Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, einige zusätzliche Ausführungen zu einem konkreten Thema zu machen, dazu nämlich, welche
Rolle wir, die Mitglieder der Beratenden Versammlung, dieser heutigen Diskussion und Tagesordnung beimessen.
Wir sind uns alle darüber im klaren, wie schwer die Aufgabe ist, Europa zu bauen, dieses Europa, dessen Völker vor elf Jahren noch im Kriege miteinander lagen. Außerdem gilt es, jahrhundertealte Denkweisen zu ändern und jahrhundertealte nationalstaatliche Institutionen umzuorganisieren. Es geht darum, mächtige Interessen zu überwinden. Manchmal gibt es auch das Hindernis, daß auch die Europaidee wie jede große Idee nicht dem Mißbrauch entgeht und daß sie zur Tarnung von Bestrebungen verwendet wird, die keine reinen Wurzeln haben.
Um die Widerstände zu überwinden, bedarf es eines gewaltigen politischen Druckes, nicht eines einmaligen Druckes, sondern eines ständigen, zähen, über Jahrzehnte hinweg fortgesetzten politischen Druckes.
Den Ungeduldigen, die uns fragen: Was habt ihr denn geleistet, was habt ihr realisiert?, sei dies gesagt: Zehn Jahre sind eine kurze Zeit für Bestrebungen von solchem Umfang. Der Europarat besteht seit sechseinhalb Jahren, und man kann von diesem historisch gesehen sehr jungen Bäumchen keine reifen Früchte verlangen.
Ich mache diesen Hinweis nicht deshalb, weil wir die Absicht hätten, mit dem zufrieden zu sein, was wir getan haben. Der Europarat oder zumindest die Beratende Versammlung ist nicht zufrieden mit dem, was bisher geschehen ist. Die Versammlung hat im vergangenen Jahr einmal Bilanz über das gemacht, was in den ersten Jahren der Existenz der Organisation geschehen ist, und aus der Bilanz hat sie zu erkennen versucht, was auch in ihrer Arbeitsweise geändert werden müßte und könnte, um in Zukunft wirksamer zu arbeiten, mehr zu leisten.
Ich will nur wenige Worte über das Organ des Europarates sagen, das nach dem Statut das erste, das entscheidende Organ ist, über den Ministerausschuß, in dem die Mitgliedstaaten durch ihre Außenminister vertreten sind. Nach dem Statut sollte da, beim Ministerausschuß, die motorische Kraft liegen, die zu mehr Einheit unter den Mitgliedvölkern führen sollte. Wir sind uns aber alle einig darin, daß der Ministerausschuß diese Rolle nicht gespielt, seine Aufgabe in dieser Hinsicht nicht erfüllt hat. Der Dränger ist das zweite Organ gewesen, diese parlamentsähnliche Institution der Beratenden Versammlung. Der Ministerrat hat sich vielmehr als Brems- und Verzögerungsorgan gegenüber dem Drängen der parlamentarischen Institution betätigt. Die Vorschläge der Beratenden Versammlung sind im Ministerausschuß in die bürokratische Zerhackungsmaschine gekommen. Häufig ist dabei nicht nach dem Grundsatz verfahren worden, für die vielen Schwierigkeiten, die es ohne Zweifel in der Durchführung unserer Vorschläge gibt, jeweils eine Lösung zu finden, sondern, wie man in Straßburg gesagt hat, die Experten der Regierungen haben sich bemüht, für jede Lösung eine Schwierigkeit zu finden, um in den Schwierigkeiten Entschuldigungen für die Nichtdurchführung des Vorschlags zu finden.
Ich bin nicht überzeugt, Herr Bundeskanzler — da Sie vor mir sitzen —, daß unsere Refe-
renten in dieser Hinsicht sehr viel besser sind als die der anderen Mitgliedstaaten. Aber wir wollen darüber nicht streiten. Vielmehr möchte ich die Bitte an Sie richten: wenn unsere Experten dort hinreisen und sich an das Zerhacken der politischen Vorschläge begeben, versehen Sie sie mit der Direktive, mit der die Experten in Brüssel jetzt im Anschluß an die Messina-Konferenz versehen wurden, nämlich nicht Schwierigkeiten, sondern Lösungen zu finden und den politischen Gesichtspunkt über das kleine technische Detail zu stellen und über die kleinen egoistischen Interessen, die der Verwirklichung des größeren politischen Plans entgegenstehen. Versehen Sie sie mit der Instruktion, unsere Empfehlungen wenn möglich zur Gänze und für alle Mitgliedstaaten zur Annahme zu bringen, wenn das nicht geht, dann zumindest für einige, und zu Abschlüssen zu kommen, die man im Europarat Teilabkommen zwischen wenigstens einigen Mitgliedstaaten nennt.
Manchmal — das hat sich gezeigt — ist es auch möglich, das, was die Beratende Versammlung vorschlägt, einseitig zu verwirklichen, ohne daß man darauf wartet, daß auch andere das Vernünftige und das Gute tun. Bisher haben nur wir Parlamentarier nach dieser Methode verfahren und haben damit auf einigen Gebieten große Erfolge gehabt. Es wäre gut, wenn sich die Bundesregierung das zu Herzen nähme und wenn auch die hohen Beamten und Fachleute der Bundesregierung diese Aufgabe bekämen, zu prüfen, wo es möglich ist, ohne daß wesentliche nationale Belange geschädigt werden, durch einseitiges Vorangehen gerade die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß die anderen nachziehen und so ein multilaterales System zusammenkommt.
Aber nun zu uns selbst, zu unserer Beratenden Versammlung. Diese Versammlung ist ein einflußreiches, aber ein völlig machtloses Gebilde. Durch keine Statutenänderung, glaube ich, kann man dieser Versammlung die Macht verleihen, die sonst echten Parlamenten eigen ist. Wenn man das versuchte, dann würde es zur Verkleinerung des Kreises führen, dann würde der Europarat sich nicht mehr von der Türkei bis nach Island in seinen Mitgliedstaaten erstrecken. Deshalb, glaube ich, sind alle Versuche, über Statutenänderung mehr Macht zu bekommen, abwegig. Sie bringen Nachteile, die die Vorteile wieder aufwiegen würden.
Es bleibt also auch der Beratenden Versammlung nur, mit dem wenig wundertätigen Wasser der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zu operieren, und das höchste Erzeugnis, das wir in dieser Versammlung parlamentarisch zustande bringen, ist eine mit Zweidrittelmehrheit angenommene Empfehlung an den Ministerausschuß, bestimmte Dinge zu tun. Im Ministerausschuß wird nun diese Empfehlung in der Weise zerhackt, wie ich es schon dargetan habe, und wenn wir Glück haben, gibt es dann die nötige Einstimmigkeit, um die Empfehlung der Versammlung zu einer Empfehlung des Europarates an die Mitgliedregierungen zu machen.
Sie sehen, wie schwer es ist, dahin zu gelangen.
Aber das ist noch nicht alles. Keine der einzelnen Mitgliedregierungen ist — auch wenn sie im Europarat für den Vorschlag war — gezwungen, entsprechend der Empfehlung zu verfahren.
Deswegen, meine Damen und Herren, komme ich zu dem Schluß, daß die Beratende Versammlung ein machtloses Organ ist.
Aber ich sagte auch: sie ist ein einflußreiches Organ. Glücklicherweise steht dieser Einfluß der Machtlosigkeit gegenüber, und über den Einfluß, den sie hat, kann sie dann doch wieder auch politische Macht ausüben. 132 Abgeordnete kommen aus allen Parlamenten der 14, 15 Mitgliedstaaten, und sie kehren dorthin zurück. Wenn sie zu Hause die Macht ausüben, die sie dort in ihrem eigenen nationalen Parlament haben, dann können sie ihren machtlosen Straßburger Empfehlungen zu Hause Nachdruck verleihen, dann können sie ihre Regierung — wenn das nötig wäre — zwingen, das zu tun, was sie in Straßburg für europäisch notwendig gehalten haben.
Ich komme so zu dem Schluß, daß die Beratende Versammlung eben doch Macht hat, und zwar so viel Macht, wie ihre Mitglieder in ihren nationalen Parlamenten für die Straßburger Sache auszuüben bereit und in der Lage sind.
Deshalb haben wir in Straßburg den Vorschlag gemacht, die Empfehlungen und Entschließungen, die wir dort fassen, in die Sprache der Anträge, Gesetzentwürfe, Anfragen usw. unserer nationalen Parlamente zu übersetzen und das nationale Parlament und die nationale Regierung für die europäische Aufgabe einzusetzen. Das war der Sinn des Vorschlags, der zur Erstellung der heutigen Tagesordnung und zu dieser Debatte führte: über den Umweg des Parlaments doch europäische Leistungen in diesem sehr lockeren Rahmen des Europarates zustande zu bringen.
In dem Bündel, das wir Ihnen vorlegen, gibt es natürlich große und kleine Dinge; es gibt dabei Sofortmaßnahmen und es gibt solche, die ihre Wirkung erst in der Zukunft tun können.
Allen gemeinsam ist dieser Grundgedanke: wir wollen hier keine großen europäischen Beteuerungen von uns geben, wir wollen uns nicht mit Proklamationen begnügen, sondern wir wollen das hier und jetzt Mögliche, das nötigenfalls ohne Gegenseitigkeit Mögliche, tun, um Europa zu verändern, um Europa in Richtung auf mehr Einheit zu verändern, auf eine Einheit, die der Mehrung der Freiheit und des Wohlstandes der europäischen Völker dienen wird.