Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme durchaus dem Herrn Bundeskanzler zu,
wenn er sagt — ich darf fortfahren —, daß die verfassungsrechtliche Frage feststeht. Aber da sie für Herrn Kollegen Dr. Gille nicht festzustehen scheint, bin ich zu meinem eigenen Bedauern gezwungen, etwas weiter auszuholen, als ich mir ursprünglich vorgenommen hatte.
Dabei darf ich eines vorausschicken, Herr Kollege Gille und auch Herr Kollege Engell. Sie haben uns hier eine Vorlesung über das Kernstück der parlamentarischen Demokratie gehalten, wie Herr Engell sich ausdrückte. Ich habe nicht alles verstanden. Das war sehr bedauerlich, meine Damen und Herren. Am Lautsprecher kann es nicht gelegen haben; denn Herrn Gille habe ich sehr gut verstanden. Sie haben uns weiter eine Vorlesung darüber gehalten, was ein echt demokratischer Stil, ein parlamentarischer Stil sei. Meine Damen und Herren, ich hoffe, mit Ihnen davon auszugehen, daß die Grundregel unseres demokratischen Staatswesens das Grundgesetz ist — darüber besteht doch kein Zweifel — und nicht irgendeine sonstige Ordnung, die vielleicht in früheren Jahren, in den Jahren 1933/1934 in einem anderen deutschen Land gegolten haben mag, die ich nicht kenne.
Meine Damen und Herren, manche Bestimmungen des Grundgesetzes sind nicht so klar, wie es wünschenswert wäre. Sie geben oft Anlaß zu Auslegungsstreitigkeiten und -schwierigkeiten, die dann das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. Aber keine Bestimmungen des Grundgesetzes sind so klar, so exakt und so eindeutig formuliert worden wie die Bestimmungen über die Konstruktion der Bundesregierung in diesem Regierungssystem. Da sind durchaus keine Zweifel möglich. Wer glaubt, sie seien möglich, hat meines Erachtens die Protokolle des Parlamentarischen Rates, seines Hauptausschusses, insbesondere aber des Ausschusses, der sich mit der Organisation der Bundesrepublik befaßte, nicht gelesen. Dieses Regierungssystem ist entscheidend charakterisiert durch den Art. 67 des Grundgesetzes, der die neue Rechtsfigur des konstruktiven Mißtrauensvotums eingeführt hat. Diese Vorschrift und die mit ihr zusammenhängenden Vorschriften des Art. 65, des hier in Rede stehenden Art. 64 und des Art. 68 geben ein ganz klares, konsequent durchkonstruiertes und Auslegungszweifel ausschließendes System. Es ist, gerade im Gegensatz zu den mancherorts unklar gefaßten Vorschriften des Grundgesetzes, festzuhalten, daß hier der Grundgesetzgeber seinen politischen Willen exakt und eindeutig erklärt hat und daß darüber hinaus die Beratungsmaterialien, die in einer großen Fülle vorliegen, eine deutliche Interpretation der einschlägigen Verfassungsbestimmungen und des gesetzgeberischen Willens gestatten.
Zur verfassungsrechtlichen Seite — es ist durchaus nicht nur die verfassungsrechtliche Seite, aber Herr Kollege Gille hat gerade diese Frage, von der er selbst sagte, daß sie nicht erstrangig sei, sehr ausführlich behandelt, und ich glaube, daß diese seine Meinung hier nicht unwidersprochen bleiben kann — hat der Herr Bundeskanzler zutreffend ausgeführt, daß die beiden Herren Bundesminister grundsätzlich nicht verpflichtet gewesen seien, ihm ihre Ministerämter zur Verfügung zu stellen.
Deshalb hat der Herr Bundeskanzler auch mit Recht hervorgehoben, daß dieses Zurverfügungstellen einem echten Gefühl für politische Imponderabilien entsprochen habe.
Dieses Zurverfügungstellen ist aber verfassungsrechtlich keineswegs ein Entlassungsverlangen. Hier liegt in der Anfrage eine Vermengung der Begriffe vor, denn im Eingang der Großen Anfrage spricht man von dem Inhalt des Briefes vom 11. Juli 1955 als von einem Zurverfügungstellen, aber in den Fragen 1, 2 und 3 spricht man von Entlassungsgesuchen, die in Wirklichkeit nicht vorliegen. Ein Entlassungsgesuch, ein Rücktrittangebot liegt nämlich nicht vor. Infolgedessen brauche ich mich mit dieser Frage auch nicht in erster Linie zu befassen.
— Herr Schoettle, ich bin nicht dabeigewesen und weiß nicht, ob dabei mit den Augen gezwinkert worden ist.
Meine Damen und Herren, in allen übrigen Fällen entscheidet der Bundeskanzler, d. h. in den Fällen, in denen, wie der Herr Bundeskanzler ausgeführt hat, nicht nach den Vorschriften des Ministergesetzes von 1953 ein Rücktrittsverlangen vorliegt, dem entsprochen werden muß, allein, in eigener Verantwortung und nach eigenem Ermessen, ob er dem Herrn Bundespräsidenten die Entlassung eines Bundesministers vorschlagen will oder nicht. Das folgt, wie wir unterdessen alle wissen, aus Art. 64 des Grundgesetzes. Diese Bestimmung gestattet aber nach der Entstehungsgeschichte nicht die Konsequenzen, die Sie, Herr Dr. Gille, aus ihr gezogen haben, nämlich daß der Bundeskanzler dann verpflichtet sei, die Entlassung eines Bundesministers vorzuschlagen wenn dessen parteipolitische Bindung und die Zugehörigkeit zu einer Fraktion des Parlaments aus irgendeinem Grunde gelöst wurde.
Sie haben eben gesagt, Herr Dr. Gille, daran könne der Verfassungsgesetzgeber gar nicht gedacht haben. Ich darf Ihnen aus den Materialien eine Stelle vorlesen, aus der sich ergibt, daß er gerade an diesen Fall gedacht hat. Sehr aufschlußreich ist die Streichung von zwei Absätzen, die im Organisationsausschuß des Parlamentarischen Rates vorgenommen worden ist, ehe man zu dieser Formulierung kam, die mit voller Absicht gewählt worden ist. Der eine der beiden Absätze, die das wollten, was Sie heute wollen, die aber mit Absicht gestrichen worden sind, lautete:
Die Bundesminister bedürfen zum Antritt
ihres Amtes des Vertrauens des Bundestages.
Der Fall liegt nicht vor; der Satz ist gestrichen worden. Ich sage das mit Absicht deshalb, weil ich in diesen Tagen Vorstellungen höre, daß man irgendwie einen Bundesminister in der Zukunft zum Antritt seines Amtes von einer Zustimmung des Parlaments abhängig machen möchte. Diese Vorschrift ist im Entwurf mit Absicht gestrichen worden, weil der Grundgesetzgeber das nicht
wollte. Es ist aber etwas Weiteres gestrichen worden, Herr Gille, nämlich der Absatz, der lautete:
Auf Ersuchen des Bundestages kann der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten die Entlassung vorschlagen.
Nicht einmal das wollte man; auch diese Vorschrift ist gestrichen worden.
Als Begründung für diese Streichung wird in dem Protokoll des Organisationsausschusses des Parlamentarischen Rates über die Sitzung vom 16. Dezember 1948 folgendes ausgeführt:
Dazu hat der Redaktionsausschuß vorgeschlagen, den Abs. 3 zu streichen.
Das war der Absatz, den ich eben zuletzt vorgelesen habe.
Gegen die Streichung des Abs. 3 hätte ich
— ich sage gleich, wer das gesagt hat —
nicht die geringsten Bedenken; denn es . steht ja vorher in Abs. 1:
— das ist der heutige Art. 64 —
Der Bundespräsident ernennt und entläßt die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers.
Das ist, wie ich schon sagte, unser heutiger Art. 64.
Daher ist der Abs. 3, wie der Redaktionsausschuß meines Erachtens mit Recht ausführt, überflüssig. Daß das auch ohne den Antrag des betreffenden Ministers gegen seinen Willen erfolgen kann, ist darin einbegriffen. Der Streichung des Abs. 3 kann also ohne weiteres zugestimmt werden.
Dann kommt der Vorschlag
— heißt es im Protokoll weiter — auf Streichung des Abs. 2, der lautet:
Die Bundesminister bedürfen zum Antritt
ihres Amtes des Vertrauens des Bundestages.
Das ist
— fährt der Redner im Protokoll fort —
die wichtige Frage des Vertrauens- und Mißtrauensvotums gegen einzelne Minister. Das Mißtrauensvotum gegen einzelne Minister hatten wir schon früher gestrichen.
Im Fall des Minderheitskanzlers
— heißt es weiter —
kann jedoch dann eine heterogene Mehrheit tatsächlich die Bildung einer Regierung unmöglich machen, und sie kann ferner, wenn die ursprüngliche Koalition, die die Regierung trägt, auseinandergefallen ist und der vorherige Mehrheitskanzler in einen Minderheitskanzler verwandelt worden ist, bei Rücktritt, Tod oder sonstiger Auswechslung den Ersatz eines Ministers unmöglich machen.
Das ist so ungefähr Ihr Fall, vielleicht noch etwas über Ihre Vorstellung hinausgehend.
Ich halte
— fährt der Redner fort — den Einwand für berechtigt
- der vom Redaktionsausschuß damals gegen
diese Absätze gemacht worden war —
und möchte das Risiko laufen, diesen Abs. 2
zu streichen. Es bleibt dabei nur ein Nachteil,
daß nämlich ein persönliches Vertrauensverhältnis zwischen dem Minister und dem Bundestag auf diese Art und Weise weggestrichen und daß jeder Minister irgendwie zu einer Art
— ich bitte, jetzt nicht zu erschrecken, wenn ich diese Stelle aus dem Protokoll vorlese —
Untergebener des Bundeskanzler wird, an dessen Glück und Unglück er dann irgendwie gebunden ist.
Er kann sich nicht auf ein selbständiges Vertrauensvotum
— Vertrauensvotum des Parlaments! —
mehr berufen oder seine Position darauf gründen. Trotzdem halte ich diesen Nachteil für geringer als die Folgen, . . . daß wir im Falle eines Minderheitskanzlers auf diese Art und Weise in die Krise kommen, die wir sonst so kunstvoll umschiffen wollen. Da uns in erster Linie daran liegt, eine demokratische, stabile und arbeitsfähige Regierung hinzustellen, halte ich die Einwendungen des Redaktionsausschusses für begründet.
Meine Damen und Herren, der so im Parlamentarischen Rat sprach, war nicht etwa das Mitglied des Parlamentarischen Rats und sein Präsident Dr. Konrad Adenauer, sondern es war der damalige Justizminister, glaube ich, des Landes Schleswig-Holstein, Herr Dr. Katz, von dem Sie alle, wissen, daß er heute der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, des höchsten deutschen Gerichtes ist.
Wir können uns in meiner Fraktion diesen seinen sehr zutreffenden Ausführungen nur anschließen.
Aber, Herr Gille, man kann aus einer Verfassung nicht das herauslesen, was einem paßt,
und das, was einem nicht paßt, beiseite lassen.
Ein anderer Abgeordneter hat folgendes ausgeführt:
Eine parlamentarische Verantwortlichkeit des einzelnen Ministers ist danach nicht vorstellbar.
Herr Gille, der so im Parlamentarischen Rat redete und mit Recht so redete, war der von uns allen hochgeschätzte Herr Kollege Dr. Dehler.