einen Betrag erhöht, der sich ebenfalls mit der wirtschaftlichen Entwicklung verändert. Damit wird auch für die heranwachsende Generation besser gesorgt werden können, als es bisher möglich war. Mit all dem fördert der Entwurf die wirtschaftliche Lage der Familienhaushalte, in denen eine Witwe für Kinder zu sorgen hat.
Wesentliche Änderungen des bisherigen Systems werden weiterhin auch dadurch bewirkt, daß in Zukunft allen Arbeitnehmern, also Arbeitern und Angestellten, im wesentlichen die gleiche Sicherung gegeben wird. Damit werden zugleich Ungerechtigkeiten, die insbesondere in der bisherigen Rentenformel für Angestellte mit längerem Arbeitsleben hervorgetreten sind, ausgeglichen, wie andererseits eine Angleichung von Arbeitern und Angestellten dadurch erfolgt, daß die Leistungen für Arbeiter an diejenigen der Angestellten herangehoben werden. Eine systematische Gleichstellung wird schon deshalb vermieden, weil die neue Rentenformel das individuelle Arbeitsleben des einzelnen getreu widerspiegelt.
Doch aus dieser Rechtsangleichung darf nicht geschlossen werden, daß damit irgendwelche Vereinheitlichungstendenzen gefördert werden sollen. Das Angestelltenversicherungsgesetz wird als besonderes Gesetz aufrechterhalten bleiben. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte bleibt nicht nur als selbständiger Versicherungsträger für die Angestellten erhalten, sie kann vielmehr gerade in dem erweiterten Aufgabenbereich der Prävention und Rehabilitation die besonderen, für ihre Versicherten speziell erforderlichen und auf deren Wesensart und Bedürfnisse abgestellten
Maßnahmen und Hilfen medizinischer und berufsfördernder Art gestalten und ausbauen.
Abschließend darf ich noch auf ein weiteres wesentliches Anliegen des Entwurfs eingehen. Er bringt eine Wiederherstellung der Rechts- und der Gesetzeseinheit auf dem Gebiete der Rentenversicherung. Die unterschiedliche Anwendung des am Kriegsende erlassenen Rechts sowie der Erlaß von Länder- und Zonenregelungen von 1945 bis 1949 brachten es mit sich, daß bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in verschiedenen Gebieten der Bundesrepublik unterschiedliches Recht angewandt wird. Noch wichtiger war vielleicht die Aufgabe der Wiederherstellung der Gesetzeseinheit auf dem Gebiete der Rentenversicherung. Das bedeutet eine Übernahme der in vielen Gesetzen, Verordnungen und Erlassen getroffenen Regelungen in ein Gesetz. Infolge der Kriegs- und Nachkriegsgesetzgebung wurden die maßgebenden und von der Praxis anzuwendenden Vorschriften immer unübersichtlicher. Deshalb erstrebt der Entwurf auch eine übersichtliche Gestaltung des gesamten Rechtsgebiets.
Die soziale Sicherung berührt eine der wichtigsten Existenzbedingungen der modernen Gesellschaft. Sie beeinflußt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ebenso wie die Lebenshaltung der gesamten Bevölkerung. Es liegt in ihrer Macht, Einzel-und Massennotstände zu verhindern, produktive Kräfte zu wahren und zu entfalten und für die Herstellung und Wahrung eines geordneten Gemeinwesens unter dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Dieses Ziel rechtfertigt nicht nur die langjährige, vielfältige und weithin andauernde Bemühung der verantwortlichen Stellen, sondern auch die lebhafte Teilnahme der breitesten Öffentlichkeit.
Zu einer umfassenden Sozialreform gehören sicherlich neben der Alters- und Invaliditätssicherung noch viele andere Gebiete, von denen ich nur die Versorgung, die Fürsorge, die Unfallversicherung, die Krankenversicherung, die Familien- und die Jugendhilfe sowie die soziale Sicherung der Selbständigen erwähne. Ich glaube jedoch, wir sind uns darüber einig, daß nicht so lange gewartet werden kann, bis für alle diese Komplexe die gesetzgeberische Gesamtlösung gefunden ist. Die Bundesregierung war der Auffassung, daß Einzelmaßnahmen, deren innerer Zusammenhang keineswegs verkannt werden soll, von verschiedener Dringlichkeit sind. Auf dem Gebiete der Rentenreform ist die Meinungsübereinstimmung am weitesten gediehen. Also hielten wir es für richtig, dieses Problem, das mir persönlich ein Herzensanliegen ist, bevorzugt zu behandeln und einer beschleunigten gesetzlichen Regelung zuzuführen. Eine Modernisierung der Alters- und Invaliditätssicherung wird ihre heilsame Wirkung auf unsere gesellschaftliche Verfassung nicht verfehlen. Wir alle wollen daran mithelfen, daß die Alten, Invaliden und Hinterbliebenen künftig gleichberechtigte Mitglieder der Gesamtheit sind. Ich hoffe, daß unser Vaterland mit diesem Werk wieder eine führende Stellung auf dem Gebiete der Sozialpolitik in der Welt einnimmt, wie es ehemals gewesen ist.