Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es sollte uns nicht behaglich sein bei der Feststellung, daß der Begriff der Koexistenz in der freien Welt inzwischen ein Schlagwort geworden ist, das bedenklich grassiert. Diskussionen über Ost-West-Probleme können anscheinend ohne dieses Schlagwort nicht mehr geführt werden. Dabei wird übersehen: was in der freien Welt ein leichthin aufgenommenes Wort ist, ist in der sowjetischen Ideologie ein fest umrissener Begriff von einer sehr bestimmten Bedeutung. Koexistenz, dem Wortsinne nach ein rein faktischer Zustand des tatsächlichen Nebeneinanderbestehens verschiedener Mächte oder Machtsysteme ohne rechtliche Bindung und Verpflichtungen, bezeichnet in der sowjetischen Ideologie ein ganz bestimmtes taktisches Verhalten. Die leninistisch-stalinistische Lehre betrachtet heute, für die Sowjetunion noch verbindlich, als das strategische Ziel des Strebens 'die Weltherrschaft des Kommunismus und seiner führenden Macht, ,der Sowjetunion. In der taktischen Verfolgung dieses Zieles ist die Sowjetunion außerordentlich schmiegsam. Die äußerste Anpassung in den Mitteln des taktischen Verhaltens bei unbeirrbarem Festhalten an dem strategischen Ziel entspricht dem, was Lenin und Stalin durch die Jahrzehnte hindurch gelehrt haben. So entspricht es dieser taktischen Schmiegsamkeit, daß Perioden des Bemühens um eine aggressive Machtausdehnung andere Perioden folgen, bei denen es den Sowjets darauf ankommt, eine beruhigende und beschwichtigende Wirkung auszuüben und den Anschein einer endgültigen Selbstbeschränkung zu erwecken. In Zeiten, in denen die Sowjets aus inneren oder äußeren Gründen den Anschein der Friedensliebe benötigen, lassen sie die Lehre von der Koexistenz in der Welt auftauchen. Dabei kommt es ihnen dann darauf an, die eigenen Kräfte zu sammeln oder die ihnen entgegengesetzten Kräfte zu zersetzen.
In diese Taktik werden auch die kommunistischen Parteien in Ländern außerhalb des sowjetischen Machtbereichs einbezogen. Wir konnten schon in den 30er Jahren feststellen, daß in Perioden der
taktischen Selbstbeschränkung der Sowjetunion der Befehl an die kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern erging, Volksfrontregierungen zu bilden, sich sehr zahm und bürgerlich aufzuführen und nach Möglichkeit Koalitionspartner zu gewinnen. Nach 1946 ist diese Taktik vor allem angewandt worden, um in den Ländern, in die die Sowjetunion ihre Besatzungsdivisionen entsandt hatte, volksdemokratische Blockpolitik zu betreiben. Diese volksdemokratische Blockpolitik führte dann in verhältnismäßig kurzer Zeit in den verschiedenen Satellitenstaaten zur tatsächlichen Beseitigung aller politischen Kräfte außerhalb des Kommunismus, wobei man die ausgeleerten Hülsen der anderen Parteien vielfach bestehen ließ, um wenigstens den Anschein einer demokratischen Regierung zu erwecken.
Aus dieser Erkenntnis über die Verwendung des Begriffs der Koexistenz in der sowjetischen Ideologie und Staatspraxis ist für die westliche Welt eine erste Lehre fällig, und diese Lehre sollte beherzigt werden: man sollte sich den Begriff der Koexistenz nicht von der sowjetischen Welt aufdrängen lassen, sondern man sollte dem östlichen Gerede von der Koexistenz unbeirrt als Ziel des Westens die Verwirklichung einer dauerhaften, gerechten Friedensordnung entgegenhalten. Wir Deutsche sollten in der westlichen Welt besonders nachdrücklich für das Festhalten an dem Ziel der dauerhaften Friedensordnung eintreten und dem Abirren von diesem Ziel, auch nur für kurze Zeit, entgegenwirken. Warum? Koexistenz ist auch auf der Grundlage der fortdauernden Spaltung Deutschlands denkbar und praktisch möglich. Hingegen ist eine dauerhafte, in sich fundierte Friedensordnung auf der Grundlage einer fortdauernden Spaltung Deutschlands nicht möglich. Nur ein gerechter Friede kann ein dauerhafter Friede sein. Er aber setzt in Europa die deutsche Einheit auf der Grundlage der freien Selbstbestimmung unseres Volkes nach innen und nach außen voraus. Wir sollten keine Begriffsverwirrungen zulassen, aus denen sich früher oder später eine westliche Politik des Selbstbetrugs entwickeln könnte.
Herr Kollege Ollenhauer hat mit Recht die fatale Initiative des französischen Ministerpräsidenten und den nicht minder fatalen Artikel der „Times" angesprochen. Sowohl die Initiative des französischen Ministerpräsidenten Mendès-France gegenüber der Sowjetunion als auch der „Times"-Artikel gründen sich in der gedanklichen Entwicklung auf den Begriff der Koexistenz. Wenn man aber fragt, wie wir dem am wirksamsten entgegenarbeiten können, daß mit dem Begriff der Koexistenz gerade in der westlichen Welt ein verwirrender Gebrauch getrieben wird, wie wir überhaupt in der Westlichen Welt dahin kommen können, daß die Dringlichkeit der Wiederherstellung der deutschen Einheit auf der Basis der Freiheit nicht unterschätzt wird, dann müssen wir zu einer anderen Antwort kommen, als sie die sozialdemokratische Opposition gibt. Unsere Einwirkungsmöglichkeiten innerhalb der westlichen Welt dahin, daß die Bedeutung der deutschen Einheit als dringender Notwendigkeit nicht unterschätzt wird, werden um so größer sein, je mehr wir in der Front der freien Völker stehen und je mehr wir uns auch auf der Basis der Gleichberechtigung an den Maßnahmen beteiligen, die dem wohlverstandenen Lebensinteresse aller westlichen Völker entsprechen, und das sind die Maßnahmen eines
hinreichenden Selbstschutzes. Nicht in der Selbstisolierung können wir fehlerhafte Entwicklungen in der westlichen Welt ausschließen, sondern nur, wenn wir an den Bemühungen teilnehmen, die darauf gerichtet sind, die Welt der Freiheit gegen alle Aggressionsmöglichkieten aus dem sowjetischen Machtbereich heraus zu sichern.
Aus der richtigen Erfassung des Begriffs der Koexistenz ist dann eine zweite Lehre zu ziehen. Solange die Sowjets an dem strategischen Ziel der Weltherrschaft festhalten, ist es äußerst unklug und fahrlässig, ihr Bekenntnis zur Koexistenz für mehr zu nehmen als für eine taktische Phase, die bestimmt ist, einen neuen zukünftigen Aggressionsschub vorzubereiten. Es ist doch die typische Gefahr des Westens, die wir durch die Jahre hindurch immer wieder feststellen können: es braucht nur einmal ein Jahr ohne sowjetische Aggression zu vergehen, und schon gibt es in den verschiedensten Ländern des Westens recht viele, im übrigen kluge und gescheite Leute, die bereit sind, das sowjetische Machtsystem ganz anders zu beurteilen, als es nach den harten Tatsachen, die der heute lebenden Menschheit unverlierbar eingebrannt sein sollten, beurteilt werden muß. Müssen wir wirklich daran erinnern, welche Erfahrungen seit 1946 in den verschiedensten Ländern gemacht worden sind?
Wir brauchen uns nicht aus dem deutschen Bereich zu entfernen, um die schmerzlichsten Erfahrungen mit sowjetischen Aggressionsversuchen zu finden. Wir stellen bei uns im eigenen Lande fest und haben noch viel mehr Gelegenheit, in den anderen westlichen Ländern festzustellen, daß die Menschen Legion sind, und gerade in den oberen Intelligenzschichten, die alles vergessen und nichts hinzugelernt haben. In der westlichen Welt ist die Bereitschaft vorhanden, sich einlullen und übertölpeln zu lassen.
Deshalb ist es nötig, immer wieder vor der westlichen Leichtgläubigkeit zu warnen. Dabei sollte man nicht leugnen, daß für die Sowjets heute Tatsachen bestehen, die es wahrscheinlich machen, daß bestimmte Mittel der Machtauseinandersetzung im Streben nach der Weltherrschaft für sie bereits endgültig tabu geworden sind. Dazu gehört ein Weltkrieg nach Art der ersten beiden Weltkriege, insbesondere eine weltweite kriegerische Auseinandersetzung mit den stärksten Mächten des Westens, den Vereinigten Staaten von Amerika und dem englischen Commonwealth. Daß die Sowjets jetzt und in Zukunft nicht bereit sind, einen dritten Weltkrieg zu wollen, darf nicht erst angenommen werden, seitdem der Atomkrieg als schrecklichste Drohung über allen Mächten schwebt, sondern dies war schon vorher gewiß auf Grund der Machtentfaltung der Vereinigten Staaten im zweiten Weltkrieg. Andererseits ist es so, daß die Sowjets einen Weltkrieg auch gar nicht brauchen, weil sie noch genügend Aussichten haben, in anfälligen Ländern über Bürgerkriege mit Interventionen benachbarter kommunistischer Länder ihren Machtbereich weiter auszudehnen.
Die Sicherheit der Bundesrepublik und Europas während der letzten Jahre beruht mithin auf der Anwesenheit amerikanischer und englischer Truppen im Bereich der Bundesrepublik. Solange hier amerikanische und englische Truppen stehen, kann die Bundesrepublik nur dann angegriffen werden, wenn die Sowjets bereit sind, die hier stationierten amerikanischen und britischen Truppen anzugreifen. Dazu werden sie in der Zukunft ebensowenig bereit sein, als sie es in der Vergangenheit gewesen sind. Wir dürfen deswegen sicher sein, daß ein Angriff auf die Bundesrepublik nicht stattfindet — weil er den Beginn des dritten Weltkrieges bedeuten würde —, solange hier amerikanische und englische Truppen stehen. Allererstes Ziel unserer Politik muß es sein, daß kein Heißer Krieg im deutschen Bereich entsteht, daß hier kein sowjetischer Angriff losbrechen kann, daß Deutschland keine weiche Stelle am Rande des sowjetischen Machtbereiches wird. Die hohe Sicherheit, die wir jetzt haben, muß mit Gewißheit erhalten bleiben; und darin liegt der erste Zweck der EVG sowohl wie der neuen Verträge, die an die Stelle der EVG getreten sind, darin liegt der erste Sinn und die erste Rechtfertigung des deutschen Verteidigungsbeitrages.
Nun hat Herr Kollege Ollenhauer eingewandt, daß der militärische Wert der deutschen Divisionen für sich genommen nach Größe und Zeit als recht fragwürdig einzuschätzen sei. Dieser Einwand geht indes deshalb fehl, weil der deutsche Verteidigungsbeitrag vor allem einen politischen Wert hat. Er bildet nämlich die Garantie für die Fortsetzung der amerikanischen Politik in Europa und in Deutschland, die durch all die Jahre hindurch unser erster Sicherheitsfaktor gewesen ist und weiterhin bleiben wird. Die Erhaltung unserer Sicherheit durch Fortbestehen des höchsten Risikos für einen sowjetischen Angriff im deutschen Bereich ist für uns das erste Ziel, das wir bei allen politischen Überlegungen im Auge zu behalten haben.
Es liegt heute gerade umgekehrt, als die Sozialdemokratie mit ihrem skrupellosen Ohne-michFeldzug bei den Landtagswahlen jetzt wie 1950 nicht ohne Erfolg zu suggerieren suchte.
— Ja, Sie scheinen das zu bestreiten, Sie scheinen Ihre Plakate in Hessen nicht gesehen zu haben, wie sie nebeneinander klebten, das Plakat, das sagte: „500 000 Deutsche in Kasernen als Folge des Pariser Vertrages", und unmittelbar daneben das Plakat, das einen Beinamputierten vor Ruinen zeigte mit der Unterschrift: „Nie wieder!". Was sollte dem Wähler damit beigebracht werden? Und so hat er es auch verstanden:
Daß das, was „Nie wieder!" sein soll, gerade dadurch herbeigeführt werde, daß jetzt 500 000 Deutsche in Kasernen gesteckt werden.
Im übrigen war es in sämtlichen Versammlungen Ihr Bemühen, darzutun, daß Sie vor Hitler gewarnt haben,
daß Hitler den Krieg bedeutet habe und daß
Sie jetzt vor den Divisionen ebenso warnen wie damals, weil sie auch in Zukunft den Krieg
bedeuten würden. Gerade das Gegenteil ist aber in der heutigen Situation wahr. Die deutschen Divisionen bedeuten nicht Krieg, sondern sie bedeuten gerade die Erhaltung der Sicherheit, daß in Deutschland kein sowjetischer Angriff stattfindet und mithin der Frieden gewahrt bleibt.
Eine Gelegenheit für einen sowjetischen Angriff in Deutschland würde sich nur dann eröffnen, wenn durch eine Änderung der amerikanischen Politik Deutschland von amerikanischen und englischen Truppen entblößt würde, noch ehe aus den Verteidigungsbemühungen der europäischen Völker ein hinsichtlich des Verteidigungswertes hinreichender Ersatz geschaffen wäre. Dann würde nämlich dadurch, genau wie es seinerzeit mit dem Abzug der Amerikaner in Korea geschehen ist, jene Lücke geöffnet werden, die den Sowjets überhaupt erst die Möglichkeit eines Angriffs ohne erhebliches Risiko böte.
Nun ist es Ihr Einwand, der immer wieder geltend gemacht wird, daß die Sicherheit durch Anwesenheit amerikanischer Truppen erhalten bleibe, auch ohne daß deutsche Divisionen aufgestellt würden. Dabei wird höchst leichtfertigerweise von Ihnen, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, die außerordentlich große Gefahr verkannt, daß in der öffentlichen Meinung der Vereinigten Staaten ein Umschwung erfolgen könnte, der die amerikanische Regierung eines Tages nötigen würde, die weitere Verfolgung ihrer bisherigen Europapolitik aufzugeben; denn das amerikanische Volk erträgt es auf die Dauer ebensowenig wie irgendein anderes, daß seine Söhne uns schützen, während wir glauben, uns der Teilnahme an den erforderlichen Verteidigungsmaßnahmen entziehen zu können. Es ist zwar richtig, daß ein Abgehen der USA von ihrer heutigen Deutschland- und Europapolitik ein Verstoß gegen die wohlverstandenen Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika selbst wäre, ein Verstoß gegen ihre eigenen Lebensinteressen. Aber wir haben das ja in den letzten 30 Jahren schon häufig genug erlebt, daß gerade in demokratischen Staaten von einem emotionalen Umschwung der öffentlichen Meinung Veränderungen der äußeren Politik veranlaßt wurden, die durchaus nicht im Interesse der Völker dieser Staaten lagen.
Wenn wir uns an das letzte große Beispiel einer verhängnisvollen Fehlorientierung der amerikanischen Politik erinnern, dann finden wir gerade darin einen Beleg, welches Unheil durch eine emotionale Fehllenkung der öffentlichen Meinung und deren negativen Einfluß auf die Regierung angerichtet werden kann. Wir wissen, daß Roosevelt in Teheran und Jalta sehr stark unter dem Eindruck eines ganz außerordentlich gesteigerten ausschließlichen Hasses des amerikanischen Volkes gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland stand und daß man darüber die Gefahren übersah, die sich aus dem sowjetischen Totalitarismus heraus gerade dann entwickeln könnten, wenn das nationalsozialistische Deutschland am Boden liegen würde. Dieser emotionale Einfluß einer ganz einseitig entwickelten öffentlichen Meinung hat wesentlich dazu beigetragen, daß Roosevelt in Teheran und Jalta schließlich entscheidend von der Erwägung getragen war, man solle Stalin so weit wie irgend möglich entgegenkommen, um ihn von jeglichem Mißtrauen gegenüber der kapitalistischen Welt für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg zu heilen. Wir wissen, daß aus diesen sehr entscheidenden Irrtümern alle diejenigen Fehlregelungen hervorgegangen sind, die heute die Welt, nicht zuletzt Europa, nicht zuletzt Deutschland, mit außerordentlich schwierigen, kaum lösbaren Problemen beladen.
Nach solchem Anschauungsunterricht in der Vergangenheit sollte man es nicht für unmöglich halten, daß durch verhängnisvolle Fehllenkungen oder Fehlentwicklungen der öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten von Amerika eines Tages ein Umschwung auch in der heutigen Europa- und Deutschlandpolitik der USA erfolgen könnte, wenn nicht von uns aus und von den europäischen Völkern her diejenige Mitwirkung erfolgt, die erforderlich ist, damit eben solche Fehlentwicklungen ausgeschlossen werden. Die Sicherheit der Bundesrepublik als eines zwar nur vorläufigen Gebildes, aber doch des Gebildes, das bei all seiner Vorläufigkeit die Ausgangsbastion der gesamtdeutschen Freiheit darstellt, ist von ganz entscheidender Bedeutung, wenn wir unsere Aufgabe lösen wollen, die Freiheit der 20 Millionen Deutschen in Mitteldeutschland wiederherzustellen, statt die Freiheit der 50 Millionen Deutschen in der Bundesrepublik aufs Spiel zu setzen.
Es ist in einer verantwortungsbewußten Politik immer so, daß die erste Aufgabe der Politik sein muß, der größten Gefahr mit höchstmöglicher Sicherheit zu begegnen, die höchste Gefahr mit höchstmöglicher Sicherheit auszuschließen. Diese Einstellung wird uns Deutschen um so näher gebracht, als die Sowjets ganz offenbar eine deutsche Einheit wollen, die derart beschaffen ist, daß eines Tages ganz Deutschland, nicht nur Mitteldeutschland, eine sowjetische Provinz sein wird. Was zuwenig beachtet wird, ist, daß heute zwei Formen der deutschen Einheit miteinander konkurrieren. Wir wollen die Freiheit für die 20 Millionen Deutschen in Mitteldeutschland auf friedliche Weise erringen. Die Sowjets hingegen wollen die Errungenschaften der sozialistischen Welt den 50 Millionen Deutschen in Westdeutschland, in der Bundesrepublik aufdrängen. Dies ergibt sich nicht nur aus der Art der sowjetischen Propaganda, wie sie durch all die Jahre hindurch völlig unverändert weitergelaufen ist, insbesondere in Mitteldeutschland, aber nicht nur in Mitteldeutschland, sondern auch aus Reden von sowjetischen Staatsmännern, in denen sie sich zu den deutschen Problemen äußern. Es ergibt sich auch aus der völligen Umkrempelung Mitteldeutschlands, die dahin geführt hat, daß die Spaltung Deutschlands ständig vertieft worden ist. Ich brauche hier nicht an die in allen diesen Jahren konsequent fortgesetzte Kollektivierung des deutschen Wirtschafts- und Soziallebens im sowjetischen Besatzungsbereich zu erinnern. Ich brauche nicht daran zu erinnern, daß dort die Aufrüstung mit — wie uns heute Herr Mende sagte — 160 000 Mann in der kasernierten Volkspolizei schon längst durchgeführt ist, während hier noch immer seit fünf Jahren darüber diskutiert wird.
Entscheidend ist jetzt ein Weiteres. In dem Bemühen um die völlige Sowjetisierung Mitteldeutschlands, des Bereichs der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik, hat man jetzt ein Familienrecht geschaffen, das darauf gerichtet ist, die Familie als letzte Zuflucht des einzelnen in der Geborgenheit vor dem Staate zu zerschlagen. Nach dem Familienrecht der „roten Hilde" wird die Ehe und Familie völlig den opportunistischen Er-
wägungen und Zugriffen des Staates unterstellt bzw. ausgeliefert. Planmäßige Zersetzung der Ehrfurcht und ,des Vertrauens zwischen den Ehegatten und zwischen den Kindern und den Eltern, Bespitzelung der Familienangehörigen durch Familienangehörige ist das, was auch über die institutionelle Regelung dieses neuen Familienrechts sichergestellt werden soll.
Nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, der sowjetische Widerstand gegen die Westverträge, gegen die Teilnahme der Bundesrepublik an der Verteidigung der freien Welt wird erst völlig verständlich, wenn diese Grundzüge der gegenwärtigen sowjetischen Europa- und Deutschlandpolitik mit der fortschreitenden Sowjetisierung Mitteldeutschlands zusammen gesehen werden.
Hier liegen die Fakten, die durch keine noch so geschickte, auf Verbergung der Absichten gerichteten Worte der sowjetischen Machthaber verhüllt werden können. Wer diese Zusammenhänge sieht, dem ist es nicht zweifelhaft, daß das ständige Anrennen der Sowjets gegen die Westverträge, ihr hartnäckiges Bemühen, sie immer wieder zu verzögern und zu vereiteln, allein der Absicht entspringt die Reste Europas außerhalb ihres Machtbereichs im Zustand der gegenwärtigen Balkanisierung und der zerrissenen Kleinstaaterei zu erhalten. Denn nur dieser Zustand eines nationalstaatlich zersplitterten Europas, das zu einer einheitlichen Aktion sich nicht findet, nicht fähig ist, beläßt ihnen die Aussicht auf bürgerkriegsähnliche Wirren mit den daran hängenden Interventionsmöglichkeiten, weil sie nur bei Erhaltung dieses Zustandes hoffen dürfen, die USA könnten ihrer Rolle, die Schutz- und Sicherheitsspender des freien Europas zu sein, überdrüssig werden.
Würde diese Hoffnung irgendwann in Erfüllung gehen, ohne daß bis dahin die europäischen Völker einen hinreichend starken Defensivschutz entwikkelt hätten, dann begänne die Zeit für die sowjetische Form der deutschen Einheit und damit der drohenden Unterwerfung ganz Westeuropas. Deshalb ist es wesentlich, die Bemühungen um die Integration Europas — wenigstens im Rahmen der neuen Verträge — zum Zwecke der einheitlichen außenpolitischen Abwehr- und Verteidigungsaktion zu beschleunigen. Solange aber die Sowjets den gegenwärtigen Zustand Europas mit solchen Spekulationen verbinden dürfen, dürfen Sie, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, überzeugt sein, daß sie in der Frage der deutschen Einheit völlig unnachgiebig sein werden. Es ist doch im machtpolitischen Bereich nachgerade selbstverständlich, daß die Sowjets, solange sie hoffen, solange sie glauben dürfen, ihre europäische Partie stünde infolge der Unfähigkeit der europäischen Völker, zu einer wirksamen Verteidigungspolitik zusammenzufinden, auf Gewinn, zu keinen ernsthaften Zugeständnissen in der Frage der deutschen Einheit auf der Basis der Freiheit bereit sind.
Die Parole, die der Kollege Erler heute hier ausgab: „Wer die Bundesrepublik zum amerikanischen Truppenübungsplatz macht, verhindert die deutsche Einheit", ist völlig verfehlt, ebenso die Warnung vor der Gegenüberstellung der deutschen Kräfte an der Elbe. Wir wünschten uns sehr, meine sehr geehrten Damen und Herren, das könnte vermieden werden; aber die Sowjets haben in der
Konsequenz ihres unbeirrbaren Willens durch die Jahre hindurch die Aufrüstung entscheidend in Gang gesetzt. Sie haben immer wieder ihren Willen, vollendete Fakten zu schaffen, zu erkennen gegeben, und uns bleibt keine andere Möglichkeit — wenn wir nicht Selbstverrat üben wollen —, als die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen und wenigstens jenes Maß von Mitbeteiligung Deutschlands an den Verteidigungsbemühungen der westlichen Welt herzustellen, das erforderlich ist, damit wir nicht eines Tages in die übelste Situation des Verlassenseins gegenüber den Gefahren aus dem Osten kommen.
Es gibt zwei sehr durchgreifende Beweise für die Richtigkeit dieser Auffassung. Sie liegen in dem Verhalten der Sowjets auf der Berliner Konferenz, und sie liegen weiter in der Begründung der Sowjets für die angebliche Unaufschiebbarkeit einer erneuten Konferenz, zu der sie für Anfang Dezember dieses Jahres eingeladen hatten. Auf der Berliner Konferenz haben sie eine Entwicklung der deutschen Einheit, die auf gesicherten freien Wahlen beruht und aus ihnen alle Konsequenzen zuläßt, ganz konsequent abgelehnt. Sie waren nicht daran gehindert, wenn sie überhaupt das Zugeständnis der freien Wahlen als Ausgangspunkt einer entsprechenden Entwicklung in Betracht ziehen wollten, die Bedingungen zu nennen, unter denen sie bereit wären, das Zugeständnis zu machen. Sie haben davon Abstand genommen, obwohl ja Sie, Herr Kollege Ollenhauer, damals von Berlin aus immer wieder die mannigfachsten Anregungen über die Öffentlichkeit mit der Adresse an die Konferenz gerichtet haben. Um so mehr war den Sowjets daran gelegen, auf der Berliner Konferenz völlig klarzustellen, worin für sie der entscheidende Unterschied zwischen der NATO und der EVG bestand. Sie haben das in einer geradezu zynischen Offenheit erklärt, dahin, daß die NATO bestehe, daß also ihre Existenz nicht in Zweifel zu ziehen sei, während eben die EVG noch nicht bestände und infolgedessen der Gefahr nicht nur der Verzögerung, sondern über die Verzögerung der endgültigen Verhinderung ausgesetzt bliebe. Auf diesen Effekt der Verzögerung mit dem Ziele der endgültigen Verhinderung kam es den Sowjets an.
Nicht minder eindeutig ist in dieser Hinsicht die Einladung zur Konferenz für den 2. Dezember mit der Begründung, die Konferenz müsse noch vor dem Beginn der Ratifikationsverhandlungen in den westeuropäischen Parlamenten stattfinden, — auch hier im letzten Augenblick ein sehr entschiedener Versuch der Sowjets, eine Konferenz zustande zu bringen, eben um sie wieder lediglich zum Mittel einer Verzögerung, einer Verhinderung der westlichen Verteidigungsbemühungen zu machen, ohne daß sie aber in irgendeiner Weise bereit waren, befriedigende Zugeständnisse überhaupt nur in den Bereich der erwägenswerten Möglichkeiten einzubeziehen.
Wenn jetzt die Sozialdemokratie dasselbe erklärt wie vor einem Jahr: noch eine Konferenz vor Ratifizierung, um die letzten Verhandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen!, so ist das nach den Erfahrungen des letzten Jahres schlechthin unverständlich. Es würde sich lediglich um eine Erneuerung der Berliner Konferenz handeln auf derselben Grundlage, die die Sowjets von vornherein nur in die Versuchung bringen würde, auch diese neue Konferenz zu einem Mittel der Verzögerung zu machen, nicht aber zu einem Mittel sachlicher
Verhandlungen über das deutsche Problem. Wenn die Sozialdemokratie auch jetzt wieder, trotz der Erfahrungen des letzten Jahres, bei dem stehen bleibt, was sie im November/Dezember des Vorjahres vor der Berliner Konferenz erklärt hat, so macht sie sich damit einmal mehr — ob sie das will und weiß oder nicht, es kommt in der Politik auf den objektiven Erfolg an,
auf die objektive Gestaltung — zum Fürsprecher der Verzögerungseffekte, an denen den Sowjets entscheidend gelegen ist.
Die Verzögerung, die Verhinderung liegt den Sowjets nicht etwa am Herzen, weil sie die deutsche Einheit auf der Basis der Freiheit wollten, sondern weil sie sie eben nicht wollen. Es wird das Ziel unserer Politik sein müssen, das wir unbeirrbar im Auge haben müssen, gemeinsam mit den westlichen Völkern bei den Sowjets jene Bereitschaft zu erzeugen, die heute noch fehlt.
Im wesentlichen aus diesen Gründen halten wir jene Verträge für erforderlich,
die allein geeignet sind, das Schicksal der Völker in Europa außerhalb des sowjetischen Machtbereichs zum Guten zu wenden, nachdem die Europäische Verteidigungsgemeinschaft gescheitert ist.