Rede von
Dr.
Karl
Mocker
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(GB/BHE)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GB/BHE)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir dürfen nicht vergessen, daß Grundlage der heutigen Verhältnisse in Mitteleuropa und insbesondere in Deutschland die Konferenz von Jalta ist. In Jalta waren die Absprachen von Feindseligkeiten, ja Haß und unbeherrschtern Siegerwillen diktiert. Dieses Vorgehen der damaligen Alliierten wirkt soweit verständlich, als es dem Bestreben diente, den seinerzeitigen gemeinsamen Feind endgültig niederzuschlagen und ein verhaßtes Regime auszurotten, wenn auch heute gerade die seitherige Entwicklung wieder einmal eindeutig demonstriert, daß sich ein Sieger auf dem Höhepunkt seines Triumphes nicht von Haßgefühlen leiten lassen, sondern vielmehr maßhalten sollte, wenn er nicht eines Tages wegen seines Hasses selbst Leidtragender werden will.
Die in Jalta beschlossenen Maßnahmen trafen und beseitigten aber nicht bloß das damalige System Deutschlands, sondern trafen vor allem auch das deutsche Volk. Niemand wird behaupten wollen, daß die Aufrechterhaltung von Maßnahmen gegen ein Volk, welche von Feindseligkeit diktiert sind, Grundlage einer friedlichen Entwicklung oder gar Freundschaft sein könne. Ein so hart getroffenes Volk wie das deutsche wird genau registrieren, wo ein Abrücken von dieser feindseligen Einstellung und den darauf fußenden Maßnahmen erfolgt und wo nicht. Das ist eine Selbstverständlichkeit bei jedem, der das einem Besiegten über das notwendige Maß hinaus auferlegte Joch zu spüren bekommt. Er wird dankbar die Hand eines jeden ergreifen, der sie ihm entgegenstreckt, um ihn zu einem gleichberechtigten Partner in Frieden und Freiheit zu machen, und darum geht es doch in erster Linie in der nächsten Zeit bei allen Wiedervereinigungsgesprächen.
Selbst das, was Jalta als Deutschland übriggelassen hat, ist heute in zwei Teile zerrissen. Es gilt also vorerst doch, diese Zerreißung aufzuheben und wenigstens das, was heute Deutschland heißt, zu einem einheitlichen Staat zu machen. Dann erst wird es einen Partner Deutschland zur Behandlung und Lösung aller weiteren Probleme geben, bei welchen die Mitwirkung Deutschlands notwendig ist.
Nun erklärt nicht nur der Westen, sondern auch der Osten, die Wiedervereinigung, d. h. die Zusammenführung der Bundesrepublik mit der Sowjetzone, zu wollen. Der Unterschied besteht aber darin, daß der Westen bereit ist, diese Vereinigung durch den freien Willen des deutschen Volkes sich vollziehen zu lassen, während der Osten zwar auch von Wiedervereinigung in Freiheit spricht, aber Bedingungen und Voraussetzungen an seine Zustimmung zur Wiedervereinigung knüpft, die nicht dem Wesen wahrer Freiheit entsprechen und von vornherein ausschließen, daß Deutschland ein gleichberechtigter Partner in Frieden und Freiheit wird. Wir haben volles Verständnis dafür, daß die Sowjetunion Kautelen eingebaut sehen will, damit nicht etwa dieses Deutschland in Zukunft direkt oder indirekt mit zum Instrument der Gefährdung ihrer Sicherheit werden kann. Wir können aber für ein Mehr, das noch in den Bedingungen der Sowjetunion enthalten ist, kein Verständnis aufbringen, da dies zu einem unfreien Deutschland führen würde, zu einem Deutschland, das niemals Partner echter Friedensverhandlungen sein könnte
Meine Fraktion ist der Ansicht, daß dem Wunsche des deutschen Volkes nach Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit und dem Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion am besten entsprochen werden kann, wenn die Deutschlandfrage nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der Errichtung eines Sicherheitssystems, das auf einer allgemeinen Abrüstung fußt, beraten werden würde. Gerade in dieser Spanne liegen die verschiedensten Lösungsmöglichkeiten, die aber nur von jenen Mächten gefunden werden können, die tatsächlich die Abrüstung durchzuführen haben, die aber nicht herbeigeführt werden kann durch neuerliche Vorleistungen der Bundesrepublik selbst, noch dazu auf Kosten der Vertragstreue.
Es wird entgegengehalten, daß diesem Verfahren die Pariser Verträge entgegenstünden. Dem vermag ich nicht zuzustimmen, denn die Verträge sehen gerade für den Fall der Wiedervereinigung die Möglichkeit von Modifikationen vor.
Es wurde auch gesagt, daß die Sowjetunion nach der Ratifizierung der Verträge zu irgendwelchen Gesprächen nicht mehr bereit sein würde. Das hat sich nicht nur nicht bewahrheitet, sondern es wird sogar behauptet, daß die Pariser Verträge die Wiedervereinigungsverhandlungen erst in Gang gebracht und die Bereitschaft der Sowjetunion hierzu herbeigeführt hätten. Andere wieder bestreiten dieses Faktum. Dem sei nun, wie ihm wolle. Jedenfalls steht fest, daß diese Bereitschaft der Sowjetunion sich erst seit dem Bestehen der Verträge zeigt.
Im übrigen glaube ich, daß die Lehre, die manche aus der Entwicklung ziehen, die zum österreichischen Staatsvertrag führte, dem wahren Sachverhalt am nächsten kommt, nämlich daß Rußland dann, wenn es einmal aus irgendwelchen Gründen eine Einigung wünscht, auch zu realen Verhandlungen bereit ist. Solange das aber nicht der Fall ist, sind sämtliche Konzessionen vom Westen her nur geeignet, Moskau anzureizen, seine Bedingungen höher zu schrauben, um eine bessere Ausgangsposition für mögliche spätere Gespräche zu haben.
Die SPD verlangt nun, daß jetzt eine Modifikation der Verträge bzw. ein Verzicht Deutschlands
auf die Mitgliedschaft bei der NATO herbeigeführt und daß mit der Durchführung der Verträge zugewartet werden soll.
Meine Fraktion hält es für gefährlich, so zu taktieren. Die Verträge sind, wie man zu ihnen auch vorher gestanden haben mag, nun einmal ratifiziert; sie sind also eine politische Realität, die eben da ist. Die Bundesrepublik hat die Vertragsbestimmungen zu respektieren und den Bestand der Verträge mit zur Grundlage ihrer Politik zu machen. Es darf daher nichts geschehen, was geeignet wäre, bei den Vertragspartnern Zweifel an der Vertragstreue aufkommen zu lassen. Dies würde nur zum Schaden des deutschen Volkes die Meinung in der Welt neu beleben — meiner Ansicht nach ist sie unberechtigt, aber sie besteht —, daß wir Deutsche Verträge nicht halten.
Wenn mir entgegengehalten wird, daß eine solche Regelung nur im Einvernehmen mit den Vertragspartnern herbeigeführt werden soll, dann muß ich sagen, daß allein schon die Äußerung eines solchen Wunsches zu diesem Mißtrauen in der Welt führt Die Verträge sind nun einmal Bestandteil der Politik der Bundesrepublik, weil sie als verpflichtender politischer Faktor vorhanden sind.
Ich unterstelle einmal, daß Herr Ollenhauer morgen die Bundesregierung zu bilden hätte und sie dann führte. Er stände damit vor der Entscheidung, ob er bei der Behandlung der Deutschlandfrage die Verträge respektieren will oder nicht. Ich bin überzeugt, daß er die Verträge respektierte und sehr darauf bedacht wäre, als treuer und fairer Vertragspartner zu gelten. Von dem aber, wozu die Sozialdemokratische Partei hinsichtlich einer deutschen Politik als Regierungspartei verpflichtet wäre, ist sie meiner Ansicht nach als Oppositionspartei nicht befreit.
Meine Fraktion steht auf dem Standpunkt, daß unbeschadet dieser Vertragstreue alle Möglichkeiten, die die Verträge geben, zu einer Ostpolitik in deutschem Sinne und im vollem Umfange auszuschöpfen sind. Dies werden wir um so mehr und in einem um so größeren Umfange tun können, je weniger Zweifel wir an unserer Vertragstreue aufkommen lassen. Wir müssen Möglichkeiten zu dieser Ostpolitik schon deshalb voll ausschöpfen, um der Sowjetunion zu zeigen, daß unser Beitritt zu den Verträgen kein gegen sie gerichteter Akt ist, sondern nur zur Erhaltung unserer Freiheit erfolgt ist.
Die Sowjetunion macht den Vorschlag, ein wiedervereinigtes Deutschland in einen neutralisierten Sicherheitsgürtel einzubeziehen. Eine Neutralisierung Deutschlands lehnt meine Fraktion entschieden ab. Wir halten im Zeitalter der modernen Waffen nichts von einem cordon sanitaire. Es wäre auch nur eine Frage der Zeit, bis ein neutralisiertes Deutschland zwischen den beiden Machtblöcken zerrieben wäre. Ein Volk von 70 Millionen und von der Tradition des deutschen Volkes zu neutralisieren, hieße, es zu entmachten, es zur Bedeutungslosigkeit herabzuwürdigen und es der völligen Unsicherheit preiszugeben.
Auch andere Überlegungen können nur zur Ablehnung einer Neutralisierung Deutschlands führen. Es wird wohl so sein, daß die sowjetischen Bemühungen, einen Neutralitätsgürtel zu bilden, ernst gemeint sind. Nach sowjetischer Auflassung
müssen aber von diesem Neutralitätsgürtel unbedingt die „Volksdemokratien", also die Satelliten, ausgeschlossen sein. Es sollen also für einen solchen Gürtel nur solche Staaten in Frage kommen, die zum Westen gehören.
Die Neutralisierung dieser westlichen Staaten stellt sich die Sowjetunion nach dem österreichischen Muster vor. Danach ist jeder dieser Staaten im Neutralitätsgürtel zwar politisch zum Westen gehörig, weil zur Zeit auch gar keine andere Möglichkeit besteht, wirtschaftlich ist aber ein solcher Staat eng an den Ostblock angeschlossen und schließlich militärisch auf jeden Fall schwach. Für den engen wirtschaftlichen Anschluß kann als Muster der § 2 des österreichischen Staatsvertrages gelten. Österreich hat mit diesem hohen Preis wohl erreichen wollen, unter allen Umständen die russische Besatzung loszuwerden. Der Westen konnte aus Prestigegründen nicht nein sagen, und außerdem kann er auch die Neutralisierung eines kleinen Staates wie Österreich verkraften. Österreich kann also als der erste Erfolg der sowjetischen Neutralisierungspolitik angesehen werden. Der Umstand, daß die Manöver der Balkanpakt-Staaten an der bulgarischen Grenze abgesagt wurden, wird dahin gedeutet, daß der Balkanpakt militärisch erledigt sei. Schließlich besteht auch noch die Vermutung, daß der Besuch Gromykos am Ende vorigen Jahres in Stockholm dem Ziel diente, den Neutralitätsgürtel zu erweitern. Auf die darauf folgende amerikanische Forderung, daß zu einem Neutralitätsgürtel auch die „Volksdemokratien"
müßten, hat die Sowjetunion sehr scharf erklärt, diese Forderung sei unannehmbar.
Die Sowjetunion bekräftigte diesen ihren Standpunkt, indem sie wenige Tage später den Warschauer Vertrag abschloß, der in den §§ 5, 6 und 7 die Volksdemokratien politisch, wirtschaftlich und militärisch auf 20 Jahre an die Sowjetunion fesselt. Gleichzeitig hat eine Kampagne in der Sowjetunion und vor allem auch in den Volksdemokratien gegen jeden Versuch einer Neutralisierung der Volksdemokratien begonnen.
Diese Tatsachen zeigen, daß die Sowjetunion einen neutralen Gürtel quer durch Europa will, daß sie aber nicht bereit ist, dafür auch nur einen Fußbreit Baden aus ihrem Machtbereich freizugeben. Die Opfer für diese Neutralisierung soll nur der Westen bringen. Es zeichnet sich also damit klar das Ziel ab, daß die Sowjetunion einen ganzen Gürtel von Staaten aus dem Westen herauslösen, auf diese Weise die westliche Front aufbrechen und die Verteidigungsmöglichkeit des Westens auf einen schmalen Rand beschränken will, der fraglos für ein wiedervereinigtes Deutschland keine Sicherheit mehr bedeuten würde. Die Verteidigungsbaues und damit die Sicherheit für ein wiedervereinigtes Deutschland wäre selbst dann nicht größer, wenn die Sowjetunion im Zuge von Verhandlungen gestatten sollte, in den Neutralitätsgürtel auch noch Satellitenstaaten aufzunehmen.
Aus diesen Gründen ergibt sich im Hinblick auf die Freiheit und Sicherheit eines wiedervereinigten Deutschlands der Schluß, daß die Einbeziehung Deutschlands in einen Neutralitätsgürtel, also eine Neutralisierung, abgelehnt werden muß. Die Ablehnung eines Neutralitätsgürtels bedeutet nicht auch eine Ablehnung des Sicherheitsbedürfnisses der Sowjetunion — ich habe bereits gesagt, daß wir ein Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion anerkennen —; es muß aber auch ein Sicherheitsbedürfnis Deutschlands anerkannt und berücksichtigt werden.
Dem Verlangen nach allseitiger Sicherheit kann nicht durch einen Sicherheitsgürtel quer durch Europa, sondern nur durch eine kontrollierte Abrüstung im Rahmen eines allgemeinen Sicherheitssystems Rechnung getragen werden. In Verbindung damit sollte es bei gutem Willen aller Mächte möglich sein, die Bundesrepublik mit der Sowjetzone zu einem einheitlichen deutschen Staat zu vereinen, der allein erst Partner eines Friedensvertrages sein kann. Alle weiteren Probleme Deutschlands müssen den Verhandlungen über diesen Friedensvertrag vorbehalten bleiben.
Für die Wiedervereinigung auf diesem Wege haben wir alle unsere Kräfte einzusetzen. Es muß der Welt klar sein, daß es ohne die Wiedervereinigung keine Entspannung gibt. Es ist gut und notwendig, wenn wir unsere Vorstellungen darüber sorgfältig vorbereiten. Es ist aber schlecht, alle möglichen Lösungen in aller Breite zu erörtern und die verschiedensten Rezepte anzupreisen. Ein Verhandlungspartner wird weder ernst genommen, noch hat er Erfolg, wenn er sich vorher durch Geschwätzigkeit alle Vorteile seiner Verhandlungsposition beraubt.
Ich glaube, daß wir gut tun, diese Erfahrungstatsache besonders hier zu berücksichtigen.