Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gestehe, daß ich etwas in Verlegenheit war, als ich die Ausführungen des Herrn Kollegen Mellies zum Etat des Bundeskanzlers hörte. Die Gravamina, die Herr Kollege Mellies vorbrachte, in allen Ehren, in vielen Punkten würde ich ihm zustimmen. Es sind Mißstände angedeutet worden, die auch uns nicht gefallen. Aber ich weiß nicht recht: Hatte man dabei in diesem Saal nicht das Gefühl, daß hier eine Menge doch recht kleiner Problematik zusammengescharrt wurde
angesichts von größeren Problemen, die sich doch
wahrhaftig in diesem Zusammenhang hätten erörtern lassen? Das ist nicht geschehen. Daß es nicht
geschehen ist, Herr Kollege Mellies, nehme ich als ein gutes Zeichen. Daß Sie von Ihrer Seite aus beim Haushalt des Bundeskanzlers tatsächlich nicht mehr an Kritik vorgebracht haben als das, was Sie sagten, müßte eigentlich den Schluß zulassen, daß Sie im übrigen mit ihm ganz zufrieden sind.
— Ich habe schon zugehört, Herr Kollege Mellies!
Herr Kollege Schmid hat dann gesagt, es zieme sich jetzt in diesem Augenblick weniger, eine außenpolitische Debatte zu führen, als Kritik am Instrument, an den Methoden zu üben.
Aber er hat dann — was ich schon voraussah —doch kräftig zugelangt und wieder einmal einen kurzen Exkurs über Außenpolitik gegeben.
Zunächst einmal zu den Beanstandungen im Technischen, also zur echten Kritik am Instrument: Auswahl der Personen. Natürlich sind wir alle darüber einig, daß gerade das Auswärtige Amt, dessen Arbeitsleistung für uns alle doch von größter Bedeutung ist, aus einem Stab von erstklassigen, tüchtigen Leuten zusammengesetzt sein sollte, die nach keinem anderen Gesichtspunkt ausgesucht sein sollten als nach ihrem fachlichen Können und ihrer fachlichen Zuverlässigkeit. Ich glaube, man ist in den vergangenen Jahren im Auswärtigen Amt auch in der Richtung bemüht gewesen. Kritik wird man immer anlegen können; es wird nie ein Auswärtiges Amt geben, von dem alle Seiten einverständig sagen werden: Da ist nun wirklich die Elite beisammen, die wir dort sehen wollen.
Das ist insbesondere dann unmöglich, wenn man an die großen Schwierigkeiten denkt — sie sind uns allen ja bekannt —, die bei der personellen Besetzung dieses Amtes in den vergangenen Jahren zu überwinden waren.
Zur Frage des Rechenschiebers, insbesondere des konfessionellen Rechenschiebers, dürfen wir ein ehrliches Wort sagen; gerade wir von der Christlich-Demokratischen Union dürfen es sagen: Meine Damen und Herren, auch uns wäre es wahrhaftig lieb, wenn es in diesem Lande eines Tages dazu käme, daß man nicht mehr nach der Konfession zu fragen brauchte.
— Ja, wir alle, Herr Kollege Schmid, das ist das Entscheidende! Wer zwingt uns denn diese Dinge immer wieder auf? Wenn man ständig z. B. den Vorwurf macht, es werde eine „katholische" Politik betrieben, es würden katholische Persönlichkeiten ausgelesen — obwohl doch eine nur oberflächliche Nachprüfung das Gegenteil beweist —, dann zwingt man uns dazu, den Rechenschieber herauszuholen und nachzuweisen, daß es eben nicht so ist.
— Prüfen Sie doch die Zusammensetzung der Behörden in Bonn einmal unter dem konfessionellen Gesichtspunkt wirklich nach. Es ist eben ein altes deutsches Unglück, diese konfessionelle Frage. Sie ist nun einmal da, und weil sie da ist — nicht weil
wir sie künstlich aufwerfen wollen —, haben wir diese Schwierigkeiten.
— Sie brauchen nicht zu lachen! Wir sind durchaus bereit — und tun es Tag um Tag, und die Personalpolitik in den Behörden beweist es ja —,
dieses Problem von Jahr zu Jahr mehr zu überwinden und tatsächlich dahin zu kommen, wohin wir hoffentlich gemeinsam gehen wollen.
Die Methoden der Diplomatie! Der Herr Bundeskanzler hat schon das Wesentliche darüber gesagt. Herr Kollege Schmid, ich glaube nicht, daß Sie der Bundesrepublik den Vorwurf machen können, sie habe in den vergangenen Jahren ihre Verhaltensweise zu den verschiedenen Mächten danach eingerichtet, ob diese Mächte klein oder groß, stark oder schwach seien.
— Ja, aber das ist ja eben eine falsche Beweisführung. Daß zufällig Österreich eine kleine Macht ist, hat damit gar nichts zu tun. Wenn Österreich eine große Macht gewesen wäre und es hätte sich verhalten, wie es sich verhalten hat, wäre unsere Kritik auch stärker und auch berechtigter gewesen als gegenüber den Vereinigten Staaten von Nordamerika.
— Was wollen Sie mit Dänemark?
— Entschuldigen Sie, das ist nun das unglückseligste Beispiel, das Sie anbringen konnten.
Mit Dänemark verhält es sich so — es ist ganz schön daß ich das einmal von dieser Stelle aus sagen darf —: Den alten Streitpunkt, den wir mit Dänemark hatten, haben wir bereinigt. Wie haben wir ihn bereinigt? Es ist folgendermaßen zugegangen: Wir sind in Straßburg zusammengekommen —der Vertreter der Dänen, wir, — —
— Nein, eben nicht der Opposition, sondern der konservative dänische Abgeordnete Bögholm ist zu mir gekommen. Wir haben uns überlegt: Können wir die Dinge nicht einfach unter Freunden bereinigen? Denn schließlich soll der Europarat ja auch zu etwas gut sein.
Wir haben uns ausgesprochen. Er war hier; ich war in Dänemark. Wir haben das, was die Regierungen zu verhandeln hatten, in gemeinsamen Gesprächen vorbereitet, und was dann nachher die Regierungen zu tun hatten, war ganz einfach, nachdem auch unsere schleswig-holsteinischen Freunde, insbesondere auch mein Kollege Rasner, der damals vielleicht im Ton — und das meinten Sie ja wohl —,
sagen wir einmal: etwas
frisch gewesen ist, — gerade Kollege Rasner ist es
gewesen, den ich gebeten hatte, dabei mitzuwirken.
Er hat mit größtem Verständnis die Verhandlungen mit verfolgt und mit geführt, und er hat geholfen, sie zusammen mit unseren Freunden aus Schleswig-Holstein zu einem guten Ende zu führen. Man darf wohl sagen, daß man auch in Dänemark zufrieden war.
Ich gebe gerne zu: ich habe auch ein Gespräch mit Herrn Ollenhauer in diesem Zusammenhang gehabt, bei dem wir uns gegenseitig versprochen haben, die Angelegenheit zu fördern, so gut wir konnten.
Ich erzähle das nur deswegen, weil man wirklich nicht sagen kann, daß wir in diesem Zusammenhang dem „kleinen" Dänemark gegenüber arrogant oder auf sonst ungehörige Weise aufgetreten wären. Ich habe die große Freude, darauf hinweisen zu können, daß es heute schon Formen europäischer Zusammenarbeit gibt, die der rein privaten Initiative europäischer Abgeordneter entspringen und zu einem guten politischen Ergebnis führen können.
Wenn die Bundesrepublik sich wirklich verhielte, wie Kollege Schmid meinte, würden wir alle in diesem Hause sicherlich vollkommen einig sein.
Nun die Fragen der Methoden und der Zielsetzung der Außenpolitik. Wie oft haben wir uns in diesem Hause darüber unterhalten!
Bevor ich darauf kurz eingehe, richte ich einen Appell an Sie. Herr Kollege Schmid, Sie haben auf der Einladung zur Sitzung des Außenpolitischen Ausschusses in dieser Woche gelesen, daß ich einen Tagesordnungspunkt: „Künftige Arbeitsweise des Ausschusses" aufgenommen habe. Es ist meine Absicht, diesen Ausschuß ganz und gar in den Dienst der außenpolitischen Bemühungen des Parlaments zu stellen. Wenn wir eine gemeinsame Gewissenserforschung über die Arbeit des Ausschusses anstellen — und Sie waren ja selbst einmal Vorsitzender des Ausschusses —, so werden Sie mir zugeben, daß es vielleicht nicht nur an der Regierung lag, daß der Ausschuß nicht immer befriedigend gearbeitet hat, sondern daß es auch an der Haltung der Ausschußmitglieder und nicht zuletzt auch der Mitglieder der Opposition lag, daß wir nicht weitergekommen sind. Ich könnte mir eine Arbeitsweise des Ausschusses denken, bei der ständig die sich wandelnde und entwickelnde außenpolitische Lage verfolgt und beobachtet wird, wobei sich der Ausschuß jeweils seine Meinung bildet. Dazu gehört aber eben ein Mindestmaß gemeinsamen außenpolitischen Wollens. Wir haben in diesem Ausschuß, glaube ich, in den vergangenen Jahren auch darunter gelitten, daß wir in dieser schrecklich erstarrten Frontenstellung einander gegenüberstanden und daß es dabei kaum echte Gesprächsmöglichkeiten gegeben hat. Wenn wir uns ehrlich anstrengen, kann das vielleicht in der Zukunft besser werden.
Ich stimme Ihnen zu, daß wir hoffen und erwarten, daß der Außenminister bei unseren Beratungen anwesend sein wird, damit wir uns mit ihm austauschen können. Ich muß aber den Bundeskanzler doch in Schutz nehmen. So gering, wie Sie es dargestellt haben, ist die Zahl seiner Besuche im Auswärtigen Ausschuß wahrhaftig nicht gewesen.
— Ja gewiß, ich habe es einigermaßen verfolgt. Er hat wirklich getan, was er konnte. Ich weiß, daß er stets, wenn ich ihn im Auftrage des Ausschusses gebeten habe, dazusein, versucht hat, darauf Rücksicht zu nehmen.
Einer der Vorteile der Besetzung des Außenministeriums mit einem eigenen Außenminister wird nun ohne Zweifel der sein, daß wir in unserem Ausschuß den Außenminister öfter als bisher bei uns haben können.
Ich will aber auch die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, um wenigstens noch ein Wort zu dieser These zu sagen, es sei schlecht gewesen, daß der Bundeskanzler sich die Besetzung des Außenministeriums mit einem eigenen Außenminister so lange vorbehalten habe. Niemand wird mich in Verdacht haben, daß ich meinem Kollegen und Freund Heinrich von Brentano nicht gegönnt hätte, daß er nun einen Aufgabenbereich übernommen hat, der ihm liegt, den er gewünscht hat. Ich wünsche ihm wirklich dazu von Herzen alles Gute und allen Erfolg.
Aber auf der andern Seite ist doch folgendes zu sagen. Es klingt immer ein bißchen liebedienerisch — und es ist wahrhaftig nicht so gemeint —, wenn man darauf hinweist, daß es doch nun wirklich keine Neuigkeit ist, wenn man sagt, wie unverhältnismäßig groß der persönliche Kredit des Bundeskanzlers und Außenministers Konrad Adenauer war und ist und daß vielfach bei den zu führenden Verhandlungen dieser ganz persönliche Kredit es war, der den Erfolg beschieden hat.
Schließlich muß man es sich doch bei solchen Besetzungen von Positionen überlegen, ob es zweckmäßig ist — was ja mit der Bestellung eines Außenministers im allgemeinen zwangsläufig der Fall sein wird —, in internationale Konferenzen nun eine auf dieser Ebene noch nicht erprobte Kraft an Stelle eines Mannes zu schicken, der überall da, wo er bei internationalen Verhandlungen bisher auftrat, den hohen Respekt seiner Verhandlungspartner genossen hat, und zwar in einem ungewöhnlich hohen Maße.
Der Bundeskanzler hat nun selbst den Zeitpunkt für gekommen erachtet, wo er sich aus diesem Gebiet mehr zurückzieht, und er hat den Außenminister bestellt. Damit, glaube ich, ist den Wünschen, soweit man ihnen Berechtigung zusprechen kann, Rechnung getragen worden. Im übrigen, Herr Kollege Schmid, können wir es, glaube ich, Heinrich von Brentano ruhig überlassen, zu sehen, daß er sich als Außenminister gehörig durchsetzt.
Daß an den verantwortlichen Leiter der Politik in jeder Regierung der Welt, auch auf außenpolitischem Gebiete, alle möglichen Ratschläge herangetragen werden
— ja, ich weiß es, ich habe die Nuance wohl bemerkt — und sich alle möglichen Ratgeber mit ihm
in Verbindung setzen, ist doch nur natürlich. Es handelt sich dabei wirklich nur um Nuancen und darum, daß der neue Außenminister genau weiß, was seines Amtes ist.
— Ich glaube es, Herr Kollege Schmid: jedenfalls nach den Unterhaltungen, die ich mit ihm geführt habe, glaube ich es zu wissen.
Nun aber zu dem letzten Teil Ihrer Ausführungen. Wieder läuft es auf unseren alten Streitpunkt hinaus. Sie behaupten: Es gibt keine Wiedervereinigung, wenn man nicht sofort und von vornherein erklärt: das wiedervereinigte Deutschland hält sich bündnisfrei. Ich möchte wissen, woher Sie den Mut zu dieser These nehmen.
In den letzten Jahren sind so viele Thesen von Ihnen aufgestellt worden, die durch die geschichtliche Entwicklung widerlegt worden sind;
man kann ein ganzes Register anlegen. Herr Wehner hält mir entgegen: „Sie werden auf Ihren Verträgen sitzenbleiben"; man hat uns entgegengehalten: Sowjetrußland wird nicht mehr verhandeln.-
Sowjetrußland verhandelt, es lädt sogar den Bundeskanzler nach Moskau ein!
— Ach, nicht wegen der „Politik der Stärke"; lieber Herr Kollege, ich möchte wohl wissen, was, da immerhin unsere Politik die deutsche Politik gewesen ist und nicht Ihre Politik — wie soll ich sie nennen, „der Schwäche" etwa? —,
wohl der Grund für Sowjetrußland gewesen sein muß, nun den Bundeskanzler einzuladen. Wenn es sich um eine Verkettung von Ursache und Wirkung handelt, dann ist doch offenbar unsere Politik die Ursache gewesen, welchen Namen Sie ihr immer beilegen mögen.
Ich will mich nicht wiederholen; sonst müßte ich Ihnen auch wieder sagen, was Ihre kollegiale „Wiener Arbeiterzeitung" gesagt hat: daß man den österreichischen Staatsvertrag nur bekommen habe, weil und seitdem die Pariser Verträge unterzeichnet worden seien. Ich habe es ja bei der letzten Bundestagsdebatte schon gesagt. Ich glaube, bei Ihnen liegt ein tiefes Mißverstehen der totalitären Mentalität vor.
Ich persönlich glaube, daß man in Sowjetrußland sehr viel besser verstehen würde, was wir zu sagen haben. Wir sagen nämlich den Leuten in Moskau ziemlich klar, was wir wollen. Wir sagen ihnen: Wir wollen, auch wir, Frieden, Entspannung; ihr braucht uns wahrhaftig nicht zu fürchten. Es sind doch einfach Ammenmärchen, daß man vor einer Wiedererstehung des deutschen Militarismus in Rußland angesichts der gigantischen Technisierung des modernen Krieges Angst zu haben brauche. Wir müssen den Russen sagen: wir sind durchaus bereit, auch eurem Sicherheitsbedürfnis Rechnung zu tragen. Als ich das letztemal bei der
Debatte fragte, was Sowjetrußland wolle, haben Sie, Herr Kollege Schmid, mir zugerufen: Sicherheit! Die Antwort hat mich erschreckt. Sowjetrußland will gewiß wie jedes Staatswesen auch Sicherheit, aber daß es im gegenwärtigen Augenblick nur Sicherheit wollte und daß es gar die ganzen letzten zehn Jahre hindurch nur Sicherheit wollte, das kann man nun doch wirklich nur verteidigen, wenn man zu behaupten bereit ist, daß die Politik, die Sowjetrußland betrieben hat mit den Baltischen Staaten, mit Polen, mit der Tschechoslowakei, mit Ungarn, Bulgarien, Rumänien und Albanien, — daß diese ganze Politik eine Sicherheitspolitik gewesen sei.
Ich fürchte, mancher Sowjetrusse würde Ihnen das auch so anbieten.
Wie ist es wirklich gewesen? Sowjetrußland hat die Lage — ich wiederhole es —, die heute besteht, selbst heraufbeschworen. Es war ein grundsätzlicher Fehler der westlichen Politik, nach dem letzten Weltkriege die Waffen wegzulegen und nach Hause zu gehen in dem Glauben, daß nun alles gut gehen werde. Sowjetrußland hat diese Pause ausgenutzt. Sie wissen das genau so gut wie wir. Erst von Berlin, erst von Griechenland, von Korea ab trat dann die gegenläufige Entwicklung ein. Sowjetrußland hat seine Expansion nicht aus freiem Willen gestoppt, sondern weil diese gegenläufige Entwicklung des Westens begann.
Schön, wir werden den Sowjetrussen sagen: wenn ihr Sicherheit braucht, worauf habt ihr denn eure eigene Sicherheit aufgebaut, worauf wollt ihr sie aufbauen? Kollektives Sicherheitssystem? — Gut, akzeptiert. Aber ihr seid dazu noch bis an die Zähne bewaffnet, und ihr wißt ganz genau, daß ihr kein kollektives Sicherheitssystem annehmen würdet, ohne daß ihr erst diese sehr realen Voraussetzungen im eigenen Verteidigungsraum geschaffen hättet. Also habt bitte auch Verständnis für die andere Seite!
Und zur anderen Seite gehört nun einmal nicht nur die Neue Welt, gehören nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika, zur anderen Seite gehören auch wir. Einer der Ihren, Herr Wenzel Jaksch, hat bei einer Gelegenheit völlig richtig ausgesprochen, worum es geht. Es geht darum, daß bei dem von Ihnen vorgestellten kollektiven Sicherheitssystem unser ganzes Schicksal ausschließlich von dem guten Willen Moskaus abhängig wäre, sich an die Pakte zu halten. Ich bestreite nicht, meine Damen und Herren, daß es auch einmal einen Zeitpunkt geben kann, wo man vielleicht in Moskau nicht nur taktisch, sondern sogar strategisch seine Politik ändert. Nichts in dieser Welt ist ewig, auch in Moskau nicht. Aber berechtigt uns irgendein Anzeichen, irgendein Vorkommnis in der sowjetrussischen Politik, anzunehmen, daß dieser Zeitpunkt heute etwa schon eingetreten sei? Ich möchte den in diesem Saale sehen, der diese These aufzustellen wagen könnte!
In Sowjetrußland hat sich taktisch vielerlei geändert, und man muß das mit Aufmerksamkeit verfolgen. Wir werden es ganz bestimmt tun. Ich habe schon oft genug gesagt, schon allein die sogenannte friedliche Koexistenz bedeutet bei all ihrer Problematik viel, d. h. daß Sowjetrußland
statt des heißen Krieges für eine gewisse Zeit den politisch-propagandistischen Krieg gewählt hat.
Nun sagen Sie: aber wenn Sie nach Moskau kommen — ich will dem Herrn Bundeskanzler gewiß nicht vorgreifen —, dann werden Ihnen Fragen vorgelegt werden, und Sie haben mit Ja oder Nein zu antworten. Entschuldigen Sie, ich stelle mir das Gespräch ein bißchen anders vor.
Beide Seiten werden Fragen stellen, beide Seiten werden Antworten geben, und aus Frage und Antwort wird sich ein Gespräch entwickeln.
— Lieber Herr Kollege, Sie erwarten immer Wunder. Sie glauben, daß von heute auf morgen sich die erstarrten Fronten der Welt auflösen und die Blöcke wegschmelzen wie Schnee an der Frühlingssonne. So einfach ist es nicht, Blöcke aufzulösen.
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege Schoettle, dann will ich Ihnen antworten. Nicht Sie, aber Ihr Kollege Professor Schmid hat gesagt, man müsse eine Politik treiben, die die Blöcke auflöst.
— Gut, das ist schon sehr viel. Es klang nur nicht so überzeugend.
Wenn Sie aber sagen, daß das lange dauern wird, dann können Sie nicht im gleichen Atemzug verlangen, daß zwar die Blöcke langsam und allmählich auftauen, daß aber die deutsche Wiedervereinigung von uns wie aus dem Zauberhut dem deutschen Volk übermorgen präsentiert wird.
Die Möglichkeiten der Verhandlung mit Sowjetrußland sind doch wirklich nicht so beschränkt. Wenn der schlimmste Fall einträte, daß die Sowjetrussen ihr Ja zu einer deutschen Wiedervereinigung wirklich nur unter der Bedingung der Bündnislosigkeit Deutschlands gäben, warum akzeptieren Sie das von vornherein als Ihre einzige Arbeitshypothese?
Lassen Sie uns doch einmal abwarten, wozu dieses Gespräch führt, wozu man in Moskau bereit ist, wenn wir unseren Standpunkt klarlegen. Wir können den Sowjetrussen ganz ehrlich sagen: Seht, das ist unsere Konzeption; wir wollen die Wiedervereinigung, aber wir wollen diese Wiedervereinigung in wirklicher Freiheit, d. h. in gesicherter Freiheit, und das können wir nur haben, wenn die Dinge in Westeuropa soundso ausgehen.
Ich weiß, daß es das große Anliegen der sowjetrussischen Politik ist, die amerikanischen Stützpunkte aus Westeuropa wegzubekommen. Gut, dann müssen die Sowjetrussen dazu beitragen, daß die sowohl für die westliche Politik als auch für uns selbst annehmbaren Voraussetzungen geschaffen werden, die es erlauben, jene Stützpunkte aufzugeben!
Welches sind diese Voraussetzungen? Wir müssen eine Lage schaffen, bei der auch Westeuropa nicht — und jetzt komme ich auf Gedankengänge Ihres Kollegen Herrn Wenzel Jaksch zurück — in einer praktisch wehrlosen Situation belassen wird, die zwar vielleicht in einem Konfliktsfall Sanktionen der westlichen Welt, aber verspätete Sanktionen, auslösen könnte. Wir wissen doch, wie problematisch solche Sanktionen sind.
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben wir gefährliche Beispiele erlebt. Die Frage, ob wirklich Sanktionen ausgelöst würden, hängt j a weitgehend auch davon ab, wie die übrige Welt zum Angriffsobjekt innerlich, gefühlsmäßig steht. Ich glaube, es ist nicht mehr als gut und nützlich, wenn wir in dieser Stunde anläßlich der Einladung, die von Moskau ausgegangen ist, der westlichen Welt nicht den Verdacht geben, wir seien Situationspolitiker, die je nachdem ihr Fähnlein nach dem Winde hängen.
Wir haben unsere Freunde gewählt. Das bedeutet nicht, daß wir unsere Feinde gewählt haben. Wir wollen mit Rußland keine Feindschaft. Aber wir müssen mit der Tatsache, mit dem Phänomen Sowjetrußland rechnen, so wie es nun einmal ist.
Immer, wenn ich die außenpolitischen Darlegungen der Sozialdemokratischen Partei höre, vermisse ich eins: den Hinweis darauf, daß es sich bei Sowjetrußland eben einfach nicht mehr um eine Macht im überlieferten Sinne des Wortes handelt, mit der man paktieren kann, so wie man ehedem paktiert hat — man hat schon da schlechte Erfahrungen genug gemacht —, sondern daß es sich bei Sowjetrußland um etwas qualitativ anderes handelt, um eine Macht, die verbündet ist mit einer weltrevolutionären aggressiven Ideologie. Es klingt allmählich banal, wenn man es tausendmal wiederholen muß, aber es wird doch deswegen nicht weniger wahr. Ich weiß nicht, ob ich es bei einer dieser Debatten schon erwähnt wabe: während der Weimarer Zeit, als Deutschland der einzige Verbündete Sowjetrußlands war, ist jedes Jahr einmal in der „Iswestija" oder „Prawda" ein Artikel erschienen, oder ein bolschewistischer Führer hat eine Rede gehalten, worin es hieß, das Bündnis mit Deutschland — Rapallo — gelte nur auf Widerruf, bis nämlich Deutschland für die kommunistische Revolution reif geworden sei. Und Stresemann mußte sich drei Jahre nach dem Berliner Vertrag, 1929, in Moskau offiziell darüber beklagen, daß eine ihm nachgebildete Strohpuppe bei der Maifeier des Jahres 1929, am Galgen hängend, über den Roten Platz getragen wurde. Dieses unheimliche Phänomen müssen wir in Rechnung stellen.
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die gewisse Anzeichen mindestens erheblicher taktischer Änderung der Politik Moskaus — ich wiederhole es — einfach übersehen wollen, und deshalb begrüße ich alle Möglichkeiten eines Gesprächs. Wir müssen dabei nur von vornherein — es nützte gar nichts, wenn wir anders vorgehen würden — klarmachen, was wir wirklich wollen. Die Leute in Moskau sind Realisten. Ihre bisherige Politik hat gezeigt, daß der Schwache von ihnen immer niedergewalzt worden ist.
Derjenige dagegen, der wußte, was er wollte und der auf seinem Standpunkt unter Berücksichtigung auch der Bedürfnisse der Sowjetunion bestand, hat mehr Aussicht auf erfolgreiche Verhandlungen, als, glaube ich, Ihre Politik das haben würde.
Ich bin sogar im Gegenteil fest davon überzeugt, meine Herren von der Sozialdemokratie: Wenn wir das Glück gehabt hätten, daß wir uns in den letzten Jahren wenigstens auf außenpolitischem Gebiet gefunden hätten, wenn hinter dieser Außenpolitik, die mit einem etwas unglücklichen Ausdruck „Politik der Stärke" genannt wurde — sie ist ja in Wirklichkeit eine Politik des Ausgleichs oder des Kräftegleichgewichts —, dieses ganze Haus und das ganze Volk gestanden hätten und wir mit dieser großartigen Einmütigkeit nach Moskau kämen, — glauben Sie nicht, daß dann die Chancen einer deutschen Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit ungeheuer viel größer geworden wären?!