Rede von
Dr.
Ernst
Schellenberg
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat in der Regierungserklärung auch Zahlen über Sozialausgaben angeführt und erklärt, daß sich die Sozialausgaben verdoppelt hätten. Der Bundeswirtschaftsminister hat aber nicht mitgeteilt, daß sich der Anteil des Bundes an den Sozialaufwendungen vom Jahre 1950 bis 1955 von 37 % auf 26%
der Bundesausgaben verringert hat. Die steigenden Sozialaufwendungen sind vor allen Dingen durch die steigenden Beitragseinnahmen bedingt. Es erweckt einen falschen Eindruck, wenn diese Mittel aus eigenem Arbeitseinkommen der Versicherten ohne weitere Erklärung zu den Sozialaufwendungen hinzugerechnet werden. In dieser Hinsicht ist eine klarere Abgrenzung zum Verständnis der Größenordnung notwendig.
Noch etwas anderes! In der Regierungerklärung hat der Herr Bundeswirtschaftsminister wörtlich folgendes erklärt:
Millionen von Rentnern insbesondere werden von der Preissteigerung in ihrem sozialen Sein auf das härteste betroffen. Diese Menschen dürfen nicht verraten und betrogen werden.
Er kündigte dann weiter an: Das konjunkturpolitische Programm geht davon aus, daß besondere Anstrengungen unternommen werden müssen, den Rentnern das Gefühl und die Gewißheit einer immer besseren Existenzsicherung zu geben. Dem können wir Sozialdemokraten nur zustimmen, wobei es uns weniger auf das Gefühl als auf die Gewißheit ankommt.
Aber, meine Damen und Herren, sozialpolitisch und wirtschaftspolitisch ist entscheidend, daß die Regierungserklärung in den elf Programmpunkten keine einzige Maßnahme zur Anpassung der Renten an das gestiegene Sozialprodukt vorschlägt.
Aus den wirtschaftspolitischen und konjunkturpolitischen Feststellungen der Bundesregierung werden also für die sozial Schwächsten keine entsprechenden Folgerungen gezogen. Insofern enthält das Regierungsprogramm für diese Bevölkerungskreise, für die Rentner, nur allgemeine Worte und kündigt keine Taten für sie an.
Mit den Erklärungen des Herrn Bundesarbeitsministers über den steigenden Zuwachs des Vermögens der Sozialversicherung und seine Verwendung für Rentenleistungen werden wir uns bei der Erörterung der Sozialreform näher auseinanderzusetzen haben.
Aber ich muß ein Wort zu dem sagen, was Herr Dr. Hellwig gestern hier zur Erläuterung des Standpunktes der CDU mitgeteilt hat. Er hat zugegeben, daß die Renten bisher hinter dem allgemeinen Lohn- und Preisgefüge zurückgeblieben sind und daß auch nach seiner Ansicht Anpassungsmaßnahmen erforderlich sind. Die Sozialdemokratische Partei begrüßt es, daß die CDU sich, wenn auch nach einem gewissen Zögern, wohl unter dem Eindruck des sozialdemokratischen Antrags auf Gewährung von Sonderzulagen, auch zu einem Antrag auf Verbesserung der Rentenleistungen entschlossen hat.
An dem CDU-Entwurf begrüßen wir ferner, daß er sich in bezug auf die Gesamthöhe der Aufwendungen für die Rentenzulagen etwa auf der Gesamthöhe der in dem SPD-Antrag geforderten Aufwendungen hält. Insofern wird wohl diesmal, so hoffen wir, der sozialdemokratische Antrag nicht auf den stereotypen Einwand der Regierungsparteien stoßen, die für die Rentner notwendigen Leistungsverbesserungen seien finanziell nicht durchführbar. Deswegen hat wohl auch der Herr Bundesfinanzminister nicht konkret hierzu Stellung genommen, um sich nicht von dem Antrag seiner eigenen Fraktion abzugrenzen.
Aber in entscheidenden Punkten ist der CDU-Antrag — und auch der BHE-Antrag — sozialpolitisch und wirtschaftspolitisch nicht sinnvoll.
Erste Frage: Wer soll eine Erhöhung der Renten zur Anpassung der Renten an das gestiegene Sozialprodukt erhalten? Nach dem CDU- und BHE-
Entwurf werden auch in diesem Jahr wieder eine Million Waisenkinder von jeder Erhöhung ausgeschlossen.
Das ist sozialpolitisch, wirtschaftspolitisch und auch moralisch nicht vertretbar.
Nach dem CDU- und BHE-Entwurf werden ferner alle jüngeren Menschen, die wegen eines schweren gesundheitlichen Schadens, beispielsweise Tuberkulose, vorzeitig invalide werden, dann ausgeschlossen, wenn sie keine Beiträge 1938 und früher geleistet haben. Auch das ist nach sozialdemokratischer Auffassung sozialpolitisch unbefriedigend. Deshalb fordern die Sozialdemokraten, daß alle Rentner in den Genuß einer Rentenerhöhung kommen; denn alle Rentner werden von den Auswirkungen der Wirtschaftslage betroffen.
Zweite Frage: Wie hoch soll die Zulage zur Anpassung der Renten an das veränderte Sozialprodukt sein? CDU und BHE fordern Verdoppelung der Rentenmehrbeträge. Was das wirtschaftlich für den einzelnen ausmacht, das muß erst in monatelanger Arbeit ausgerechnet werden.
— Das werden wir im einzelnen besprechen, wenn wir zur Beratung kommen. Der Mehrbetrag ist für die Rentner außerordentlich unterschiedlich. Aber bedeutsam ist, daß die Menschen, die gleiche Beiträge geleistet haben, die heute die gleiche Rente erhalten, die im gleichen Alter stehen, nach dem Antrag nicht die gleiche Zulage erhalten werden. Ein praktisches Beispiel: Zwei Rentner von 65 Jahren, jeder erhält heute eine Rente von 120 DM. Der eine wird unter den gleichen Versicherungsvoraussetzungen bei Ihnen — Sie können das Beispiel nachrechnen — 18 DM, der andere nur 13 DM erhalten.
Das ist sozialpolitisch um so ungerechtfertigter, als Sie ja schon beim ersten Rentenmehrbetragsgesetz den Ausgleich für die unterschiedlichen Steigerungsbeträge vorgenommen haben. Oder ein weiteres Beispiel: Nehmen Sie zwei Witwen im gleichen Alter. Die eine Witwe erhält heute eine Rente von 45 DM. Sie wird eine Zulage von 1,— DM, d. h. 2 % erhalten. Die Witwe, die 100 DM Rente hat, wird nur deshalb, weil ihr Mann ein anderes Lebensalter hatte, eine Zulage von 30 DM, d. h. 30 % erhalten. Die eine Witwe 2 % Erhöhung, die andere 30 % Erhöhung. Das ist weder versicherungstechnisch noch wirtschaftlich noch sozialpolitisch gerechtfertigt.
Deshalb ist der Gesetzentwurf über die Verdoppelung der Rentenmehrbeträge sozialpolitisch und auch wirtschaftspolitisch nicht sinnvoll.
Die sozialdemokratische Fraktion hat beantragt, gleichhohe Zulagen dadurch zu gewähren, daß die Renten im allgemeinen um 12 1/2 % für alle erhöht werden.
- Für alle erhöht werden. Das ist eine Angleichung der Rente an das gestiegene Sozialprodukt,
denn das Sozialprodukt hat sich seit dem vergangenen Jahre in etwa gleichem Ausmaß erhöht.
Meine Damen und Herren! Herr Dr. Hellwig hat ein bedeutsames Wort gesprochen. Er hat gesagt, daß durch die Zulagen die Sozialreform nicht behindert werden soll. Die Sozialdemokraten sind der gleichen Auffassung. Wir sind aber der Meinung, daß die Umrechnung von 5 Millionen Renten und eine so wesentliche Veränderung des Rentengefüges, wie sie der CDU-Antrag bewirkt, praktisch eine Behinderung der Maßnahmen der Sozialreform bedeuten muß, ganz abgesehen davon, daß Sie nach Ihrem eigenen Antrag mit einer Umrechnung von sechs Monaten — wegen des Vorschusses von sechs Monaten — rechnen.
Deshalb beantragt die sozialdemokratische Fraktion, daß bis zur Sozialreform alle vier Monate eine halbe Monatsrente gewährt wird. Das ist einfach, für jedermann sofort feststellbar und hat in bezug auf die Sozialreform auch noch den Sinn, daß die Regierung und der Gesetzgeber alle vier Monate bei Fälligkeit der Sonderzulage daran erinnert werden, die Sozialreform endlich durchzuführen.
Und noch etwas anderes. Nach dem CDU-Entwurf soll die Rentenzulage wiederum auf andere Sozialleistungen angerechnet werden.
Diese Anrechnung ist auch unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten sinnlos. Sie verstärkt nur die Verwaltungsarbeit. Die Hoffnungen, die in den Menschen, die von einer Rentenzulage hören, erweckt werden, werden durch eine Anrechnung in vielen Fällen wiederum enttäuscht.
Deshalb sind wir der Auffassung, daß es nicht sinnvoll ist, eine Anrechnung vorzunehmen. Die sozialdemokratische Fraktion hat beantragt, jede Anrechnung der Zulagen auf sonstige Sozialleistungen abzulehnen.
Meine Damen und Herren, damit soll es für heute genug sein, weil wir jetzt keine grundlegende sozialpolitische Debatte haben
und keine Debatte über die Sozialreform führen.
Die werden wir bei ,anderer Gelegenheit führen. Aber, meine Damen und Herren, die Alten, Witwen und Waisen nehmen nicht in der gleichen
Weise wie die Arbeiter, Angestellten und Beamten und wie die in der freien Wirtschaft Tätigen an der Entwicklung des Sozialprodukts teil. Für die Lebensrechte dieser Menschen zu sorgen ist die besondere Verpflichtung dieses Hauses.
Deshalb: sorgen Sie dafür, daß alle Rentner möglichst schnell und in möglichst unkomplizierter Weise durch Gewährung laufender Zulagen einen sozial gerechteren Anteil am gestiegenen Sozialprodukt erhalten!