Das Haus hat die Antwort der Bundesregierung entgegengenommen. Nach der Besprechung im Altestenrat ist eine Aussprache über die Große Anfrage beabsichtigt.
— Wird nicht gewünscht? Dann frage ich zunächst einmal, ob eine Aussprache hierüber gewünscht wird. Nach § 106 der Geschäftsordnung müssen sich 30 Mitglieder des Hauses hierzu melden. Wird eine Aussprache gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann kann ich diesen Punkt der Tagesordnung abschließen.
Ich rufe auf Punkt 3 der Tagesordnung:
Große Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte .
Das Wort zur Begründung der Anfrage hat Herr Abgeordneter Odenthal.
Odenthal , Anfragender: Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Mit der Drucksache 1138 hat die Fraktion der SPD am 19. Januar dieses Jahres eine Große Anfrage eingereicht betreffend die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte im deutschen Raum. Wir hätten gern gesehen, daß der Herr Bundes wirtschaftsminister uns die Frage beantwortet hätte. Er ist sonst nicht zu übersehen; anscheinend ist er heute nicht anwesend. Aber nicht übersehen, auch nicht überhört werden darf die Unruhe, die draußen aus all den Verlautbarungen entstanden ist, die inzwischen in die Welt gegangen sind.
Meine Damen und Herren, warum eine solche Anfrage angesichts der noch bestehenden strukturellen Arbeitslosigkeit in der Deutschen Bundesrepublik? Ich möchte in aller Deutlichkeit vorausschicken, daß wir in aller Zeit niemals etwas dagegen hatten, ausländische Arbeitskräfte in Deutschland zu beschäftigen. Wir fragen uns aber: Ist die Zeit dazu da? Ist es nicht notwendig, zunächst im eigenen Hause Ordnung zu schaffen und dafür zu sorgen, daß die eigenen Arbeitslosen, die seit zehn Jahren auf Arbeit warten, in Arbeit und Existenz gelangen? Wenn das geschehen ist, kann man darüber reden, in welcher Ordnung und in welcher Größenordnung nun Ausländer in Deutschland beschäftigt werden sollen.
Da frage ich mich nun: Hat sich der Bundeswirtschaftsminister keine Gedanken darüber gemacht, wie zunächst die Arbeitslosigkeit im eigenen Raum zu lindern oder zu beheben ist? Vielleicht sieht er Überbeschäftigung in einzelnen Bezirken und ist optimistisch genug anzunehmen, daß damit eine Vollbeschäftigung erreicht worden sei. Er vergißt dabei wahrscheinlich, daß Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung in einzelnen Landschaften oder einzelnen Bereichen unseres deutschen Raums noch nicht mit einer Vollbeschäftigung im Bunde gleichzusetzen sind. Solange wir im Jahresdurchschnitt immer noch über eine Mil-
lion Arbeitslose zu betreuen haben — auf allen Gebieten der Arbeitsverwaltung, der Arbeitslosenfürsorge und auch der öffentlichen Fürsorge —, solange kann man von einer Behebung der Arbeitslosigkeit nicht sprechen. Die Arbeitslosigkeit herrscht in den Bezirken an der Grenze, vom Osten nach Westen gehend und vom Schleswig-Holsteinschen Raum im Norden bis zum Bayrischen Wald im Süden, und sie tritt nicht zuletzt sehr stark in Berlin hervor. In allen diesen Bezirken aber fehlen nicht nur familiengerechte, menschenwürdige Wohnungen, sondern es fehlen die Arbeitsplätze für die Menschen und die Lehrstellen für ihre Kinder. Nur ein Blick auf die von der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung herausgegebenen Statistiken hätte den Herrn Bundeswirtschaftsminister überzeugt, wie das Beschäftigungsgefälle von Osten nach Westen geradezu nach einer Lösung schreit. Hier liegt das deutsche Arbeitsmarktproblem, das nur zusammen mit der Förderung des Wohnungsbaus gelöst werden kann und schnellstens gelöst werden muß.
Meine Damen und meine Herren! Vorrangig ist heute nicht die Arbeitsplatzbeschaffung; vorrangig ist heute die Förderung des Wohnungsbaus, der soziale Wohnungsbau, und da wieder vorrangig in den Gebieten mit einer Überbeschäftigung und einer wirklichen starken Nachfrage nach Arbeitskräften. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hätte sehr klug getan, sich mit seinen zuständigen Kollegen im Kabinett, den Herren Ministern für Arbeit, für Wohnungsbau und für Heimatvertriebene, in Verbindung zu setzen, ehe er allzu freiwirtschaftlich Unruhe in die Bevölkerung brachte.
Für Berlin liegen die Verhältnisse besonders schwierig, weil, abgesehen von anderen Verhältnissen, dort nicht ,das Baugeschehen den Auftrieb gibt, sondern die Bautätigkeit erst ins Laufen gebracht werden kann, wenn die Wirtschaft sich belebt, die Konsumkraft gesteigert wird.
Aber, meine Damen und Herren, betrachten wir einmal die Tatsachen, die sich uns darstellen, und das, was in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Verhandlungen geschehen ist. Das sind die Tatsachen:
Bereits 1952 und 1953 forderten landwirtschaftliche Kreise in Baden, Württemberg und Rheinland-Pfalz wegen des Mangels an ledigen Arbeitskräften die Hereinnahme ausländischer Landarbeiter. Seit Februar 1952 werden bereits Verhandlungen über die Wiederzulassung italienischer Saisonarbeiter geführt, erklärte damals Handelsrat Morante von der italienischen Botschaft in Bonn am 2. Dezember 1954. Im September 1954 wird in Verhandlungen über ein neues Handelsabkommen von italienischer Seite darauf hingewiesen, daß die passive Handelsbilanz durch den Transfer eines Teils der von italienischen Saisonarbeitern in der Bundesrepublik zu verdienenden Löhne zum Teil ausgeglichen werden könne. Am 9. November 1954 Besprechungen zwischen idem italienischen Außenhandelsminister Martinelli und Herrn Professor Erhard in Genf über das gleiche Thema. Am 27. November 1954 nimmt das Bundesarbeitsministerium ,erstmalig Stellung zu dieser Frage. Es teilt mit der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung den Standpunkt, daß es nur an Facharbeitern fehle, daß aber ,diese Facharbeiter aus dem Ausland einfach nicht zu erwarten seien. Am 6. Dezember nimmt Herr Präsident Scheuble von der Bundesanstalt in einer
Pressekonferenz in Nürnberg offen gegen die Pläne des Herrn Professor Erhard Stellung. Am 8. Dezember legt die Gewerkschaft Gartenbau, Landwirtschaft und Forstwirtschaft ihre Denkschrift zu dieser Frage vor. Am 12. Dezember erklärt das Bundesiandwirtschaltsministerium angesichts der vom Herrn Bundesarbeitsminister vorgeorachten Bedenken, keinen Gebrauch von dem itaenischen Angebot machen zu wollen. Am Montag, dem 13. Dezember, einen Tag danach, begmnen aber in Bonn die Verhandlungen mit dem italienischen Budgetminister Vanonr. Ergebnis: im Januar 1955 soil ein gemeinsamer Ausschuß prüfen, unter welchen Bedmgungen italienische Arbeiter in der Bundesrepublik Aufnahme und Beschäftigung finden sollen. Am lb. Dezember, meine Damen und Herren, vormittags ein Gespräch der Geweirkschaftsvertreter mit Herrn Arbeitsminister Storch, nachmittags mit Herrn Wirtschaftsminister Erhard. Mit dem Herrn Bundesarbeitsminister vollkommene Übereinstimmung, daß vorläufig an eine Hereinnahme vor Ausländern nicht gedacht werden kann. In den Verhandlungen mit Herrn Professor Erhard erklärte er, es seien noch keinerlei Vereinbarungen getroffen. Vor Verhandlungen über effektive Maßnahmen würde er sich mit den Gewerkschften in Verbindung setzen. In arbeitstechnischen Fragen, sagte er, habe natürlich das Bundesarbeitsministerium zu entscheiden. Er habe aber keineswegs die Absicht, italienische Arbeiter nach Deutschland hereinzulassen, solange nicht die wirtschaftspolitischen und arbeitsmäßigen Notwendigkeiten dafür vorlägen und auch von den Gewerkschaften anerkannt würden. Am 17. Dezember erklärte Arbeitsminister Storch in einer Pressekonferenz in Bonn,. daß man vor 1957 an den Einsatz von Fremdarbeitern in Deutschlandüberhaupt nicht zu denken brauche. Am 17. und 18. Dezember fassen Hauptvorstand und Beirat der Industriegewerkschaft Bau, Steine und Erden eine Entschließung gegen die Beschäftigung von Italienern in der Bundesrepublik. Am 30. Dezember 1954 gibt das Bundesvertriebenenministerium bekannt, daß es mit dem Bundeswirtschaftsministerium Übereinstimmung erzielt habe, daß an die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte erst dann gedacht werden könne, wenn die Masse der jetzt noch arbeitslosen Vertriebenen und Flüchtlinge feste Arbeitsplätze erhalten habe. Am 5. Januar dieses Jahres meldet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", daß der Ruhrbergbau den österreichischen Arbeitsbehörden mitgeteilt habe, daß von leiner Zahl von österreichischen Arbeitern Gebrauch gemacht werden solle. Das österreichische Sozialministerium gibt an, daß es sich nur um etwa 100 bis 150 Arbeiter handle. Am 10. Januar wird das Ergebnis einer im Auftrag Ides Ifo-Instituts über die Auskunftei Schimmelpfeng durchgeführten Sonderbefragung bekannt, und es ergibt sich daraus ein großer Facharbeitermangel in den Investitionsgüterindustrien gegen einen Bedarf von 10 % in den Betrieben der Verbrauchsgüterindutrien und von etwa 30 000 Fach- und Hilfsarbeitern in der Bauindustrie, während in der Landwirtschaft danach ein Bedarf von 100 000 Hilfsarbeitern vorhanden ist. Am 11. Januar fordert der hessische Bauernverband 10 000 bis 12 000 Fremdarbeiter beim hessischen La ndesarbeitsamt an. Das ist das, was sich aus den Verhandlungen ergibt.
Nun, meine Damen und meine Herren, haben wir eine Frage: Ist der Herr Bundeswirtschaftsminister auf einmal unter die Planer geraten? Das
wäre kein Wunder, aber es wäre doch erstaunlich, wenn dem so wäre. Dann sollte er sich wirklich sehr warm anziehen, und er sollte nicht mit einer Zwangsplanung, cl. h. mit der Zwangslenkung von Arbeitskräften beginnen, an die wir zu keiner Zeit gedacht haben. Wir wissen, wie so etwas einmal angefangen hat; aber viele, allzu viele haben vergessen, wie es geendet hat, und wir möchten diese Dinge doch mit all der Vorsicht behandeln, die notwendig ist.
Vor einigen Tagen hat Herr Professor Erhard behauptet, daß eine jährliche Zunahme ides Sozialprodukts um 1 Milliarde praktisch 1 %, d. h. 100 000 weitere Arbeitskräfte erfordere, die neu in den Arbeitsprozeß eintreten. Wenn er sich die Dinge aber genauerangesehen und nur die Hilfskraft irgendeines Arbeitsamtes befragt hätte, dann hätte er erfahren, daß diese Dinge nicht so dargestellt werden können und daß sie einfach nicht stimmen. Die Zunahme der Beschäftigten verläuft nämlich durchaus nicht parallel mit der Abnahme der Arbeitslosigkeit. Das Jahr 1954 hat uns eine Steigerung der Beschäftigtenzahl um 690 000 Arbeitnehmer gebracht, dagegen eine Abnahme der Arbeitslosenzahl im Mittel dies Jahres nur um 38 000. Das sind Zahlen, an denen man doch nicht vorbeigehen kann. Wir begrüßen es, daß die Gesamtzahl der Arbeitnehmer von 1950 bis 1954 von 13 827 000 auf 16 272 000 gestiegen ist. Dias ist eine Differenz von 2 400 000. In der gleichen Zeit ist aber die Zahl der Arbeitslosen im Mittel der Jahre 1950 bis 1954 von 1 579 000 leider nur auf 1 220 000 gesunken. Das ist eine Abnahme von 350 000 gegenüber einer Zunahme der Beschäftigten von 2 400 000. In dieser Zahl liegt zunächst die Mehrleistung der deutschen Arbeitnehmerschaft. Die sollte man nicht verkennen. Dann ist in dieser Zahl einbegriffen die Eingliederung von Heimatvertriebenen, Flüchtlingen und Evakuierten, denen die Existenzfähigkeit wiedergegeben worden ist und die als Arbeitnehmer in den Arbeitsprozeß wiederaufgenommen worden sind. In Tausenden von Fällen steht dahinter der Wunsch, in dieser Tätigkeit wieder aufzusteigen, um zu einer echten Eingliederung zu kommen.
In großem Ausmaß handelt es sich um die erstmalige Eingliederung in den Arbeitsprozeß, d. h. die Einsgliederung der Schulentlassenen. Wenn wir das so sehen, dann gewinnen die Zahlen eine ganz andere Bedeutung. Es muß dann mehr getan werden, ehe etwas geschieht, um die außerordentlich große Zahl der arbeitsfähigen .Arbeitslosen in Dauerarbeitsplätzen unterzubringen.
Wir haben früher, schon vor dem ersten Kriege, bereits Facharbeiter aus dem Ausland, auch Hilfsarbeiter, beschäftigt. Aber heute Facharbeiter aus dem Ausland zu bekommen, scheint mir leinfach unmöglich zu sein. Denn gerade die Länder mit großer Arbeitslosigkeit haben einen ausgesprochenen Mangel an Facharbeitern, und sie denken gar nicht daran, uns Facharbeiter abzugeben.
Es wird nun behauptet und es wurde schon einmal statistisch belegt, daß die Zahl der Schulentlassenen im Jahre 1955 rapide abfallen würde. Wir haben uns wohl noch nie so geirrt wie gerade in diesem Fall. Denn wir glaubten, von 1946 aus beurteilen zu können, daß der Knick in der Zahl der Schulentlassenen in diesem Jahre eintreten würde. Inzwischen sind wir aber zu echten Zahlen giekommen, und wir wissen, daß eine starke Abnahme der Schulentlassenen erst im Jahre 1957 eintritt. Dias heißt aber, daß ein erheblicher Facharbeiter
mangel sich erst einige Jahre später, vielleicht um 1960 auswirken wird, wenn nicht andere Dinge geschehen, von denen wir heute nicht reden. Wir sollten aber vorausschauend auf den Mangel an Facharbeitern heute mehr als bisher tun, um durch Begünstigungen der Lehrstellen und der Ausbildung in den Mangelberufen, durch Anlernung und Umschulung das zu erreichen, was notwendig ist, um die Zahl der Facharbeiter für die Zukunft zu vermehren.