Das Wort zur Begründung des Antrages unter 2 c auf Drucksache 1494 hat der Abgeordnete Stücklen.
Ich möchte diejenigen Damen und Herren, die den Wunsch haben, sich an der anschließenden Aussprache zu beteiligen, bitten, sich bei einem der beiden Schriftführer zu melden.
Bitte, Herr Stücklen.
Stücklen , Antragsteller: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir stehen bei der Beratung des neuen Wahlrechts in einer besseren Situation als im Jahre 1953. Wir stehen im Augenblick nicht unter Zeitdruck, und wir können das Wahlgesetz in dem von uns zu beantragenden Sonderausschuß mit aller Ruhe und Sorgfalt beraten und dann auch noch rechtzeitig verabschieden.
Aber, Herr Kollege Rehs, um der Integrität des Wahlgesetzes willen hätte ich es begrüßt, wenn man die Beratungen nicht von vornherein mit diesen Unterstellungen belastet hätte.
Auch Herr Kollege Schneider — ich sehe ihn im Augenblick nicht hier, er muß sich wohl erholen; ganz klar, nach dieser Rede muß man sich erholen — —Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Stücklen, es geht hier nicht um die Erholung des Kollegen Dr. Schneider, sondern darum, daß er seinem Amt als Vizepräsident wird nachkommen müssen.
Stücklen , Antragsteller: Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Aber ich glaube, Herr Kollege Schneider ist nicht der Meinung, daß man einer Änderung des Grundgesetzes nur dann zustimmen kann, wenn das Wahlgesetz nach der eigenen Vorstellung ausfällt.
Das ist sicher ein Fauxpas gewesen. Ich möchte das nur richtigstellen. Die Wehrgesetze und die Grundgesetzänderung haben weiß Gott mit dem Wahlgesetz nichts zu tun.
— Sie haben eine andere?
Ich wollte nun zu der Begründung des Gesetzentwurfs Drucksache 1494 kommen. Einen sehr guten Dienst für die Vorbereitung dieser Vorlage hat uns die vom Herrn Innenminister berufene Wahlrechtskommission mit dem ausgezeichneten Bericht erwiesen,
der uns eine Reihe von neuen Argumenten gebracht hat. Vor allen Dingen ist die Gegenüberstellung der beiden Wahlsysteme — Verhältniswahl, Proporzsystem und Mehrheitswahl, Persönlichkeitswahl — ganz ausgezeichnet. Ich möchte Ihnen, Herr Innenminister, herzlich dafür danken und auch der Wahlrechtskommission in aller Bescheidenheit meine Anerkennung dafür aussprechen.
Aber nicht nur dieses herrliche Buch über die Wahlrechtsfragen in Deutschland hat dazu gedient, den Entwurf meiner politischen Freunde vorzubereiten, sondern vor allen Dingen noch einige andere Werke unserer neueren politischen Literatur. Da ich beinahe voraussehen konnte, daß ich von der SPD sehr scharf beobachtet werde, welche Literatur ich anführe, bemerke ich vorweg,
daß ich zwei Werke gelesen habe, und zwar das Werk des ehemaligen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und die beiden Bände von Carl Severing, dem Innenminister der Weimarer Zeit, das eine in der Emigration, das andere hier in Deutschland geschrieben.
Ich muß Ihnen sagen, daß gerade für uns junge Abgeordnete, für uns junge Politiker, die wir die Weimarer Zeit nicht mehr bewußt miterlebt haben, die wir nie die Möglichkeit gehabt haben, in der Weimarer Zeit einmal eine demokratische Wahl mitzuerleben, dieses Werk, das uns so genau und so vollständig über den Zeitablauf berichtet, ein ausgezeichnetes Material ist, aus dem zu erkennen ist, was in der Vergangenheit war.
— Was meinen Sie mit dem „ganzen Inhalt"?
— Freilich im ganzen Inhalt; ich nehme nichts aus, Herr Kollege Baur.
Ich habe diese Werke noch einmal sehr genau gelesen. Sie gehören mit zu den Standardwerken, die ich habe, und ich freue mich immer, wenn mir die parlamentarische Arbeit Zeit läßt, gerade in diesen Werken nachzulesen.
— Hören Sie mal, ich glaube, gerade weil ich diese Werke so aufmerksam gelesen habe, haben Sie nicht zu befürchten, daß ich als Hospitant zu Ihnen komme. — Aber wir wollen uns hier nun nicht verlieren. Ich möchte nur sagen, daß man, wenn man diese Werke richtig beurteilt, zu dem Ergebnis kommen muß: Das Verhältniswahlrecht, das Proporzsystem der Weimarer Zeit hat entscheidend dazu beigetragen, daß diese Demokratie zugrunde ging.
Ich bin außerordentlich überrascht, daß Herr D r. Menzel, der doch diese Jahre in engster Verbindung mit sehr maßgeblichen Politikern der Weimarer Zeit erlebt hat, zu einem Ergebnis kommen konnte, das mit dem historischen Ablauf dieser Zeit einfach nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.
Ich muß mich weiter außerordentlich wundern, daß Sie, Herr Dr. Menzel, nun die Reichstagswahlergebnisse von 1932 und 1933 auf die Anwendung eines Mehrheitswahlrechts übertragen. Ich muß mich deshalb besonders wundern, weil, wenn Sie sich schon einmal diese Arbeit gemacht und diese Aufgabe gestellt haben, — —
— 1953 bei den Wahlgesetzberatungen hier im Bundeshaus! Sie sind zu folgendem Ergebnis gekommen: Hätte man das Mehrheitswahlrecht 1932 angewandt, dann hätten die Nationalsozialisten 46 % der Mandate bekommen.
Und hätte man das Mehrheitswahlrecht am 5. März 1933 angewandt, dann hätten die Nationalsozialisten 60 % der Mandate bekommen.
Ich muß nun sagen, Herr Dr. Menzel, wenn Sie sich schon die Mühe einer Umrechnung gemacht haben — sie ist sehr kompliziert; ich habe damit begonnen, aber ich bin noch nicht damit zu Ende —, warum haben Sie sich dann nicht die Mühe gemacht, dieses Mehrheitswahlrecht mit den Reichstagsergebnissen von 1919, 1920, 1922, 1924 zu vergleichen?
Als am 20. Juli 1932 der damalige Reichskanzler Papen in einem Staatsstreich in Preußen die Regierung Braun-Severing absetzte, da war es zu spät, ein Mehrheitswahlrecht einzuführen.
Ich darf Ihnen eines sagen, Herr Dr. Menzel: Man sollte eben den historischen Gegebenheiten auch dann recht geben, wenn sie im Augenblick unbequem sind.
1919 in der Weimarer Nationalversammlung wäre die Sozialdemokratie nach einem Mehrheitswahlsystem beinahe die absolut stärkste Partei überhaupt gewesen, und es hätte nur vier Fraktionen gegeben. 1920 bei den Reichstagswahlen wäre die USPD überhaupt nicht mehr in Erscheinung getreten. Das hätte also bedeutet, daß im ersten Reichstag mit fünf Fraktionen die Sozialdemokratie als die weitaus stärkste Fraktion und das Zentrum als zweitstärkste Fraktion eine Regierung hätten bilden können, die eine stabile Mehrheit im Parlament gehabt und damit auch klare Verhältnisse in der Regierung geschaffen hätte. Diese Regierung hätte dann nicht mit Koalitionsbedingungen und Koalitionsverhandlungen im Parlament ein Programm erzwingen müssen, das nicht dem entsprach, was diese Parteien ursprünglich in .ihrer Zielsetzung vor Augen gehabt haben.
Die weitere Entwicklung war: Nachdem es 1919 noch insgesamt sechs Parteien waren, waren es 1924 bereits elf Parteien, 1928 waren es vierzehn Parteien, und damit war nun die Mitte so weit aufgespalten, daß eine Koalitionsbildung von zwei oder drei Parteien, die die Weimarer Republik im wesentlichen getragen haben, gar nicht mehr möglich war. Es mußten Koalitionen mit vier, fünf und sechs Fraktionen gebildet werden, und Sie wissen ja, zu welchem Zustand das geführt hat: Die Regierungen hatten keine stabile Mehrheiten mehr, und sie mußten schon bei der Koalitionsbildung so viele Konzessionen machen, daß sie ein klares Programm überhaupt nicht durchführen konnten. Wir erlebten dann, daß diese Regierungen ab 1928 nurmehr Minderheitenregierungen waren, daß sie sich immer die jeweiligen Mehrheiten im Parlament suchen mußten und daß bei der damaligen Konstruktion der Weimarer Verfassung dann die Regierungskrisen eintraten. Den Regierungskrisen folgten die Auflösungen der Reichstage, und damit waren wir am Beginn des Zusammenbruchs des demokratischen Systems von Weimar.
Hätten wir 1919 keine Reichstagsauflösung, sondern klare Regierungsmehrheiten gehabt, dann hätte dieses System mit seiner Stabilität eine so große Anziehungskraft ausgeübt, daß die Jugend hinter dieser Demokratie gestanden und nicht irgendwelchen Rattenfängern nachgelaufen wäre. Das sind Tatsachen, die man eben erkennen sollte.
Was war nun die Folge davon? Durch die Regierungskrisen, durch die Reichstagsauflösungen ist das demokratische Prinzip in Mißkredit gekommen, und dann kam der Kampfruf von den antidemokratischen Kräften, von den Kommunisten und den Nationalsozialisten: „Das System ist schuld; hinweg mit diesem System!" Man wollte aber nicht das Vielparteiensystem aus der Welt räumen, man wollte nicht gegen das Vielparteiensystem ankämpfen, sondern im Grunde genommen war es ein Totalangriff gegen die Demokratie.
Infolge der Entwicklung im Verhältniswahlsystem war es dann auch möglich, daß die Aufspaltung so weit gelang, daß die radikalen Parteien von links und rechts die Mehrheit im Parlament hätten bilden können;
sie waren aber deshalb nicht dazu in der Lage, weil
die Kommunisten im Grunde genommen im schärfsten Gegensatz zu den Nationalsozialisten standen.
Das ist ungefähr der Leidensweg, den die Demokratie von Weimar gegangen ist.
Wir sollten uns doch der Mühe unterziehen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, und ich muß Ihnen ganz offen sagen, daß gerade eine ganze Rehe von jungen Abgeordneten der Meinung sind, daß man aus der Vergangenheit und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen müßte.