Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei Behandlung dieser
Frage möchte ich von den Personen, um die es sich handelt, und von der Fraktion, um die es sich handelt, vollständig absehen.
Ich will mich nur mit den Dingen beschäftigen, die allerdings vom Standpunkt unserer Verfassung und vom Standpunkt der Verfassungswirklichkeit und vom Standpunkt der Schaffung einer guten Tradition wichtig sind, so wichtig, daß ich bitten möchte, daß wir diese Dinge in voller Sachlichkeit und ohne irgendwelche Erregungen besprechen.
Art. 64 Abs. 1 unseres Grundgesetzes sagt:
Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen.
Einwandfreier, klarer Text!
Es steht weiter im Art. 65, daß der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt, daß aber innerhalb dieser Richtlinien jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung — das heißt doch auch: Verantwortung gegenüber dem Parlament — leitet. Wenn Meinungsverschiedenheiten im Kabinett bestehen, dann entscheidet — wiederum nach Art. 65 — die Bundesregierung, das heißt also hier: kollegial.
Meine Damen und Herren, wie sind diese Bestimmungen denn in das Grundgesetz hineingekommen? Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates werden sich entsinnen, daß mein Freund Dehler und ich diejenigen waren, welche vorgeschlagen haben, das System der präsidentiellen Demokratie, wie es in den Vereinigten Staaten von Nordamerika herrscht, zu unserem System zu machen,
d. h. ein System, in dem Staatsoberhaupt und Chef der Regierung die gleiche Person sind, mit der Konsequenz, daß das Parlament und seine Fraktionen jeder einzelne für sich von der Regierung unabhängig sind, weil diese Regierung ihre Grundlage in einem Wahlakt fand, der außerhalb des Parlaments lag.
Das wurde abgelehnt,
und mit der Ablehnung ist festgestellt, daß im Grundsätzlichen nunmehr das gegenteilige System herrscht, das heißt, nicht die präsidentielle Demokratie, sondern die parlamentarische Demokratie. Das ist nicht nur ein Schluß aus dem Gegenteil, e contrario, sondern das ist deshalb so, weil es damals allgemein festgestellt wurde.
Die Grundlagen dieser parlamentarischen Demokratie sind nun in zwei Punkten eingeschränkt. Die erste Einschränkung ist das konstruktive Mißtrauensvotum. Nach den Erfahrungen der Weimarer Demokratie wollte man nicht, daß eine aus extremen Flügeln gebildete Majorität die Regierung stürzen konnte, und hat deshalb das konstruktive Mißtrauensvotum geschaffen. Dessen logische Folge war, nun auch ein Mißtrauensvotum gegen einzelne Minister zu untersagen, um zu ver-
hindern, daß nach und nach jeder einzelne Minister durch vereinzelte Mißtrauensvoten aus dem Kabinett herausgeschossen werden könnte. Das ist der Werdegang. Das sind die zwei Ausnahmen von dem Prinzip des sonst üblichen parlamentarischen Systems, und derartige Ausnahmen sind nach alter Rechtsregel niemals ausdehnend zu interpretieren.
Daraus ergibt sich weiter folgendes. Wenn der Herr Bundeskanzler vorhin der Meinung Ausdruck gegeben hat, daß ein Minister — so habe ich ihn wenigstens verstanden — nicht zurücktreten könne, auch wenn er ernstlich wolle, sein Rücktritt vielmehr an die Zustimmung des Herrn Bundeskanzlers gebunden sei, — —
— Gut, einverstanden, sehr gern einverstanden! Dann haben wir also den Fall, daß jeder Minister kraft eigenen Entschlusses zurücktreten kann, daß ihr Rücktritt an die Zustimmung des Herrn Bundeskanzlers, wie eben bestätigt ist, nicht gebunden ist.
— Mich interessieren Personen und Parteien bei dieser Auseinandersetzung überhaupt nicht.
Nun steht im Grundgesetz, daß der Herr Bundeskanzler vom Bundestag gewählt wird, d. h. seine Autorität entspringt aus der Wahl durch den Bundestag. Aber es gibt in der politischen Praxis verschiedene Dinge, die nicht im Grundgesetz geregelt sind und deshalb doch vorhanden sind, und das Vorhandensein der einen Tatsache ist doch wohl nicht zu bestreiten: daß einer solchen Wahl im Bundestag Besprechungen vorhergehen. Wer bespricht sich? Die Fraktionen, die Abgeordeten. Da wird dann eine Grundlage geschaffen. Diese Grundlage ist — das gebe ich auch zu — keine justitiable Grundlage, auf der man vor dem Verfassungsgerichtshof klagen könnte,
wenn man etwa die bizarre Idee hätte, dort drei Jahre hindurch Prozesse über diese Dinge führen zu wollen. Trotzdem ist es eine verfassungswirkliche Tatsache, nicht Verfassungsrecht, aber eine der Verfassungswirklichkeit entsprechende Tatsache, und eine solche Koalitionsabsprache ist etwa nach den Regeln des Gesellschaftsrechts auszulegen,
zumindest aber nach zwei Grundprinzipien, die jeder Vereinbarung zwischen Menschen zugrunde liegen. Dieses eine Grundprinzip heißt: Treu und Glauben,
und das andere Grundprinzip ist die clausula rebus sic stantibus, d. h. wenn die Verhältnisse, die bei Abschluß des Abkommens vorgelegen haben, sich irgendwie ändern, dann ist im Einvernehmen aller Beteiligten eine neue Vereinbarung zu treffen.
Daraus folgt, daß, wenn ein solches Ereignis eintritt, wie es ein Rücktritt ist, man sich wieder zu besprechen hat. Ich bin glücklich, mich mit dem Herrn Bundeskanzler hier in vollständiger Übereinstimmung zu befinden. Denn er hat in seiner zweiten Rede zum Ausdruck gebracht, daß er
willens gewesen sei, über diesen Fall mit den Parlamentariern Rücksprache zu halten, aber daran durch die Parlamentsferien und später durch seine Krankheit gehindert worden sei. Ich darf in diesem Zusammenhang feststellen, daß unsere Fraktion am 5. November 1955 ein Schreiben an den Herrn Bundeskanzler gerichtet hat, in dem sie unter Hinweis darauf, daß diese Dinge nun geklärt werden müßten, und unter Hinweis auf gewisse Rechtsauffassungen, die ich teilweise hier zum Ausdruck gebracht habe, erklärt hat, daß darüber verhandelt werden müsse. Wir haben, obwohl der Herr Bundeskanzler, wie wir vorhin gehört haben, mit den Parlamentariern hatte reden wollen, nichts gehört.
Eine Koalitionsvereinbarung beruht auf den zwei Prinzipien, die ich nannte, und diese haben zur Konsequenz, daß man von Fall zu Fall in voller Aufrichtigkeit miteinander verhandelt und die Grundlinien der Politik, die gemeinsam verfolgt werden sollen, miteinander bespricht.
Wir sind sehr gern bereit, das auch weiterhin zu tun, und ich bin überzeugt, daß man, je konkreter man über einzelne Dinge spricht, um so sehr viel leichter zur Verständigung in diesen Angelegenheiten kommen kann.
— Herr Kollege Arndt, ich sprach vorhin von Treu und Glauben; ich möchte diesen Grundsatz auch jetzt noch nicht aufgeben.
Diese Koalitionsvereinbarungen und ihr Charakter als ein immerhin vertragsähnliches — ich will gar keine pathetischen Worte gebrauchen — Agreement haben noch dadurch ihre Unterstreichung gefunden, daß man Sonderminister geschaffen hat.
Wir von der FDP sind damals — ich darf das in die Erinnerung zurückrufen — bereit gewesen, uns bei der Schaffung dieses Kabinetts mit zwei Ministern zu begnügen, wenn in entsprechender Weise überall eine Reduktion vorgenommen würde.
Der Herr Bundeskanzler hat dann erklärt, daß er sich in dem vorgeschrittenen Stadium der Verhandlungen nicht mehr auf diese Grundlage stellen könne, so daß also unser Vorschlag nicht durchgeführt wurde. Aber damit traten dann die Sonderminister in Erscheinung. Bitte, ich sage nichts gegen die Sonderminister, weder daß sie überflüssig seien, noch daß sie etwa ihr Ansehen in ihren Fraktionen verloren hätten!
Für uns und unseren Sonderminister gilt das nicht, sondern ich sage nur, daß die Schaffung dieser Sonderministerien gerade die enge Bindung unterstreicht, die zwischen der Regierung und den Fraktionen der Koalition hatte geschaffen und aufrechterhalten werden sollen.
— Bei wem?
Wir sprachen vorhin vom Rücktritt. Wir sind jetzt im Laufe dieser Besprechung darin übereingekommen, daß jeder Minister zurücktreten kann, wie er will.
— Natürlich auch, wenn er will. Es gibt da verschiedene Rücktrittsgründe und Rücktrittsmöglichkeiten. Der eine Grund ist z. B. der, daß sich im Geschäftsbereich des Ministeriums irgend etwas tut, wozu der Minister nichts kann. Es ist nicht sein Verschulden, aber es liegt in seinem Verantwortungsbereich. Im alten Preußen ging er dann, und ich glaube, wenn das geschähe, würde jeder in der Öffentlichkeit sagen: Na, er ist nicht schuld daran; es hätte nicht passieren dürfen, aber er ist wenigstens ein Kerl.
Der andere Rücktrittsfall ist der, daß ein Minister mit der allgemeinen Politik der Regierung nicht mehr völlig einverstanden ist — das soll auch manchmal vorkommen —; wenn er dann mit seiner Ansicht im Volk Anklang findet und seinen Rücktritt erklärt, dann heißt es vielleicht: Endlich einmal ein Mann!
Wenn er mit seiner Partei zerfallen ist — das kann auch mal vorkommen —, wenn er sich im Gegensatz zu seiner Partei befindet und dann zurücktritt, weil er das Vertrauen derer, die ihn in die Stellung gebracht haben, nicht mehr hat, wird die Öffentlichkeit, falls sie für seine Motive Verständnis hat, sagen können: Na, gut, er klebt wenigstens nicht an seinem Amt!
Schließlich gibt es eine vierte Rücktrittsmöglichkeit — ich hatte es hier schon auf meinem Zettel notiert, aber, Herr Kollege Schoettle, ich möchte Ihnen das Autorenrecht zugestehen —, das ist das Rücktrittsrecht mit einem bedeutungsvollen Augenzwinkern, mit dem Augenzwinkern, daß man sagt: Ich überlasse das Weitere Ihnen!
Das Volk, meine Damen und Herren, hat für diese verschiedenen Methoden und für die Motive, die dabei mitsprechen, sowie für die Praxis, die sich da einbürgern will, ein sehr feines Gefühl. Unterschätzen Sie das nicht.
Der Herr Bundeskanzler hat, wenn ich recht verstanden habe — ich bitte, mich zu korrigieren —, vorhin auf die Eidesformel verwiesen, die jeder Minister vor dem Präsidenten des Bundestages ausspricht. Wir ehren das, und wir wissen, daß dieser Appell an die darin enthaltenen Pflichten von den Herren durchaus gewahrt wird. Aber die Einhaltung dieser Pflichten schließt doch eines nicht aus, was bei solchen verschiedenen Rücktrittsmöglichkeiten auch zu beachten ist, nämlich Takt.