Rede von
Dr.
Wilfried
Keller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(GB/BHE)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GB/BHE)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte noch einige Ergänzungen zu dem Antrag Drucksache 486 geben, allerdings nicht, um die klaren und treffenden Ausführungen meines Freundes Körner unnötigerweise zu erweitern, sondern um zu zeigen, von welch großer Bedeutung dieser Antrag unseres Erachtens ist. Es scheint sich meiner Auffassung nach hier um ein geradezu typisches Beispiel dafür zu handeln, wie leicht man einander mißverstehen und dann zu politisch nicht richtigen Ergebnissen kommen kann, wenn man solche Dinge nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit betrachtet. Ich darf vorsorglich bemerken, daß meine Fraktion bitten wird, über diesen Antrag, d. h. über die Ablehnung des Ausschußantrages in dieser Sache, in namentlicher Abstimmung zu entscheiden. Sie wissen, daß die Stärke unserer Fraktion nicht ausreicht, einen solchen Antrag selbst stellen zu können. Es ist Übung in diesem Hause, daß in diesem Falle vom Präsidium her gefragt wird, inwieweit ein derartiger Antrag unterstützt wird, und ich möchte nur alle die zahlreichen heimatvertriebenen Abgeordneten in diesem Hause jetzt schon auffordern, im Zusammenhang mit dem, was sie offenbar selbst auf den Versammlungen draußen erzählt haben, diesen Antrag hier auch in der geschäftsordnungsmäßigen Behandlung zu unterstützen. Die Zahl würde allein bereits bei weitem ausreichen, dies herbeizuführen.
Nun zur Sache. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das Argument, das zu meinem Bedauern aus Kreisen der SPD vorgetragen wurde, 10 Jahre nach dem verlorenen Kriege sollte es solche Privilegien nicht mehr geben, geht vollkommen fehl. Es handelt sich nicht um ein Privilegium, es handelt sich darum, aus einer sozialpolitischen, ich möchte fast sagen: humanitären Erkenntnis reinster Art zu sehen, daß auf diesem Gebiet noch ein Bestimmtes getan werden muß, nämlich — und das ist ja im Grundsatz bisher stets von der Praxis und vom Ausschuß für Verkehrspolitik, in dem die Dinge auch behandelt worden sind, anerkannt worden — einem begrenzten Kreis von Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlingen eine Vergünstigung zu gewähren. Im allgemeinen heißt dieser Komplex, falsch verstanden, in der Öffentlichkeit die Freifahrt auf der Eisenbahn für die Flüchtlinge! Die Dinge liegen ganz anders. Diese Vergünstigung steht überhaupt nur einem sehr begrenzten Teil zu, nämlich denjenigen, die unter ziemlich eng gefaßte Richtlinien über Hilfsbedürftigkeit fallen. Es handelt sich darum, daß diese Menschen Verwandte — enge Verwandte, den Vater, den Sohn oder den Enkel etwa — vielleicht das letztemal sehen können, nachdem sie damals —1945 — durch die unglückseligen Umstände, auch durch die Verteilung der Vertriebenen im westdeutschen Restgebiet wie mit der Streusandbüchse über alle Gebiete des deutschen Vaterlandes, vom tiefsten Süden bis hinauf zum höchsten Norden verstreut worden sind. Wir wissen, daß Verwandte oft 1000 km entfernt voneinander wohnen. - Es ist weiter ein wichtiger sozialpolitischer Grundsatz, daß wir im Zuge der — je länger sie dauert, immer schwerer werdenden — Eingliederung Hilfe leisten müssen, daß diese Menschen, Erwerbslose aus den Zonenrand- und Notstandsgebieten, die Möglichkeit haben müssen, in weit entfernte Gebiete zu fahren, um ihre Arbeitsaufnahme dort zu erwirken und zu erleichtern.
Nun etwas — und ich glaube, das dürfte nicht strittig sein — zur Frage des finanziellen Hintergrundes. Es schwebt das Mißverständnis im Raum, daß hier durch einen Ersatz von Verdienstentfall für die um ihre Selbstbehauptung und Existenz ringende Bundesbahn ein Ausgleich geschaffen werden müßte. Das Gegenteil — das Gegenteil, wage ich zu sagen — ist wahr, und ich wäre dankbar, wenn die Deutsche Bundesbahn von dem nüchternen kaufmännischen Sinn eines kleinen Dorfkrämers etwas mehr lernte, der genau weiß, daß allein der Umsatz den Gewinn macht. Es sind vor langer Zeit ganz genaue Enquêten darüber angestellt worden, wer von dem in Frage kommenden, relativ engen Personenkreis überhaupt in der Lage und damit auch nur willens gewesen wäre, sehr wichtige und notwendige Fahrten, die oft über Hunderte Kilometer führen müssen, anzutreten. Was leicht vorauszusehen ist, ist damals in einer statistischen Enquête ganz genau erwiesen worden. Über 90 % der Befragten haben erklärt: Wenn ich diese Vergünstigung nicht gehabt hätte, wäre ich auf Grund meiner Vermögenslage nicht imstande gewesen, diese Fahrt zu machen. Dann wären die Züge der Bundesbahn, die mit derselben Kohle und mit denselben Waggons rollen, eben ohne diese Menschen gefahren, die damals wenigstens die Hälfte des Fahrpreises entrichtet haben.
Die Bundesbahn stellt dieselbe Forderung auch nicht bei vielen anderen Gelegenheiten. Mein Freund Körner hat bereits die Frage der 50%igen Fahrpreisermäßigung für Gesellschaftsfahrten behandelt. Es gäbe andere, peinlichere Beispiele mehr, z. B. die Frage, wer den Verdienstausfall für die staatspolitisch enorm wichtigen Fahrten zum Fußballspiel nach London oder in die Schweiz, wer den Tanzwagen an die Mosel und ähnliche Dinge subventioniert, wer dort von Staats wegen den
sogenannten Verdienstausfall der Bundesbahn ersetzt, der in Wirklichkeit gar kein Verdienstausfall ist.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich würde Sie wirklich bitten, diesem ernsten und echten Anliegen, das heute und noch eine gewisse Zeit — auch diese Dinge werden und müssen auslaufen — für einen großen Teil nicht eingegliederter Vertriebener von Bedeutung ist, stattzugeben. Eine Bereitstellung von Mitteln kommt hierfür gar nicht in Betracht, sondern allein die Vernunft gebietet die Erkenntnis, daß dabei für die Bundesbahn nicht ein Verdienstausfall, sondern im Gegenteil ein zusätzlicher Gewinn entsteht, den sie gut gebrauchen kann, und zugleich ein ernstes sozialpolitisches Anliegen seine Befriedigung findet.