Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe leider nicht die Freude, wie meine drei Vorredner, einen kompletten Wahlgesetzentwurf begründen zu können. Ich bin nicht traurig darüber, daß in diesem Falle einmal einer der drei Träger der Gesetzesinitiative — Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat; also hier der Bundestag — den Vorrang gehabt hat. Warum, meine Damen und Herren? Ich bin vorhin mit Erklärungen zitiert worden, die ich seinerzeit als Sprecher der CDU abgegeben habe. Ich halte diese Erklärungen auch heute noch für sehr gesunde und vernünftige Erklärungen, und ich bin der Meinung, daß das, was ich damals erklärt habe, heute durch die CDU/CSU-Fraktion, auf die ich keinen unmittelbaren Einfluß mehr habe,
erfüllt worden ist. Ich konnte damals keine Erklärung für die Bundesregierung abgeben.
Ich hätte es auch für sehr riskant gehalten, kurz vor Abschluß einer Legislaturperiode und vor bevorstehenden Neuwahlen bereits die Nachfolger hier zu verpflichten.
Wenn Sie die Situation von damals in zeitlicher Beziehung mit der von heute vergleichen, dann ist doch wohl folgendes zu sagen. Das Wahlgesetz für diesen Bundestag ist rund zwei Monate vor den damaligen Bundestagswahlen verabschiedet worden, also wirklich im allerletzten möglichen Zeitpunkt. Diesmal — ich glaube, das muß man ge-
rechterweise anerkennen, und das wird, wie ich hoffe, auch die Öffentlichkeit anerkennen — sind wir doch sehr viel günstiger dran.
— Lieber Herr Kollege Rehs, ich glaube, in dem Rennen um die Vorbereitung des Wahlgesetzes sind wir gar nicht zu schlagen. Das schließt gar nicht aus, daß Ihre Fraktion es gewesen ist, die zunächst einen Entwurf vorgelegt hat.
Ich darf dazu noch folgendes sagen. Ich habe 1953 mit meinen Freunden die Auffassung geteilt, daß es sehr notwendig sein würde, in gemessener Zeit während dieser Legislaturperiode ein neues und, wie ich hoffe, recht dauerhaftes Wahlgesetz zu verabschieden. Die Verabschiedung eines solchen Wahlgesetzes erfordert Vorarbeiten, wie jeder einsehen wird. Mit diesen Vorarbeiten haben wir 1953 sofort begonnen. Dazu gehörte die Auswertung der Berichte des Bundeswahlleiters und der Erfahrungen der Länder, und dazu gehörte ein zweites. Die Wahlrechtsdiskussion war in unserem Vaterlande sehr in die Gefahr geraten, doch etwas einseitige Akzente zu erhalten. Ich freue mich, daß es möglich gewesen ist und daß es soviel Beifall und Anerkennung gefunden hat, eine Kommission von völlig unabhängigen, sehr angesehenen Gelehrten und Praktikern zu berufen, die einen Bericht vorgelegt hat, der große Teile dessen, was sonst recht streitig gewesen ist, doch nun mehr oder weniger außerhalb des Streits gestellt hat.
Ich bin der Überzeugung, daß ebenso, wie Teile dieses Berichts schon heute hier in der Debatte zitiert worden sind, manche Stelle aus diesem Bericht noch während der Ausschußberatungen mit Nutzen und Erfolg verwendet werden kann. Ich bin etwas traurig, daß Herr Kollege Schneider — ich spreche ihn in seiner Eigenschaft als Kollegen an und nicht als den gerade amtsführenden Präsidenten — den Bericht noch nicht gelesen hat und ihn erst auf dem Umweg über die „Neue Zürcher Zeitung" zur Kenntnis nehmen mußte. Als Mitglied des Wahlrechtsausschusses wird er sicherlich Gelegenheit haben, diese Lektüre nachzuholen. Aber sicherlich spricht es für die Qualität des Berichts, daß man wesentliche Stellen aus ihm schon jetzt auf dem Umweg über ausländische Zeitungen zur Kenntnis nehmen kann. Meine Damen und Herren, die Ergebnisse dieses Sachverständigenberichts —und ich möchte diese Gelegenheit benutzen, den Herren noch einmal ausdrücklich dafür zu danken — werden bei den kommenden Beratungen eine große Rolle spielen; sie haben darüber hinaus die Möglichkeit gegeben, die Vorarbeiten des Ministeriums beträchtlich zu fördern.
Ich sagte schon, meine Damen und Herren, es gibt drei Träger der Gesetzesinitiative, und nicht immer wird es praktikabel sein, daß das zuständige Ressort seinerseits einen kompletten Gesetzentwurf vorlegt. Für denjenigen, der die politischen Strukturverhältnisse kennt, ist es ganz eindeutig, daß damit im Schoße der Regierung eine Entscheidung vorweggenommen würde, die — wir haben das während der ersten Legislaturperiode erlebt — dann doch in den Ausschüssen erst eigentlich in die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Auffassungen gerät. Insofern wäre nicht sonderlich viel gewonnen, wenn die vorliegenden Entwürfe nun noch um einen vierten, einen Regierungsentwurf, bereichert würden. Vielmehr haben wir es in der Vorbereitung für unsere Aufgabe gehalten, in
all den Punkten, die mehr die Technik des Gesetzes angehen, jede nur mögliche Unterstützung zu leisten, und auch während der Ausschußberatungen sehe ich die Aufgabe des Ministeriums darin, all das, was auf technischem Gebiet möglich ist, zur Unterstützung beizutragen.
Ich möchte mich nun mit einigen Worten den vorliegenden Entwürfen zuwenden. Ich beginne mit dem Entwurf der sozialdemokratischen Fraktion. Dieser Entwurf, meine Damen und Herren, stellt einen Rückgriff auf eine sehr frühe Wahlrechtsvorlage dar, nämlich auf das Wahlrecht, das der Parlamentarische Rat verabschiedet hat. Ich glaube kaum, daß die Neuauflage eines Wahlgesetzes, das noch vor der Konstituierung der Verfassungsorgane der Bundesrepublik damals in aller Eile und unter noch recht unklaren Verhältnissen geboren worden ist, eines Wahlsystems, das darüber hinaus etwas starr ist, heute noch als den Bedürfnissen entsprechend anerkannt werden kann.
Diese Wahlgesetzvorlage enthält wieder alle alten Anliegen der SPD, vor allem das Bestreben, die Zusammenarbeit anderer Parteien bei der Wahl zu verhindern oder doch zu erschweren. Ich brauche hier nur an § 5 dieser Vorlage zu erinnern, das Verbot der Verbindung von Wahlvorschlägen, die Ausschließung gemeinsamer Wahlvorschläge, und besonders an § 1 Abs. 2: Landeswahlvorschläge werden nur zugelassen von Parteien, die in jedem Wahlkreis einen Bewerber aufgestellt haben. Wenn man diese Tendenz charakterisieren will, meine Damen und Herren, so kann man das nur, indem man sagt: Das ist ganz klar der Versuch, den präsumtiven Gegner zu zersplittern! Das ist, wie wir wissen, ein alter Bekannter aus der sozialdemokratischen Wahlgesetzgebung.
Im übrigen ist die letztgenannte Bestimmung nach meiner Auffassung auch verfassungswidrig — ich darf in dieser Beziehung auf die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 12. Oktober 1950 verweisen —, weil sie einen Verstoß gegen die Wahlgleichheit darstellt. Bei näherer Betrachtung, meine Damen und Herren, werden Sie sicherlich zu der Überzeugung kommen, daß wir ein Bundeswahlgesetz nicht mit einer solchen Bestimmung belasten dürfen.
Ich glaube darüber hinaus, daß die Sperrklausel des § 4 Abs 4 einen unverkennbaren Rückschritt im Bundeswahlrecht darstellt. Bisher waren für die Teilnahme am Landesausgleich 5 % der Stimmen im gesamten Wahlgebiet erforderlich, jetzt sollen es nur noch 5 % der Stimmen im Lande sein. Das bedeutet, daß die Einheit des Wahlvorgangs im Bundesgebiet zerstört würde, und auf diese Weise gäbe es keine Sicherheit, Splitterparteien vom Bundestag fernzuhalten. Wenn man schon Verhältniswahlrecht vorschlägt, dann muß man eine auf die Bundesebene abgestellte Sperrklausel haben; denn sie allein ist eine wirksame Garantie gegen das Überhandnehmen von Splitterparteien.
Der Entwurf enthält im übrigen eine Reihe von mehr technischen Mängeln, auf die ich während der Ausschußberatungen zurückkommen möchte.
Ich darf dann einige Ausführungen zu den beiden anderen Entwürfen machen. Ich glaube, daß der Vorschlag, den die Fraktion der Freien Demokraten in Anlehnung an das Wahlgesetz von 1953 gemacht hat, auf jeden Fall in technischer Beziehung positiv zu werten ist. Ich beschränke mich auf eine
Charakterisierung bezüglich der Technik und charakterisiere nicht den politischen Gehalt.
Ich glaube, daß wir eine saubere Systematik des Wahlgesetzes brauchen. Das leuchtet einem dann um so mehr ein, wenn man Gelegenheit gehabt hat, die ausländischen Wahlgesetze etwas zu studieren, die zum Teil sehr undurchsichtig und kompliziert sind. Deswegen scheint mir die Anlehnung an die Technik von 1953 und die Weiterentwicklung dieser Technik durchaus begrüßenswert.
Einer der wesentlichen Vorschläge von den zahlreichen Vorschlägen, die die Wahlrechtskommission gemacht hat, scheint mir der zu sein, eine ständige Wahlkreiskommission — übrigens in Anlehnung an, ein englisches Vorbild — zu schaffen. Wenn man sich ansieht, wie sich derzeit die Wahlkreise nach den Zahlen nebeneinander ausnehmen, so muß man feststellen, daß die große binnendeutsche Bevölkerungswanderung zu sehr erheblichen Veränderungen geführt hat. Wir haben Wahlkreise — ich stelle nur die beiden extremen Fälle einander gegenüber —, bei denen der eine 120 000 und der andere 360 000 Einwohner, der eine also das Dreifache des anderen umfaßt. Daß das auf die Dauer keine einigermaßen gleichwertigen Wahlkreisgrößen sind, wird, glaube ich, jeder zugestehen müssen.
Nun will ich auf der anderen Seite gerne einräumen, daß es kein leichtes Unterfangen ist, zu einigermaßen gerechten Wahlkreisabgrenzungen zu kommen. Ich bin aber der Auffassung, daß dieses Problem, wenn man eine gewisse Abweichung in den Größen nach oben oder unten zuläßt, bei gutem Willen zu regeln ist. Ich würde es sehr begrüßen, wenn sich das Hohe Haus entschließen könnte, diese Aufgabe einer unabhängigen Kommission anzuvertrauen. Das nimmt der Gesetzgebungsbefugnis dieses Hohen Hauses natürlich nicht das geringste, weil man sich den Vorgang so vorstellen müßte — übrigens ist es in England ähnlich —, daß ein solcher Vorschlag dann erst durch Gesetz in Kraft gesetzt werden könnte.
Von anderen Vorschlägen, die gemacht worden sind, möchte ich vor allen Dingen den der Briefwahl positiv bewerten, außerdem den Vorschlag der Sperrklausel von 5 % der Zweitstimmen auf Bundesebene oder die Erringung von 3 Wahlkreismandaten. Es ist bisher geradezu ein Ärgernis gewesen, daß ein einziges Wahlkreismandat genügte, gleichwertig 5 % der Stimmen zu sein. 5 % entsprechen bei einer Abgeordnetenzahl von rund 500 einem Gegenwert von 25 Sitzen und nicht von einem Sitz. Diese Bestimmung ist auf jeden Fall korrekturbedürftig.
- Drei genügen Ihnen nicht? Wollten Sie das sagen?
— Meine Herren, ich habe diesen Vorschlag nicht gemacht. Ich habe nur gesagt, daß die drei eine Verbesserung gegenüber der bisher geforderten Zahl eins sind. Wie weit Sie von da an das rechnerisch Richtige von 25 oder — wenn wir 400 Abgeordnete haben — von 20 herankommen wollen, bleibt Ihnen überlassen.
Auch daß die Probleme um den Fall SchmidtWittmack — wir wollen nicht hoffen, daß sich dergleichen wiederholt — jetzt endlich ohne weitere
Diskussion aus einem Wahlgesetz gelöst werden können, wird jeder, glaube ich, nur als erfreulich ansehen.
Meine Damen und Herren, einer näheren Charakterisierung des Vorschlags, den meine engeren politischen Freunde gemacht haben, möchte ich mich enthalten.
Ich darf auf etwas verweisen, was liebenswürdigerweise Herr Kollege Rehs zitiert hat aus meinem Vorwort zu dem Bericht der Wahlrechtskommission; vielleicht darf ich es wiederholen, um dann daran anzuknüpfen. Ich habe dort gesagt, daß der Bestand, die Festigung und das Ansehen der freiheitlich demokratischen Grundordnung in hohem Maße von einem guten Wahlgesetz abhängt. Herr Kollege Rehs hat, wie soll ich sagen, etwas dialektisch versucht, herauszubekommen, ob hier gut im Sinne von nur technisch richtig oder gut im Sinne von staatsethischen Kategorien gemeint sei. Herr Kollege Rehs, ich kann Ihnen bei diesem dialektischen Versuch helfen. Es ist selbstverständlich in doppelter Beziehung gemeint, sowohl technisch gut wie staatsethisch — oder wollen Sie sagen, staatspolitisch — gut.
Unsere Auffassungen darüber, was auf diesem Gebiet unserem Volk und Vaterland frommt und nützen würde, gehen auseinander. Ich habe seit 1945 sicherlich in der ersten Reihe derer gestanden, die für eine grundlegende Wahlrechtsreform in Deutschland eingetreten sind. Ich bedaure es sehr, das erkläre ich hier ganz offen, daß es damals, in einem Zeitpunkt, in dem man noch richtig starten konnte, nicht zu einer grundlegenden Reform gekommen ist. Nachdem sich die Dinge entwickelt haben, wie sie sind, nachdem wir eine staatliche Struktur und einen Aufbau haben, wie er ist, muß man das bei der Gestaltung jedes Wahlgesetzes selbstverständlich in Rechnung setzen. Wenn ich mir die Chancen eines Gesetzentwurfs überlege, so sehe ich nicht dieses Hohe Haus allein, sondern ich sehe hinter diesem Hohen Haus auch immer den Schatten des Bundesrats auftauchen. Ich bin mir natürlich klar darüber, daß es bei einem solchen Gesetz Auseinandersetzungen nicht nur auf dieser Ebene, sondern selbstverständlich in beinahe allen, wie soll ich mich ausdrücken, Etagen der deutschen Zuständigkeiten gibt.
Eine solche Bemerkung mag ein bitterer Tropfen in dem Wein derjenigen sein, die vielleicht das Problem heute ohne jene Hemmungen möchten lösen können, die uns die zwischenzeitliche Entwicklung zwangsläufig auferlegt. Aber ich glaube, man sollte doch einen Blick dafür haben, daß wir, ganz gleichgültig, wie die endgültige Formulierung in diesem Hohen Hause aussieht, die Verpflichtung haben, dazu beizutragen, daß die politischen Kräfte in Deutschland sich nicht vereinzeln, sondern daß sie zusammengefaßt bleiben und in die Lage versetzt werden — dabei sehe ich weder nach rechts noch nach links; für mich ist das eine ganz allgemeine Frage —, tragfähige Regierungen zu bilden. Hierbei hat das Wahlgesetz sie zu unterstützen. Ich habe nur den Wunsch, daß in den Ausschüssen aus diesen drei Entwürfen letztlich ein Ergebnis hervorgehen möge, das für die künftige Zeit nicht nur ein Parlament einer bestimmten Größenordnung, sondern vor allen Dingen durch das Parlament und mit dem Parlament eine stabile Regierung ermöglichen wird.