Rede von
Dr.
Paul
Leverkuehn
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Teil der Berichterstattung geht auf meine Mitgliedschaft im Wirtschaftspolitischen Ausschuß des Europarates zurück. Er ist also durchaus konkret und soll sich kurz mit dem beschäftigten, was an praktischen Vorschlägen vor Ihnen liegt. Das sind, wie Herr Kollege Mommer eben schon gesagt hat, zum Teil Dinge, die klein erscheinen, wie Paßformalitäten, Formalitäten in Flughäfen, Fragen des Führerscheins, Autobahnsymbole und dergleichen. Aber, meine Damen und Herren, für den europäischen Staatsbürger sind diese Dinge, wenn er von Land zu Land reist und wenn er sich zu dem entwickeln soll, was uns vorschwebt — vom Angehörigen seines Staates zu einem Europäer —, von
Bedeutung, und wir sollten ihnen unsere Aufmerksamkeit nicht versagen. Auch das Paßwesen und die Zollgesetzgebung gehören in diesen Rahmen.
Ein weiteres Wort ist, glaube ich, zu dem umfangreichen wirtschaftlichen Programm notwendig, das aus einigen der Anträge zu Ihnen spricht. Einer der leitenden Herren der Montanunion hat einmal den Zweck der ganzen Montanunion in Luxemburg dahin zusammengefaßt: eine fünfprozentige Hebung des Lebensstandards in den Montanunionsländern in jedem Jahre. Das ist ein sehr konkret und einfach formuliertes Ziel, und, meine Damen und Herren, es ist das soziale Ziel. Ob und wann es verwirklicht werden kann, wissen wir nicht; aber wir wissen immerhin aus dem letzten, dem siebenten Bericht der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit, der uns gerade zugegangen ist, daß in den Jahren 1953 und 1954 die Produktivität in den europäischen Ländern um 5 % und im Jahre 1955 sogar noch etwas mehr gestiegen ist. Nun, die Steigerung der Produktivität ist etwas anderes als die Steigerung der Lebenshaltung; aber sie stehen in enger Beziehung zueinander. Ohne eine Steigerung der Produktivität gibt es keine Steigerung der Lebenshaltung.
Warum ist eigentlich von dem gemeinsamen Markt soviel die Rede? Ich glaube, wir sollten uns das bei einer solchen Diskussion doch noch einmal vor Augen führen. Was uns dabei vorschwebt, ist eigentlich immer das Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika mit seinem ungeheuren Umfang, mit seinen natürlichen Schätzen und mit seiner sehr großen Einwohnerzahl. Daß die Lebenshaltung in keinem Teil der Erde höher ist als in den Vereinigten Staaten, ist bekannt, und wenn wir den Gegenpol, die Sowjetunion betrachten, so ist festzustellen, daß auch dort in den letzten Jahrzehnten erhebliche Steigerungen der Produktivität zu verzeichnen sind. Aber gerade hier ist das Verhältnis zwischen der Steigerung der Produktivität und der Steigerung der Lebenshaltung noch keineswegs das, was von russischer Seite in Anspruch genommen wird.
Hier, meine Damen und Herren, müssen wir uns nun überlegen, ob und inwieweit dieser gemeinsame Markt zur Steigerung der Lebenshaltung in den einzelnen Teilen Europas beitragen kann und beigetragen hat. Wir kommen zu dem Ergebnis, daß das in sehr verschiedenem Grade der Fall ist. Es gibt auch in Europa Wirtschaftsgebiete, welche den Einwohnern keineswegs eine befriedigende Lebenshaltung gewähren. In diesem Zusammenhang ist man an den Wirtschaftspolitischen Ausschuß des Europarates mit der Bitte herangetreten, diejenigen Gebiete, welche am wenigsten an der Steigerung der Lebenshaltung in Europa teilgenommen haben, einer Untersuchung zu unterwerfen und Vorschläge zur Besserung zu machen. Es handelt sich um Süditalien, Griechenland und die Türkei. Gruppen des Wirtschaftspolitischen Ausschusses sind in diesen Ländern gewesen und haben umfangreiche Berichte erstattet. Sie machten, besonders in Italien, schon Vorarbeiten bedeutungsvoller Art, vor allen Dingen durch den jüngst verstorbenen Senator und früheren Minister Vanoni.
Nun steht vor uns die Frage: Welche Möglichkeiten bietet die heutige Apparatur des Europarates oder der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Vorschläge und Pläne, die auf diese Weise entwickelt werden, in die Tat umzusetzen? Da sieht es noch sehr schlecht aus. Wenn wir warten wollen, bis eine Organisation, die in etwa der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit entsprechen würde, gestaltet worden ist, werden wir sehr lange warten müssen.
Der Sinn der Anträge, die heute vor Ihnen liegen, geht dahin, zu prüfen, ob es nicht richtiger ist, daß wir praktisch von einem Lande aus anfangen, und zwar von der Bundesrepublik aus.
In dem Antrag Drucksache 2154 betreffend Wirtschaftshilfe für Südeuropa ist die Frage angesprochen, ob und inwieweit zu solchen Zwecken die Mittel des ERP-Sondervermögens oder Mittel des Bundeshaushalts herangezogen werden können. Zwischen dem ERP-Sondervermögen, also dem, was wir als Marshallplanhilfe bekommen haben — im breiten Sinn gesprochen —, und den europäischen Belangen besteht ein sehr enger Zusammenhang. In dem Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit vom 15. Dezember 1949, das die Basis für das ERP-Sondervermögen bildet, ist ausdrücklich gesagt, daß die Regierung der Bundesrepublik Deutschland der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit, die auf Grund der am 16. April 1948 in Paris unterzeichneten Konvention über europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit gebildet wurde, als Mitglied beigetreten ist. Diese Abmachungen sind später gelegentlich der Schuldenregelung in die Abmachungen zwischen der Bundesrepublik und der Regierung der Vereinigten Staaten über die Abtragung des Teils der Nachkriegshilfe übernommen worden, der von den Vereinigten Staaten angefordert worden ist. Auch im Eingang dieses Abkommens wird darauf hingewiesen, daß die Bundesrepublik in dem mit den Vereinigten Staaten abgeschlossenen und am 15. Dezember 1949 unterzeichneten Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit bestimmte Dinge anerkannt und durchzuführen unternommen hat. Wenn man sich also jetzt entschließt, daß die Marshallplanhilfe, die den europäischen Ländern gewährt worden ist, umgewandelt wird in eine Marshallplanhilfe für die Teile Europas, die bisher der wirtschaftlichen Entwicklung nicht in vollem Umfang haben folgen können, so ist das eine logische Weiterentwicklung, und es sollte nicht schwerfallen, die gewissen kleinen Hemmungen, die durch die bisherigen Abmachungen in bezug auf die Verwendung der Gelder und die Laufzeit von Krediten usw. noch vorhanden sind, nunmehr zu beseitigen.
Darf ich Sie abschließend zur Illustration dessen, was hier gemeint ist, an eine Anekdote aus der Bismarckschen Zeit erinnern: Bismarck steht mit zwei seiner Freunde am Fenster eines Hauses, und unten auf der Straße geschieht ein Unglück. Nun wird gesagt: der erste der Freunde machte dazu eine geistvolle Bemerkung, der zweite gab eine Empfehlung, wie dort zu helfen sei, und nur der dritte — Bismarck selbst — stürzte hinunter, um zu helfen.
Meine Damen und Herren, hier wird gebeten, daß wir nicht nur geistvolle Bemerkungen machen, daß wir nicht nur Empfehlungen geben, sondern daß wir nunmehr mit der Tat eingreifen!