Rede von
Karl
Herold
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wohl das erste Mal, ausgenommen die Beratungen um den 5. Bundesjugendplan, daß wir uns im 2. Deutschen Bundestag mit den Problemen der Jugend befassen. Ich weiß, daß es in diesem Hause eine große Anzahl von Kollegen gibt, die die Jugendprobleme als nicht so dringlich oder aktuell bezeichnen. Meine Fraktion und ich sind anderer Meinung. Wir haben keinerlei Grund, in dieser Angelegenheit den Selbstzufriedenen zu spielen und vielleicht untätig in der Ecke zu stehen oder, wie es in Diskussionen so oft geschieht, die gesamte Verantwortung auf die Länder und Gemeinden abzuschieben. Ich weiß, daß man in verschiedenen Kreisen die Meinung vertritt: Wir haben den Bundesjugendplan geschaffen, wir geben 30 Millionen, damit ist dieser Fall für uns erledigt! Man verschanzt sich hinter dem Föderalismus und klagt am Ende, die Jugend habe sowieso keinerlei Interesse an der Demokratie.
So einfach können wir uns die Sache nicht machen. Es ist richtig, daß die jungen Menschen im Alter von 18 bis 30 Jahren sehr skeptisch geworden sind. Sie können mit Recht als die „betrogene Generation" bezeichnet werden. Vor Jahren riß man sie aus Schulen und Lehrstellen, steckte sie in Uniform und schickte sie an die Front. Nach unendlichen Strapazen und Opfern, nach langen Jahren der Kriegsgefangenschaft kehrten sie heim, krank an Leib und Seele. Viele Enttäuschungen liegen hinter diesen jungen Menschen. Man hat sie rührend empfangen, man hat ihnen vieles, vieles versprochen, aber leider Gottes nur einen bescheidenen Teil davon gehalten. Der Bundesjugendplan war und ist nach unserer Meinung der Anfang. Die Mittel reichen keinesfalls aus, um die Verpflichtungen diesen jungen Menschen gegenüber zu erfüllen.
Wir wundern uns oft hier in diesem Hause über die negative Einstellung eines großen Teils dieser Jugend zum heutigen demokratischen Staat. Gehen wir dieser Sache doch einmal auf den Grund, fragen wir uns, warum das so ist! Wie viele Jungen und Mädel warten seit Jahren auf einen Arbeitsplatz! Nach den Statistiken der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung beträgt der Anteil der Jugendlichen an der Arbeitslosenzahl fast 20 %. Mit anderen Worten: etwa 200 000 Jugendliche bis zum 25. Lebensjahr sind bis zur Stunde noch ohne jegliche Arbeit.
Dazu kommen noch über 100 000 Jugendliche, ,die bis heute noch auf Lehrstellen warten. 300 000 junge Menschen haben also an der Ernte der Früchte des sogenannten deutschen Wirtschaftswunders nicht teilgenommen. Sie stehen noch vor den Fabriken und den Arbeitsämtern. Obwohl alle Verantwortlichen — Arbeitsverwaltung, die Industrie, das Handwerk — wissen, daß wir in absehbarer Zeit mit einem ungeheuren Mangel an Facharbeitern zu rechnen haben, hat man bisher nur unzureichende Möglichkeiten gefunden, sie vorausschauend einzugliedern. Die sozialdemokratische Fraktion ist der Meinung, daß bei etwas gutem Willen, vor allen Dingen ,der deutschen Industrie, die Frage der Eingliederung dieser jungen Menschen längst hätte geklärt sein können. Leider hat die überbezirkliche Vermittlung nicht den Erfolg gebracht, den wir alle erwartet haben. Die Lage in den Zonenrand- und Grenzgebieten entlang des Eisernen Vorhangs ist wirklich zum Teil katastrophal. Es ist nicht gelungen, diesen Jugendlichen in den wirklich gefährdeten Gebieten zu einer Existenz zu verhelfen.
Betrachten wir auf .der andern Seite unseren akademischen Nachwuchs, die Menschen, die einmal in der deutschen Wirtschaft, in der deutschen Wissenschaft und in der Forschung große Erbschaften und große Aufgaben zu übernehmen haben! Diese jungen Leute legen ihre Reifeprüfung ab und gehen ins Praktikum. Dort beginnt bereits die erste Enttäuschung. Bei schlechter Entlohnung bereiten sie sich vor. Ich kenne sogar einige Fälle, wo diese jungen Menschen in den Betrieben nicht einmal ein Taschengeld bekommen, geschweige denn, daß man ihnen einen Mindestlohn gewährt.
— Ja, bitte schön, diese Leute sind doch nicht gewerkschaftlich organisiert, meine Herren! Das dürften Sie wissen.
Dann beginnt der Kampf um die Aufnahme in die Universität oder Hochschule. Ist das geschafft, beginnt die Sorge um den Lebensunterhalt während der Studienzeit. Nach einer Umfrage bei 104 000 jungen Studenten beiderlei Geschlechts wurde festgestellt, daß rund 70 000 junge Menschen, die studieren, nicht einmal 100 DM zum Lebensunterhalt besitzen,
geschweige denn zur Anschaffung der Lernmittel usw. Jeder von uns weiß, was das Leben heute kostet, angefangen — meine Herren, ich glaube, darüber gibt es keinen Zweifel, und wir können uns hier tadellose Vorstellungen machen —, angefangen bei den Zimmerpreisen der Universitätsstadt Bonn.
Die Frage der Existenzgründung der jungen Akademiker möchte ich hier gar nicht erwähnen. Sind diese Dinge nicht äußerst beschämend für unseren Staat? Sollten uns diese Beispiele nicht alarmieren?
Mit viel Aufmerksamkeit beobachten unsere jungen Menschen die Lage ihrer Altersgenossen hinter dem Eisernen Vorhang und in den anderen europäischen Ländern. Bei den angestellten Vergleichen kommen oft sehr große Zweifel bei ihnen auf. Was wird der Jugend dort geboten? Nicht alle Maßnahmen dürfen nur durch die politische Brille gesehen werden. Ich glaube, wir machen uns das zu leicht.
Was bieten wir ? Ich frage Sie nur: Was bieten wir nun unserer Jugend, um sie für die Demokratie und für unseren Staat zu gewinnen? Ich sage Ihnen: im Verhältnis herzlich wenig! Ich will hier keine großen Vergleiche bringen, aber die materiellen Dinge, die wir ihnen zu bieten haben, sind wirklich äußerst klein. Wir haben Jugendgesetze geschaffen, z. B. das RJWG. Seit über einem Jahr ist es verabschiedet. Bis zum heutigen Tage aber fehlen auf der untersten Ebene die Mittel, damit die Absichten dieses Gesetzes auch verwirklicht werden können. Man kann natürlich sagen, nes sei eine Aufgabe der Länder, der Gemeinden. Es müssen aber Wege gefunden werden, über den Finanzausgleich den Gemeinden und den Ländern die nötigen Voraussetzungen für die Erfüllung dieser Aufgaben zu geben. Wir können hier nicht Dinge beschließen und den Ländern und Gemeinden neue Aufgaben zuteilen, wenn wir ihnen dafür nicht die Mittel zur Verfügung stellen.
Denken wir an den Jugendarbeitsschutz! Sind die Zahlen, die uns von den Gewerbeaufsichtsämtern erreichen, nicht erschreckend? Wo bleibt hier die Initiative des Bundesarbeitsministeriums?
1 Unsere Schulverhältnisse sind zum Teil sehr schlecht. Es gibt noch Städte und Orte, wo unsere Kinder in drei Schichten täglich zur Schule gehen müssen, weil ihnen heute — —
— Ich weiß, daß es nicht den Bund allein angeht, Frau Kollegin Niggemeyer. Auf der andern Seite ist es aber so, daß der Bund in diesem Fall schon die Initiative ergreifen und diese Länder unterstützen muß.
— Ich weiß, Sie hören es nicht gern! — Es fehlen Lehr- und Lernmittel; zum Teil sind sie veraltet und überholt. Betrachten Sie sich die Schulen in den Notstandsgebieten, betrachten Sie die Notunterkünfte der Schulen in den bombengeschädigten Städten, in denen die Jüngsten unseres Volkes zu Staatsbürgern erzogen werden sollen. Neun Jahre nach dem Kriege haben wir es nicht fertiggebracht, diese Mißstände zu beseitigen.
Auch die Frage der Berufsschulen muß erwähnt werden.
— Das ist Ihr Fach wahrscheinlich, Herr Seffrin. In vielen Landkreisen sind bis zum heutigen Tag keine Berufsschulen vorhanden; die jungen Menschen haben 30 und 40 km Weg bis zu ihren Berufsschulen
und müssen infolgedessen müde und abgespannt den Unterricht mitmachen. Die Folgen sehen Sie bei den Gesellenprüfungen.
— Das sind keine Einzelfälle, und es ist notwendig, daß man das einmal in diesem Rahmen erwähnt.
Wir sind auf jeden Fall der Meinung, daß der Bund, der genau weiß, wie sich in Zukunft gerade auch in der Ausbildung der Facharbeiter die Dinge entwickeln werden, hier viel mehr Initiative entwickeln muß als bisher.
Noch ein Wort zur Freizeitgestaltung unserer Jugend. Wie viele Dinge liegen da im argen! Unsere-Jugendverbände geben sich die größte Mühe. Es ist erfreulich, daß fast 5 Millionen Jugendliche in den Jugendorganisationen erfaßt sind. Sie müssen in ihrer Arbeit unsere volle Unterstützung finden und haben sie auch. Insbesondere — und das möchte ich hier besonders betonen — ist es notwendig, daß die politischen Gruppen, die sich der politischen Erziehung widmen, eine besondere Hilfe von uns erhalten. Wir wissen um ihre Nöte. Viele Jugendgruppen sind ohne Heim; sie finden Zuflucht in den Hinterzimmern von Gaststätten. Wo bleiben die Jugendheime? Was da bisher geschehen ist, reicht bei weitem nicht aus. — Die gute Literatur ist für unsere Jugend zum Teil nicht erschwinglich. Was wird mit der Einrichtung von guten Jugendbüchereien? Überall fehlen Turnhallen und Sportplätze. Die Gesundheitspflege läßt sehr viel zu wünschen übrig. Alle diese Probleme liegen vor uns und müssen von uns gelöst werden; zum mindesten müssen wir Entscheidendes dazu beitragen.
Die Gremien, die sich in der Theorie mit dieser Arbeit befassen, sind da; aber die praktische Arbeit fehlt. Die Dinge müssen energisch vorangetrieben werden. Der Staat, die Gesellschaft hat die Verpflichtung, der Jugend mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu helfen. Wir kennen die Ausflüchte und zum Teil die Sorgen des Finanzministers; aber sie sind nicht in allen Dingen stichhaltig. Wir dürfen, wenn wir sparen wollen, nicht bei der Jugendarbeit anfangen. Viele Millionen sind und werden für Experimente ausgegeben. Die Jugendarbeit ist kein Experiment, sie ist eine Staatsaufgabe. Der Großteil unserer Jugend hat kein Verständnis dafür, daß bei der Mittelvergabe für Jugendpflege nie genügend Geld da war, daß man es nie hatte und nie hat, daß man aber bereit ist, Milliarden auszugeben, wenn es gilt, für die Jugend neue Kasernen zu bauen
und sie zu sogenannten „Kerlen" zu erziehen.
In einer der letzten Plenarsitzungen machte man einem Jugendverband Vorwürfe, weil er sich erlaubt hat, etwas anderes zu beschließen, als es die Regierung gewünscht hätte.
Ich glaube, meine Damen und Herren, es wäre besser, wenn sich die Regierung und ein Teil der
Koalitionsparteien auch einmal um die anderen Be-
schlösse dieser Jugendverbände, die seit Jahren vorliegen, kümmern würden.
Ich möchte zum Abschluß nur noch eines sagen. Herr Kollege Dr. Seffrin hat vor der Staatsjugend und vor der staatlichen Lenkung gewarnt. Herr Dr. Seffrin, haben Sie wirklich so wenig Vertrauen in Ihre eigenen Regierungsstellen, daß Sie die Gefahr fürchten, bei der Einrichtung einer Bundeszentrale hier vielleicht eine sogenannte Staatsjugend erstehen zu sehen?
— Wir besitzen genau so viel Vertrauen in die Jugend. Wir halten die Jugend genau wie Sie für gut. Aber wir sind der Meinung, daß die Mittel, die der Bund heute für die Jugendarbeit ausgibt, bei weitem nicht ausreichen, die Lage dieser Jugend zu verbessern.