Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat zu Beginn seiner heutigen außenpolitischen Erklärung davon gesprochen, daß der Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit ein Recht darauf hätten, über die vergangenen internationalen Verhandlungen und die Stellungnahme der Bundesregierung informiert zu werden. Das war eine sehr interessante Feststellung in Zusammenhang mit der Tatsache, daß wir ja den Herrn Bundeskanzler erst durch die Einbringung einer Großen Anfrage zum Reden über diese Frage in diesem Hause veranlassen konnten.
Es scheint mir, Herr Bundeskanzler, wir haben auf diese Weise wenigstens erreicht, daß sich sozusagen Ihr besseres Ich gegenüber dem Parlament durchgesetzt hat
'
und Ihnen die Möglichkeit gegeben hat, hier Ihre Auffassungen über die außenpolitische Lage zu entwickeln. Ich stelle das deshalb fest, weil das kein Einzelfall ist und nicht das erste Mal geschah. Wenn ich daran denke, wieviel außenpolitische Erklärungen und Stellungnahmen des Herrn Bundeskanzlers wir während der Pariser Konferenz vor der Presse erlebt haben, und wenn ich daran denke, welche große Aktivität in außenpolitischen Fragen in den letzten Tagen völlig abseits des Parlaments erfolgt ist, dann muß ich schon sagen, daß hier offensichtlich eine absolut unbefriedigende Beziehung zwischen Regierung und Parlament vorliegt.
Ich habe nicht die Hoffnung, daß diese Feststellung einer bitteren und für die parlamentarische Ordnung in unserem Lande sehr schwerwiegenden Erfahrung für die Zukunft irgendeine Besserung bringen wird, weil sich auch die Mehrheit dieses Hauses mit der weitgehenden Ausschaltung des Parlaments immer wieder abgefunden hat.
Das zweite, was ich sagen möchte, ist, auch im Hinblick auf die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers, daß er hier dargelegt hat, es sei ja nicht möglich, internationale Verhandlungen so komplizierter Art vor einem so großen Gremium wie dem Plenum des Bundestages zu behandeln. Niemand von uns hat das jemals verlangt. Wir haben darüber hier sogar Aussprachen gehabt, daß die Führung solcher Verhandlungen im Konkreten Aufgabe der Exekutive ist und bleiben muß, daß aber auf der anderen Seite ein normal funktionierendes parlamentarisches System es der Regierung immer von neuem nahelegt, wenigstens vertraulich das Parlament in geeigneter Weise über den Gang der Dinge zu informieren und auf seinen Rat zu hören.
Das Bedauerliche ist, daß uns auch die heutigen Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers nur sehr geringe Hoffnung geben, daß wir zu einer solchen vernünftigen und für die Sache nötigen Regelung kommen werden.
Außerdem, was hier not tut und was hier not tat, war nicht eine Diskussion der Einzelheiten, etwa der Besprechungen über die Richtlinien für die deutschen Mitglieder des vorbereitenden Ausschusses in London, sondern ich finde, auch die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers haben den Beweis dafür erbracht, daß ein dringendes Bedürfnis dafür vorlag, sich hier einmal über die internationale Situation klarzuwerden, um zu wissen, auf welchem gegenüber der Berliner Konferenz von 1954 sehr verschiedenen Hintergrund sich aller Voraussicht nach die Verhandlungen einer neuen Viermächtekonferenz abspielen werden und welche Rolle, welche Position in diesem Zusammenhang die deutsche Frage haben wird. Ich finde, die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers ist der beste Beweis für die Notwendigkeit, hier eine solche Aussprache zu haben. Wir haben auch deshalb darauf gedrängt, weil uns daran lag, mindestens als Sozialdemokraten vor dem Hause und vor der Öffentlichkeit unsere Auffassung darzulegen. Ich werde das versuchen in gewisser Ergänzung zu den Ausführungen meines Freundes Wehner und auch in Erwiderung auf einige Ansichten, die der Herr Bundeskanzler in seiner heutigen Erklärung vorgetragen hat.
Ich möchte mit einer Bemerkung beginnen. Der Herr Bundeskanzler hat hier — verständlicherweise unter lebhaftem Beifall der Mehrheit — die These vertreten, daß die jetzt in Aussicht stehende Viermächtekonferenz niemals ohne die Ratifizierung der Pariser Verträge zustande gekommen wäre. Nun, meine Damen und Herren, ob in bezug auf die deutsche Frage die Aussichten für eine positive Lösung auf der kommenden Viermächtekonferenz durch die Ratifizierung der Pariser Verträge vergrößert worden sind, das ist noch offen.
Ich würde Ihnen sehr empfehlen, auch da mit Vorsieht erst die weitere Entwicklung abzuwarten,
Das, was ich in diesem Zusammenhang sagen möchte, ist etwas ganz anderes. Wenn wir an die kommenden internationalen Unterhaltungen und Verhandlungen unter der Vorstellung herangehen: diese Verhandlungen haben wir sozusagen auf der europäischen Ebene durch die Ratifizierung der Pariser Verträge erzwungen, dann werden wir sehr schnell feststellen, daß wir mit dieser Ausgangsposition der gegenwärtigen internationalen Lage und dem wirklichen Hintergrund für die Bereitschaft der Vier, eine neue Viermächtekonferenz abzuhalten, einfach nicht gerecht werden.
Es sind ja ganz andere Dinge im Fluß, Dinge, von denen ich meine, sie hätten in der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers oder in der Schilderung der internationalen Situation vor den neuen Viermächteverhandlungen auch etwas mehr Gewicht haben können.
Dabei möchte ich keine, auch nicht die geringste kritische Bemerkung zu dem machen, was der Herr Bundeskanzler über die Bedeutung, die Lebensnotwendigkeit einer allgemeinen, international kontrollierten Abrüstung gesagt hat. Ich möchte ausdrücklich von vornherein, damit diese Feststellung nicht in irgendeinen Zusammenhang mit späteren polemischen Bemerkungen kommt, unterstreichen, daß die sozialdemokratische Fraktion des Bundestags in dieser Richtung völlig einig ist mit der Regierung in ihrer Vorstellung, daß die Inangriffnahme einer allgemeinen, international kontrollierten Abrüstung eine Lebens- und Schicksalsfrage für die ganze Menschheit geworden ist
und daß wir unbeschadet unserer sonstigen Meinungsverschiedenheiten in anderen wichtigen Fragen selbstverständlich alles tun werden, um gemeinsam, soweit es in deutschen Kräften liegt, einen Erfog zu erzielen.
Mir lag daran, das voranzustellen. Aber ich schließe an diese Feststellung den Hinweis darauf an, daß uns die Herausstellung der allgemeinen und international kontrollierten Abrüstung ja schon zeigt, daß die internationale Politik in den letzten Monaten auf einer ganzen Reihe von Gebieten und, meine Damen und Herren, auf beiden Seiten der Weltmächte in Bewegung gekommen ist, nicht nur auf der Seite der Sowjetunion.
Wenn wir heute mit einer gewissen Hoffnung und einer gewissen Aussicht auf Erfolg einer neuen Viermächtekonferenz entgegensehen, so spielen dafür nicht irgendwelche Bemerkungen der Prawda, wie der Herr Bundeskanzler -sagt, eine Rolle, sondern sehr reale Dinge, die sich ereignet haben, z. B. die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages, der möglich geworden ist. weil die russische Regierung entgegen ihrer Haltung auf der Berliner Konferenz die Lösung der ÖsterreichFrage nicht mehr von der Frage der deutschen Wiederaufrüstung abhhängig gemacht hat.
— Darüber ließe sich eine ganze Menge sagen, Herr Kiesinger. Ich komme darauf zurück.
Das zweite ist, daß die Sowjetunion, wiederum auf der europäischen Ebene, in bezug auf die Eingliederung der Sowjetzone in den Militärblock des Ostens auf der Warschauer Konferenz einige sehr bemerkenswerte Einschränkungen vorgenommen hat, nämlich die Einfügung einer Kündigungsklausel und die vorläufige Ausklammerung der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands aus der militärischen Aufrüstung im Ostblock.
Schließlich haben wir einige andere Ereignisse auf politischem Gebiet, etwa den jetzt in Belgrad stattfindenden Besuch einer sehr repräsentativen Delegation der Sowjetunion, der wohl in erster Linie als eine sehr hohe Anerkennung des Erfolgs der gegenwärtigen jugoslawischen Regierung im Kampf um eine unabhängige Politik dieses Landes gewertet werden muß.
Der Herr Bundeskanzler hat ferner schon darauf hingewiesen, daß die Sowjetunion in einem Entschließungsentwurf an die Vereinten Nationen neue Vorschläge für die internationale Abrüstung gemacht hat. Sicher enthalten auch diese Vorschläge noch eine ganze Reihe von Problemen, die sehr ernsthaft untersucht werden müssen. Aber niemand, der die Verhandlungen der letzten Monate, vor allen Dingen in London, verfolgt hat, bestreitet, daß die Sowjetunion in der Frage der Abrüstung hier zum erstenmal sehr konkrete und weitergehende Vorschläge als jemals zuvor gemacht und damit eine gewisse Annäherung der Ansichten zwischen den Hauptbeteiligten ermöglicht hat.
Es bleiben sehr ernste Probleme offen, z. B. die Frage der internationalen Kontrolle einer solchen schrittweise durchgeführten Abrüstung. Aber es wäre falsch, wollten wir die positive Bedeutung dieses Schrittes in der Richtung einer allgemeinen Entspannung in der Welt unterschlagen.
Schließlich, meine Damen und Herren, um in diesem Zusammenhang noch ein solches Beispiel zu I nennen: Ich glaube, wir können die Bedeutung der Tatsache nicht unterschätzen, daß durch die veränderte Haltung der Pekinger Regierung, durch das Angebot des chinesischen Außenministers, direkt mit der amerikanischen Regierung über die Krise in der Formosa-Straße zu verhandeln, eine Chance für eine ernsthafte Entspannung im Fernen Osten und für eine mögliche friedliche Beilegung der dort anstehenden Konflikte gegeben ist. Das sind nicht mehr Ankündigungen oder Versprechungen oder Mutmaßungen, sondern das sind Realitäten, die sich in den letzten Monaten im praktischen Verhalten der Sowjetunion abgespielt haben.
Ähnliche bedeutsame Entwicklungen sehen wir aber auch auf der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben offensichtlich eine weitgehende Änderung der früheren außenpolitischen Haltung der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika im Fernen Osten. Ich glaube, wir können heute diese Veränderung der außenpolitischen Haltung der amerikanischen Regierung im Fernen Osten in ihrer Bedeutung und in ihrer Auswirkung für die Europapolitik der Vereinigten Staaten noch längst nicht im vollen Umfang übersehen.
In jedem Fall bedeutet es für die außenpolitische Konzeption der amerikanischen Regierung eine entscheidende Wendung, daß der amerikanische Außenminister den Vorschlag des Pekinger Außenministers zu direkten Verhandlungen über die Formosa-Frage im Prinzip angenommen hat. Wer weiß, welche entscheidende Rolle gerade die Frage der
erkennung oder Nichtanerkennung von Rotchina, die Frage der Aufnahme der heutigen chinesischen Regierung in die Vereinten Nationen, die Frage der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Peking und Washington gespielt haben, der kann ermessen, daß es sich hier nicht um eine x-beliebige, leichte, taktische, für den Tag berechnete Schwenkung handelt, sondern ,daß hier eine Änderung vorliegt, die weitgehende Hintergründe und Konsequenzen hat.
Ich möchte noch hinzufügen — das ist der letzte äußere Ausdruck dieser veränderten Haltung —: In der Geschichte der letzten Jahre, ich möchte sagen: des letzten Jahres wird wahrscheinlich eine andere Entscheidung des amerikanischen Präsidenten Eisenhower eine noch größere Rolle spielen, nämlich jene Entscheidung, es in der FormosaStraße nicht durch amerikanisches Eingreifen zu einem offenen Konflikt zwischen China und Amerika kommen zu lassen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Entscheidung 'des amerikanischen Präsidenten uns alle von der außerordentlich großen Gefahr eines dritten Weltkrieges für absehbare Zeit befreit 'hat.
Meine Damen und Herren, 'das ist natürlich etwas, was wir bei unseren Überlegungen über die Hintergründe der sich jetzt anbahnenden neuen Viermächteverhandlungen sehen müssen. Ich glaube, daß auf beiden Seiten aus verschiedenen Motiven innerpolitischer und militärischer Art sich die Erkenntnis durchsetzt, daß die weitere Entwicklung der internationalen Beziehungen auf der Ebene der Machtblockpolitik und auf 'der Ebene der unbeschränkten Aufrüstung mit den modernen Massenvernichtungswaffen unweigerlich zu einem Punkt führen muß, in dem eine Katastrophe unvermeidlich ist und in dem das geschieht, wovon der Herr Bundeskanzler mit Recht hier gesprochen hat: daß in einem solchem Fall die Vernichtung aller 'das einzig Sichere einer solchen Katastrophe sein wird.
Meine Damen und Herren, wenn das richtig ist — und ich finde, es kann darüber keine Meinungsverschiedenheit im Grundsätzlichen geben —, dann ergibt sich eine Frage: ob wir ganz gewiß sind, daß unter allen Umständen die heute von uns praktizierte Außenpolitik, ,die ,die Realisierung der Pariser Verträge zum Kernstück hat und die geboren ist aus und fundiert ist auf der amerikanischen Außenpolitik vom Jahre 1950, wirklich noch so unantastbar und unveränderlich vor uns stehen kann als ein undiskutabler Faktor oder nicht.
Ich sage das nicht polemisch, sondern es geht einfach darum, idaß wir, wenn wir in diese Verhandlungssituation gehen, uns doch überlegen: Ist der Ausgangspunkt, von dem wir die deutsche Frage angreifen — und wir haben uns in erster Linie und entscheidend um diese Frage zu kümmern —, wirklich so völlig unverändert etwa gegenüber dem Ausgangspunkt der Verhandlungen, wie wir sie im Januar 1954 gehabt haben? Denn diese neue Viermächtekonferenz ist eben — ich will gar nicht über den Grad sprechen — nicht auf jeden Fall, jedenfalls nicht in entscheidender Weise das Resultat der Ratifizierung der Pariser Verträge, sondern in entscheidender Weise das Resultat einer grundlegenden Veränderung
der Vorstellungen über die möglichen Beziehungen zwischen den 'beiden Hauptgruppen in der Welt auf einer anderen Ebene als auf der Weiterentwicklung einer Machtblockpolitik, wie sie sich ja schließlich in den Verträgen auf der westlichen Seite präsentiert.
Das ist der erste entscheidende Punkt, auf den wir Wert legen und den wir bei unseren weiteren Überlegungen in Betracht ziehen müssen.
Das Zweite - in idieser Überlegung bin ich durch die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers noch bestärkt worden —: Es ist keineswegs sicher, daß die Viermächtekonferenz, wenn sie zustande kommt, von vornherein einen Erfolg in der 'deutschen Frage sichert. Denn die Wiedervereinigung Deutschlands ist für die anderen beteiligten Staaten nicht das erste und einzige Problem ihrer Außenpolitik. Das vordringliche Interesse ist die allgemeine 'internationale und dauerhafte Entspannung. Und hier ist unsere Meinung: So voll wir die Forderung nach einer Förderung aller Bestrebungen unterstützen, zu einer effektiven internationalen Abrüstung zu kommen, so bleibt im Hinblick auf die kommende Viermächtekonferenz die Aufgabe der Bundesregierung, gerade in diesem Zusammenhang die überragende Bedeutung der Frage der deutschen Einheit 'ins Bewußtsein der Partner zu bringen, so vordringlich, wie sie noch niemals war.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren ja nicht im Prinzip über das Ziel: die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit. Der Herr Bundeskanzler hat hier im Zusammenhang mit unserem Anspruch auf die Sowjetzone die sehr richtige Bemerkung gemacht, daß dieser Anspruch unbestreitbar ist, daß wir ihn aus menschlichen und staatsrechtlichen nationalen Gründen selbstverständlich immer von neuem erheben müssen. Aber er hat, wahrscheinlich gegründet auf seine Erfahrungen in den Verhandlungen in der Saarfrage,
hinzugefügt, daß man gewisse machtpolitische Gegebenheiten respektieren muß. Und hier ist der Punkt: Es kommt darauf ran, daß wir die Wiedervereinigung dieser beiden Teile Deutschlands in den Zusammenhang bringen mit den allgemeinen Interessen deranderen Völker und ihrer Regierungen, die zu einer internationalen Entspannung kommen wollen.
Unser menschliches Interesse, die 18 Millionen Deutschen hinter dem Eisernen Vorhang aus der Not und aus der Unfreiheit zu erlösen, steht an erster Stelle und ist unbestritten von jedermann. Unbestritten ist auch unser berechtigtes nationales Interesse, zu einer solchen Wiedervereinigung Deutschlands zu kommen und dem deutschen Volke die Möglichkeit zu geben, nach den Grundsätzen zu leben, die allen Völkern den Anspruch auf die nationale und staatliche Einheit sichern. Darüber hinaus müssen wir deutlich machen, und zwar mit allen uns zur Verfügung stehenden Argumenten und Überlegungen, daß die Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands nicht eine nationale Frage, nicht eine Frage der Menschlichkeit, sondern eine Frage der Entspannung in Europa und in der Welt ist.
Denn, meine Damen und Herren, die Vorstellung
— das gilt auch für uns hier in der Bundes-
republik —, man könne in Westeuropa in Sicherheit und Frieden leben, solange Deutschland und damit Europa gespalten sind, — diese Vorstellung ist eine gefährliche Illusion.
Es kommt deshalb darauf an, daß wir in der Debatte, die sich auf dem Hintergrund des Bestrebens nach einer internationalen Entspannung entwickelt hat, auch die übernationale Bedeutung der Wiederherstellung der deutschen Einheit zum Bewußtsein der Verhandlungsträger machen. Ich finde: hier liegt die erste Aufgabe der Bundesregierung mit dem Ziel, zu erreichen, daß die Frage der Wiederherstellung der deutschen Einheit als vordringliches und zentrales Problem behandelt wird, und zwar unter zwei Gesichtspunkten.
So vordringlich und so umfassend das Problem der allgemeinen Abrüstung ist — es wird sich auch hier um einen langwierigen Prozeß handeln, ehe wir zu einem Erfolg kommen können —, unter keinen Umständen darf die Vorrangbedeutung der Abrüstung dahin gehen, daß wir uns damit abfinden, die Diskussion über die Wiederherstellung der deutschen Einheit könne nur ein Resultat einer erfolgreichen internationalen Abrüstung sein,
sondern wir müssen auf der Linie argumentieren, daß die Wiederherstellung der deutschen Einheit eine Abmachung über internationale Abrüstung erleichtert, weil sie einen entscheidenden Gefahrenpunkt in der europäischen Politik aus der Welt schafft. Ich hätte gewünscht, daß über diesen Zusammenhang dieser beiden Lebensfragen hier etwas Klareres und Deutlicheres gesagt worden wäre.
Und nun das Zweite. Ich bin der Meinung, daß die Bundesrepublik — oder die Bundesregierung, um es konkreter zu sagen — die uns gestellte Aufgabe in der Vorbereitung der kommenden Viermächteverhandlungen nicht erfüllt, wenn wir uns darauf beschränken, festzustellen, daß ja alle Partner, sowohl der Westeuropäischen Union wie der Nordatlantikpaktorganisation, feierlich und einmütig zum Ausdruck gebracht haben, daß sie sich bei jeder möglichen Gelegenheit für die Wiederherstellung der deutschen Einheit einsetzen werden.
Meine Damen und Herren, es ist hier sehr viel von der neuerworbenen Souveränität der Bundesrepublik gesprochen worden, und der Herr Bundeskanzler hat ihr heute eine so weitgehende Auslegung gegeben, daß ich hier ausdrücklich feststellen möchte, daß ich mit dieser Auslegung der Bedeutung des Generalvertrages nun in keiner Weise übereinstimme
und daß ja wohl inzwischen auch die Bevölkerung in der Bundesrepublik erfahren hat, daß die Grenzen der sogenannten Souveränität der Bundesrepublik auch heute viel enger liegen, als es der Herr Bundeskanzler heute hier hat erkennen lassen wollen.
Aber, meine Damen und Herren, ich will das Thema nicht vertiefen. Wir werden Gelegenheit haben, bei anderen Dingen, die auch sehr interessant sind, darauf zurückzukommen, und wir können dann einiges dazu bemerken. Ich sage nur folgendes: Wenn wir diese Freiheit, wenn wir dieses weitgehende Recht der Souveränität haben, von der der Herr Bundeskanzler gesprochen hat, auch in bezug auf außenpolitische Verhandlungen, dann schließt das doch auch die Pflicht ein, in den
kommenden Verhandlungen zur Vorbereitung der
Konferenz mindestens mit den Westmächten gewisse eigene deutsche Vorstellungen zu entwickeln.
Ich verrate hier kein Geheimnis, aber ich muß sagen: Unter den Äußerungen von ausländischen Freunden des Westens, die ich im Zusammenhang mit einer Unterhaltung über die internationale Lage in den letzten Tagen gehört habe, hat mich am meisten die einfache Feststellung bedrückt, daß es doch bei der Vorbereitung dieser Viermächteverhandlungen durch die drei Westmächte nicht nur darauf ankomme, daß sich die drei Westmächte den Kopf zerbrechen, welche Lösung möglich sei, sondern daß man auch erwarten könne, daß die Bundesregierung selbst eine Art von deutschem Verhandlungsvorschlag mache.
Ich empfinde das als eine sehr berechtigte Anforderung nicht nur im Hinblick auf konkrete Vorschläge für die Verhandlungen, sondern auch für die Frage: Was können wir oder was müssen wir hier tun, um die Verhandlungsituation so leicht wie möglich zu machen, auf jeden Fall keine neuen Erschwerungen zu schaffen?
Nun, meine Damen und Herren, Sie haben unseren Antrag vorliegen. Der Herr Bundeskanzler hat gesagt: Man kann doch nicht wenige Wochen nach der Ratifizierung der Verträge hier beschließen, ihre Durchführung einzustellen; wo bleibt dann unsere Glaubwürdigkeit?
Diese Frage der Vertragstreue, die Frage unseres Verhältnisses zu den Vertragspartnern steht hier doch gar nicht zur Debatte.
— Sie steht nicht zur Debatte! Niemand denkt daran — jedenfalls haben wir es nicht verlangt —, etwas anderes vorzuschlagen, als im Augenblick der Möglichkeit aussichtsreicher neuer Viermächteverhandlungen, die ja nicht nur in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands, sondern auch in der ganzen europäischen Situation eine neue Lage schaffen werden, oder bis zu diesem Zeitpunkt nichts an der Realisierung der militärischen Fakten dieser Verträge zu tun,
was in der gegenwärtigen Situation eine Erschwerung der Verhandlungslage bedeuten wird.
Denn, meine Damen und Herren, Sie können doch auf keinen Fall bei aller Ihrer Vorstellung von der Wunderwirkung der Pariser Verträge annehmen, daß die Sowjetunion bei Viermächteverhandlungen leichter bereit wird, sich über die deutsche Wiedervereinigung zu unterhalten, wenn sie feststellt. daß wir hier gar nichts anderes tun können, als die Realisierung gerade des militärischen Teils der Verträge zu forcieren.
Wenn ich hinzunehme, was der Herr Bundeskanzler über die militärische Bedeutung der 12 Divisionen gesagt hat,
wo bleibt dann der praktisch-politische Nutzen oder, wenn Sie wollen, der militärische Nutzen einer forcierten Aktion der Realisierung der Ver-
träge im nächsten halben Jahr angesichts der viel größeren Frage, ob diese Konferenz durch ein Stillhalten in der Bundesrepublik vielleicht ein Jota von größerer Chance nicht nur in der deutschen Frage, sondern auch in der Frage der internationalen Entspannung bekommt?!
Verstehen Sie doch, daß es hier nicht darum geht, die alten Gegensätze über die Zweckmäßigkeit, über den politischen Wert dieser Verträge in diesem Augenblick zu schüren, sondern wir bitten einfach darum, sich zu überlegen, ob nicht in der heute gegebenen veränderten Situation in dieser Richtung ein solcher Schritt ein positiver Beitrag der Bundesrepublik zur Wiederherstellung der deutschen Einheit sein kann.
Da niemand widerspricht, wenn wir — wann immer — die Frage hier aufgeworfen haben, daß für uns die Wiederherstellung der deutschen Einheit die vordringlichste Aufgabe ist, muß aus solchen feierlichen Bekenntnissen in einer solchen ernsten Situation auch eine praktische Konsequenz gezogen werden;
denn wir glauben, daß hier, wenn Sie wollen, ohne irgendeinen entscheidenden Verlust für die Position, die Sie sehen, ein solcher Schritt unternommen werden könnte. Wir würden es außerordentlich bedauern, wenn sich die Mehrheit dieses Hauses dem Rat des Herrn Bundeskanzlers anschlösse und den Vorschlag in unserem Antrag einfach ablehnte.
— Ich spreche über die heutige Situation. Wenn wir alle alten Reden wieder aufbringen wollen, dann kommen wir damit nicht zu Ende. Das hat der Herr Bundeskanzler auch schon festgestellt.
Nun gibt es einen anderen Punkt, der nicht weniger wichtig, vielleicht der entscheidende ist: Mit welcher Verhandlungsposition, nicht im Speziellen, sondern im Grundsätzlichen, wollen denn die Westmächte und wollen wir, soweit die Bundesregierung an den Vorbesprechungen beteiligt ist, in die Viermächteverhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung gehen? Der Herr Bundeskanzler hat heute erkennen lassen — was ich sehr begrüße —, daß auch er der Meinung ist, daß wir die neuen Viermächteverhandlungen nicht wieder auf der Ebene der Verhandlungsrichtlinien der Westmächte in Berlin 1954 beginnen können, daß nämlich die Frage der Wiederherstellung der deutschen Einheit nur zu behandeln ist unter dem Gesichtspunkt: Sind die Sowjets als vierte Besatzungsmacht bereit, solche freien Wahlen als Grundlage für die Wiederherstellung der deutschen Einheit zu akzeptieren oder nicht? Viele Gründe, die in der internationalen Situation gelegen haben, mögen zum Scheitern der Berliner Konferenz in der deutschen Frage geführt haben. Der entscheidende Grund war, daß sich herausgestellt hat: ein erfolgversprechendes Gespräch der Vier über die Wiedervereinigung ist nur möglich, wenn alle vier bereit sind, die Wiederherstellung der Einheit durch freie Wahlen und die Frage des internationalen Status eines wiedervereinigten Deutschlands als einen gemeinsamen Problemkomplex zu behandeln. Jeder andere Versuch wird diese Konferenz in eine Sackgasse führen müssen.
Wenn ich die Äußerungen der Bundesregierung und die allgemeine Tendenz der Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers richtig verstanden habe, so ist seine Meinung, daß man natürlich über den zukünftigen Status eines wiedervereinigten Deutschlands in Zukunft reden müsse, aber zunächst müsse es dabei bleiben, daß auf der Basis: freie Wahlen als Grundlage der Wiedervereinigung verhandelt werde; die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der NATO stehe nicht zur Diskussion. In der gegenwärtigen internationalen Lage eine Politik zu betreiben mit der Vorstellung von freien Wahlen und ohne Bereitschaft, auch über den internationalen Status zu verhandeln, in Viermächteverhandlungen zu gehen mit der Vorstellung, es wäre eine Viermächtevereinbarung möglich, die die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der NATO unantastbar läßt — eine solche Koppelung: freie Wahlen unter Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft der Bundesrepublik in NATO, meine Damen und Herren, ist praktisch, ob gewollt oder nicht gewollt, ein politisches Programm gegen die Realisierung der Wiedervereinigung;
— Herr Kollege von Brentano, Sie haben Zweifel? Aber ich möchte sehr gern von der Seite der Koalition und, wenn möglich, von der Regierung hören, wie sie sich eine Viermächtevereinbarung über die Wiederherstellung der deutschen Einheit vorstellt, wenn sie davon ausgeht, daß die Frage der Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der NATO nicht diskutiert werden kann. Meine Damen und Herren, man spricht jetzt in amtlichen oder halbamtlichen Diskussionen — das ist nicht immer ganz klar — mit solcher Vehemenz von der Entscheidungsfreiheit der gesamtdeutschen Regierung.