Rede von
Hans
Hermsdorf
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Abgeordneter Stücklen, meinen Sie nicht auch, daß der Untergang der Weimarer Demokratie nicht eine wahltechnische Frage, sondern auch eine Folge der Anfälligkeit des Bürgertums gewesen ist?
Stücklen , Antragsteller: Herr Kollege, da ist etwas dran, und ich will Ihnen sagen, was an dieser Frage dran ist, die Sie gestellt haben. Das Wahlsystem hat es ja ermöglicht, daß jede einzelne Interessentengruppe mit Erfolgsaussichten bei den nächsten Wahlen als Partei aufgetreten ist.
— Kommt später, Herr Dr. Menzel! Ich habe die Deutschnationalen bisher nicht erwähnt; ich habe
bisher immer nur von ,den tragenden Parteien der Weimarer Koalition gesprochen. Ich wollte sagen, daß gerade das Verhältniswahlsystem ehrgeizigen Politikern und reinen Interessentenvertretern die Möglichkeit gab, mit Erfolg in den nächsten Wahlkampf zu gehen. Denn einzelne Mandate wird man bei einem Verhältniswahlrecht ohne Sperrklausel immer erzielen. Das hat doch geradezu den Anreiz gegeben, daß die unzufriedenen Kräfte, ganz gleich, welcher Richtung, sich zu jenen Parteien entwickelten. Wir alle kennen jene bitteren Erscheinungen, die wir gehabt haben, mit Miittelstandspartei, mit Landbundpartei usw. usw. Ich habe Ihnen ja auch in Zahlen dargelegt, wohin das geführt hat.
Ich möchte selbstverständlich korrekt sein und nicht sagen, allein das Verhältniswahlsystem habe den Zusammenbruch der Weimarer Republik gebracht. Wir wissen selbstverständlich, daß eine ganze Reihe von anderen Gegebenheiten sich negativ für die Durchführung einer Demokratie ausgewirkt haben. Ich erinnere nur an die falsche Behandlung der deutschen Staatsmänner durch die Siegermächte — sie war psychologisch falsch; was man ihnen verweigert hat, hat man später Hitler gegeben —, ich erinnere an die wirtschaftlichen Erschütterungen.
Ich glaube, ich kann grundsätzlich feststellen, daß es eine Tragik in unserer deutschen Demokratie ist, daß sie immer dann antreten und die Regierung übernehmen mußte, wenn irgendein anderes System nach einem verlorenen Kriege abtreten mußte.
Aber dann muß man auch die Maßnahmen einbauen, die die größtmögliche Sicherheit geben, daß
diese Demokratie auch tatsächlich erhalten bleibt.
Wenn wir schon zu der Feststellung kommen, daß die Geschichte die Lehrmeisterin der Völker ist, dann sollten wir auch aus den letzten dreißig Jahren lernen und unsere Konsequenzen ziehen. Die Konsequenz, die wir ziehen wollen, ist, daß wir auf der einen Seite unser Grundgesetz nun so stabil gestaltet wissen wollen, daß von d e r Seite aus keine Gefahr mehr droht, und daß wir jetzt auf der anderen Seite eine der wesentlichen Säulen unserer Demokratie, das Wahlgesetz, so ausbauen und so ausgestalten wollen, daß auch von dieser Seite aus wenigstens keine Gefahr mehr für unsere Demokratie und unseren Staat besteht.
Wenn wir von diesen staatspolitischen Erwägungen ausgehen — und nur solche dürfen zugrunde gelegt werden —, dann kommen meine politischen Freunde und ich zu dem Ergebnis, daß das relative Mehrheitswahlrecht die größtmögliche Sicherheit dafür gibt, daß sich nicht das wiederholt, was ich eben skizziert habe.
Welche Anforderungen stellten wir an ein neues Wahlgesetz?
Die Verhinderung eines Vielparteienstaates soll ein erstrebenswertes Ziel sein. Die relative Mehrheitswahl zwingt zur Konzentration der Wähler und fordert vom Wähler eine echte politische Entscheidung. Da nur ein Kandidat in einem Wahlkreis zum Zuge kommt, wird der Wähler seine Stimme auf Grund seiner gesamtpolitischen Konzeption abgeben, und damit treten enge Gruppeninteressen in den Hintergrund.
Das beinhaltet automatisch die Begrenzung der Zahl von Parteien. — Herr Mocker, wenn Sie mich öfter ansprechen, dann nehme ich an, daß Sie wünschen, daß ich darauf eingehe. Das tue ich sehr
gern.
Ich würde dann als Vertreter einer kleineren Partei — ich sage nicht: einer Splitterpartei, sondern: einer kleineren Partei — nicht in dem Augenblick protestieren, wenn wir davon sprechen, daß es für uns ein staatspolitisches Anliegen ist, einen Vielparteienstaat zu verhindern.
Das sollten Sie also einmal ganz kollegial zur Kenntnis nehmen.
Die Verringerung der Zahl der Parteien und die in der Regel geschaffenen Mehrheitsverhältnisse erleichtern die Regierungsbildung, und die unerfreulichen Regierungsbildungen, von denen Herr Kollege Kühn in der Haushaltsdebatte gesprochen hat, gehören dann hoffentlich und Gott sei Dank der Vergangenheit und bald auch der Vergessenheit an. Da nehme ich gar keine aus, weder die von oben noch die von unten.
Dadurch, daß eine klare Regierungsmehrheit auf der einen Seite und eine klare Opposition auf der andern Seite geschaffen ist, eine Opposition, die die reelle Chance hat — und das müßte doch eigentlich von den alten Sozialdemokraten klar erkannt werden —, verantwortlich an die Regierung zu kommen, ist diese auch während der Oppositionszeit zu größerer und konstruktiverer Verantwortung gezwungen. Denn das, was sie heute als Opposition von der Regierung verlangt, muß sie bereit und in der Lage sein, als Regierung zu erfüllen. Diese Tatsache allein zwingt die Opposition schon zur Mäßigung und entgiftet die Atmosphäre zwischen Regierung und Opposition.
Bei diesem System bekommt ja erst die in der Demokratie notwendige Wechselbeziehung von Regierung und Opposition ihren eigentlichen und tieferen Sinn. Das Verhältniswahlsystem macht es der Opposition zu leicht, zu kritisieren und zu fordern. Denn sie weiß ja, daß, selbst wenn sie nach der nächsten Wahl an die Regierung kommt, eine Koalition notwendig wird; und damit ist ein Teil der Verantwortung aufgehoben.
Man hat dann immer die Ausweichmöglichkeit, zu sagen, daß der Koalitionspartner mit der Erfüllung der einen oder anderen Forderung nicht einverstanden sei und daß man allein zu schwach sei, sie durchzusetzen. Schaffen wir daher klare Verhältnisse in Regierung und Opposition!
Da die Opposition bei den nächsten Wahlen die Mehrheit anstrebt, diese aber nur erreicht, wenn sie in der Mehrzahl der Wahlkreise zum Zuge kommt, wird sie gezwungen, sich nicht nur an eine bestimmte soziologische oder konfessionelle Schicht zu wenden, sondern sie muß sich bemühen, in den
anderen Bereich hineinzuwirken. Damit ist ein Strukturwandel, eine Auflockerung, allzu dogmatischer Fronten wahrscheinlich, was gerade bei den deutschen Parteien sehr zu begrüßen wäre.
Eines der wesentlichsten Merkmale des Mehrheitswahlrechts ist die Hervorhebung der Persönlichkeit. Die Mehrheitswahl, die ja keine Ersatzlisten keimt, ermöglicht — jetzt würde ich gut aufpassen, jetzt kommt etwas, dem Sie eigentlich begeistert zustimmen müßten — jeweils den Parteien, den Wählern nur eine Person in einem Wahlkreis zu präsentieren. Damit fällt die Verherrlichung eines oder einiger Parteiführer für Landes- bzw. Bundeslisten aus.
Das hebt aber gleichzeitig die Bedeutung der Persönlichkeit im Wahlkreis, also des Wahlkreiskandidaten. — Ich vermisse Ihren Beifall. Nicht angekommen.
— Ich glaube, auch Herr Schneider hätte mir Beifall gegeben. — Er kann es jetzt nicht. — Entsprechend dieser Tatsache wird auch die Auswahl des Kandidaten mit aller Sorgfalt vollzogen, und unter Berücksichtigung der Resonanz dieser Persönlichkeit bei den Wählern des Wahlkreises,
da der Kandidat von den Parteimitgliedern bzw. -delegierten des Wahlkreises nominiert werden muß, wird zwangsweise der Einfluß der Parteizentrale zugunsten der persönlichkeitsnahen Entscheidung zurückgedrängt.
Dadurch wird der gewählte Abgeordnete gegenüber seiner Parteileitung unabhängiger, umgekehrt aber stärker seinem Wahlkreis verbunden sein.
— Wenn Sie wollen, ist es nicht eine Revolution, aber in Wahlrechtsfragen eine Evolution, und dahin müßten wir alle streben.
Der Abgeordnete in einem Wahlkreis wird mit der Gesamtheit der Bevölkerung einen engeren Kontakt suchen und herstellen. Durch diese Verbundenheit wird auch dem Wähler die Institution des Parlaments, des Parlamentariers, der Demokratie schlechthin näher gebracht, was gerade auch für die deutschen Verhältnisse notwendig ist. Aus diesem Grunde sollen die Wahlkreise auch verkleinert werden, damit eine möglichst enge Verbindung des Abgeordneten zu den Wählern gewährleistet ist.
Damit habe ich einige wesentliche Merkmale des Mehrheitswahlrechts herausgestellt. Ich darf betonen, daß diese Gesichtspunkte keinen parteipolitischen Überlegungen entsprungen sind, sondern auf Grund der Erfahrungen für Deutschland eine staatspolitische Notwendigkeit sind.
— Es kommt noch deutlicher, wo Sie dazwischenrufen können.
— Das sage ich aus Bayern.
Neben den staatspolitischen Überlegungen sollte man aber auch die Vorstellungen des einfachen Wählers so weit als möglich berücksichtigen. Was erwartet nun der Wähler von einem Wahlgesetz? Das Wahlgesetz soll populär sein, es muß eine ausreichende Resonanz finden, und es darf vor allem nicht den bitteren Beigeschmack haben, als sollte mit ihm der Bestand einer Partei, einer Koalition oder einer Regierung gesichert werden.
Von diesem Verdacht ist die CDU/CSU frei.
— Ja, meine Herren von der Sozialdemokratie, wenn ich Ihnen heute die Sünden vorhielte, die Sie in den Wahlrechtsfragen schon begangen haben, und ich Ihr Beichtvater wäre,
so würde ich sagen: „Geh' heim und bessre dich!" — Von diesem Verdacht ist die CDU/CSU frei; denn sie hat sich bereits von der Gründung an in ihrem Programm, im Parlamentarischen Rat, im 1. Deutschen Bundestag und heute wieder für das relative Mehrheitswahlrecht eingesetzt.
Es wäre zu wünschen, daß die 29 SPD-Abgeordneten und die 9 FDP-Abgeordneten, die unterschriftlich erklärt haben, sich für das Mehrheitswahlrecht einzusetzen,
und die zu einem großen Teil noch Mitglieder dieses Hauses sind,
ebenso konsequent zu ihren damaligen staatspolitischen Erkenntnissen ständen, wie wir das tun.
Das Wahlgesetz muß auch für jeden vollinhaltlich verständlich sein. Der Wähler muß bei der Stimmabgabe wissen, was mit seiner Stimme geschieht, wie eine Stimme gewertet wird. Er soll wissen, daß, wenn er den Kandidaten A wählt, seine Stimme nur für diesen Kandidaten zählt und nicht etwa, so wie beim personalisierten Verhältniswahlsystem, plötzlich einer weitgehend anonymen Ergänzungsliste zugute kommt, weil der Kandidat A nicht zum Zuge kam. So war es doch beim 49er Wahlgesetz, und so sieht es auch der SPD-Entwurf heute wieder vor. Diese Methode ist, gelinde gesagt, eine Täuschung des Wählers; denn er übersieht nicht die letzte Konsequenz seiner Stimmabgabe. Genau das war es doch, was die SPD im letzten Bundestag anprangerte, nämlich daß der Wähler bei dem vom Kollegen Scharnberg sehr stark forcierten Wahlsystem nicht übersehen könne, wohin letzlich seine Stimme fällt und wie sie gewertet wird. Genau das haben Sie uns in Ihrem Wahlgesetzentwurf wieder auf den Tisch gelegt.
— Nein, ich könnte Ihnen das im einzelnen erklären, aber wir wollen das der zweiten Lesung vorbehalten.
— Ich stelle gar nicht gegenüber. Sie machen das komplizierter. Ich habe nur gesagt, daß bei einem Wahlgesetz, wie Sie es vorgeschlagen haben, bei Wahlkreisabgeordneten die Stimme dann Wege geht, die der Wähler nicht übersehen kann; denn wenn der Kandidat der SPD im Wahlkreis nicht gewählt wird, wird ganz automatisch die Stimme, die für den Herrn SPD-Kandidaten „Müller" abgegeben worden ist, auf die Ergänzungsliste der SPD genommen; und da werden nun Persönlichkeiten gewählt, die der Wähler gar nicht kennt oder nicht kennen kann oder nur beschränkt kennt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich werde Sie nicht mehr länger belästigen; denn ich kann mir vorstellen, daß dieses Wahlgesetz für Sie beinahe eine physische Belastung darstellt.
Aber lassen wir uns von dem Ergebnis der Wahl vom 6. September 1953 nicht täuschen. Dieses Wahlergebnis ist bestimmt nicht wegen des Wahlgesetzes erreicht worden,
sondern trotz des Wahlgesetzes ist dieses Ergebnis zustande gekommen.
Aber, vergessen wir nicht — ich fahre fort; ich habe doch psychologisch Ihre Zwischenrufe so genau abgestimmt, daß ich sofort in meinem nächsten Satz den Gegenbeweis bringe —,
daß diese Wahl am 6. September unter günstigsten Voraussetzungen stattgefunden hat: weitgehende wirtschaftliche und auch soziale Befriedung, außenpolitische Erfolge und nicht zuletzt
die überragende Persönlichkeit des Herrn Bundeskanzlers.
Ich weiß nicht, wie das Wahlergebnis ausgefallen wäre, — —
- Nein, Herr Kollege, wollen wir lieber nicht darüber reden!
Sie haben doch einen Aufwand getrieben, der sehr beachtlich war.
- Natürlich war er sehr beachtlich, es war nur
psychologisch nicht ganz klar; denn ich hätte nicht
immer den Adenauer auf Ihre Plakate genommen!
Darf ich nun einmal den Satz von vorn beginnen, damit Sie ihn vollinhaltlich erfassen können: Ich weiß nicht, wie das Wahlergebnis ausgefallen wäre, nicht in bezug auf die CDU/CSU, sondern allein in Hinsicht auf die parteipolitische und parlamentarische Integration, wenn wir einige Millionen
Arbeitslose, politische Krisen und keine so stabile Regierung mit der Persönlichkeit unseres Bundeskanzlers gehabt hätten.
Wie hätte dann dieser Bundestag ausgesehen?! Er hätte dann auch ein Wahlgesetz machen müssen, an dem vielleicht ein Herr Remer, ein Herr Loritz und ein Herr Renner — manchmal sitzt er hier oben; mir persönlich gar nicht so unsympathisch, nur das, was dahinter steht
— persönlich, nur persönlich! — und andere noch unbekannte politische Persönlichkeiten wie ein Herr Gregor Straßer mitgearbeitet hätten.
— Entschuldigen Sie, der andere, der Otto Straßer natürlich! — Wenn dann noch die von der SPD in ihrem Wahlgesetzentwurf vorgesehene Splitterklausel von 5 % — auf die Landesebene bezogen — durchkäme, dann wären wir wieder schneller, als manche es für möglich gehalten hätten, in der Parteienzersplitterung, in der Desintegration wie in Weimar, und das grausame Spiel könnte von vorne beginnen.
Um das zu verhindern, haben meine politischen Freunde und ich aus tiefster Verantwortung für den Bestand unserer Demokratie und damit den Bestand unseres Volkes diesen Wahlgesetzentwurf, der das relative Mehrheitswahlrecht vorsieht, vorgelegt.