Rede von
Karl
Wienand
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Drucksache 883 beantragt meine Fraktion die Errichtung eines Instituts für Jugendfragen. Das Institut soll durch eigene Forschung und durch Erteilung von Forschungsaufträgen an Universitäten und wissenschaftliche Einrichtungen eine systematische Zusammenfassung und Auswertung der Erkenntnisse über die Situation und die Haltung der jungen Generation erarbeiten. Im weitesten Sinne des Wortes bedeutet Forschung jedoch die höchste Form des Erkenntnisstrebens. Durch sie wurden und werden Voraussetzungen geschaffen für die Entwicklung kompliziertester Formen menschlicher Lebenstechnik innerhalb der Gesellschaft. Bei den Naturwissenschaften und der Technik hat man dieses seit langem erkannt, wenn es auch zur Zeit nicht entsprechend honoriert wird. Die gleichen Erkenntnisse sind jedoch leider noch nicht bei den Geisteswissenschaften und bei den Sozialwissenschaften in diesem Maße verbreitet. An eine entsprechende Honorierung auf diesem Gebiet wird demnach leider noch weniger gedacht. Die Auswirkungen der ständigen Komplizierung des Gesellschaftsaufbaues auf den Reifeprozeß der jungen Menschen und auf seine Fähigkeit zur Mitwirkung im gesellschaftlichen Geschehen erfordern jedoch eine größere Berücksichtigung dieser Disziplinen.
Gewöhnlich übertrumpfen totalitäre Staaten und totalitäre Regime, die wir ablehnen, demokratische Staaten im Hinblick auf die Intensität und den Umfang ihrer Jugendbetreuungs- und Jugendför-
*) Siehe Anlage 3.
derungsmaßnahmen. Wir wissen um die getarnten Absichten und den eigentlichen Zweck solcher Bestrebungen. Das Resultat ist in allen Fällen eine Staatsjugend, die in einem demokratischen Staat nie als Ziel irgendwelcher Maßnahmen angestrebt werden kann und darf. Um so mehr hat aber der demokratische Staat die Aufgabe, sich mit diesen Gegebenheiten zu beschäftigen, und dies in besonderem Maße nach solchen turbulenten Zeiten, wie sie hinter uns liegen. Diese Zeiten brachten gesundheitliche Mängel der meisten Jugendlichen mit sich. Die ärztliche Wissenschaft ist bis heute noch nicht mit der sehr zahlreich beobachteten Wachstumsüberstürzung und den sich daraus ergebenden Folgen fertig geworden. Wir stellen bei sehr vielen Jugendlichen eine biologische Reife fest und vermissen die entsprechende geistig-seelische Reife. Allein diese Tatsache erfordert schon Untersuchungen des geistigen und psychologischen Standes und der geistigen und psychologischen Situation der Jugend von heute.
Lägen solche Ergebnisse vor, so ware die Diskussion um die anstehende Jugendgesetzgebung auf einem besseren Niveau zu führen, als es heute teilweise der Fall ist. Vor allem hätte man dann durch die verschiedensten Untersuchungen in den letzten Monaten aufgedeckte Mißstände und Verstöße gegen den Jugendarbeitsschutz und den allgemeinen Jugendschutz früher erkannt und für Abhilfe sorgen können. Untersuchungen auf diesem Gebiet würden die Auswirkungen der Technik und der technisierten Arbeitsform auf den jungen Menschen deutlich machen und vor allem die damit verbundene körperliche Beanspruchung des jungen Menschen besser berücksichtigen können. Konsequenzen sind leichter zu ziehen, wenn entsprechend objektiv fundierte Gutachten und Untersuchungsergebnisse vorliegen.
Was bisher nur skizzenhaft angedeutet werden konnte, ist in den deutschen Jugendverbänden schon seit langem erkannt worden. Es fehlen ihnen jedoch zur Fortführung ihrer Arbeit die objektiven, wissenschaftlich fundierten Unterlagen, die das von uns beantragte Institut erarbeiten soll. In diesem Zusammenhang muß einmal ausgesprochen werden, mit wieviel Idealismus und Opferbereitschaft innerhalb der Jugendverbände die jungen Menschen bisher selbst ohne jeglichen Ansporn von außen her gearbeitet haben
und mit wieviel Liebe und Hilfsbereitschaft junge Menschen, sowohl Jungen als auch Mädel, sich diesen Aufgaben gewidmet haben und aus ihrer Arbeit heraus immer wieder die Frage nach gewissen Hilfsmitteln nunmehr an uns und damit auch an diesen Staat stellen.
Gewiß hat der seit fünf Jahren bestehende Bundesjugendplan und haben die Landesjugendpläne hier und da Abhilfe schaffen können. Jeder, der sich die Mittelaufteilung des nunmehr in der Planung vorliegenden 6. Bundesjugendplanes ansieht, erkennt die Vielgestaltigkeit und die Wichtigkeit dessen, was getan werden muß und was getan worden ist. Trotzdem dauerte es immerhin fünf Jahre, bevor man im 6. Bundesjugendplan einen eigenen Landjugendplan für die Landjugend aufstellte. Den Anstoß für die Aufstellung dieses Landjugendplanes mußte aber immerhin eine Untersuchungsreihe geben, die von der Landjugend
in Verbindung mit der Forschungsgemeinschaft selbst durchgeführt wurde. Diese Untersuchung der Landjugend räumte schon, obwohl sie nur im Bereich der organisierten Landjugend durchgeführt werden konnte, mit sehr vielen vorgefaßten Meinungen und Vorurteilen auf. Wenn man sich ansieht, wie die 30 Millionen des Bundesjugendplanes verplant und angesetzt werden, so stellt sich einem zwingend die Frage, ob die Möglichkeiten einer Erfolgskontrolle im Hinblick auf diese 30 Millionen bei uns vorhanden sind und ob man die Absicht hat, diese Möglichkeiten einer Erfolgskontrolle auch entsprechend anzuwenden. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Mittel des Bundesjugendplans unnütz vertan worden sind, jedoch müßte einmal die Frage überprüft werden, ob man nicht bei Vorlage der von uns gewünschten Forschungsergebnisse Mittel plan- und sinnvoller an Schwerpunkten hätte einsetzen und somit einen größeren Nutzeffekt erzielen können. In sehr vielen Gesprächen mit verantwortlichen Führern und Persönlichkeiten der Jugendverbände wird klar, daß sie diesen Wunsch haben und es begrüßen würden, wenn von dieser Seite eine entsprechende Hilfestellung geboten würde. Einige Landesjugendpläne haben sich ebenfalls bereits mit diesem Gedanken beschäftigt und Mittel vorgesehen, um diese Forschungsaufgaben, die wir durch das Institut für Bundesjugendfragen vom Bund aus geregelt sehen möchten, nunmehr in eigener Regie durchzuführen.
In diesem Zusammenhang sollte auch noch erwähnt werden, daß der geschäftsführende Ausschuß des Bundesjugendrings die Errichtung eines solchen zentralen Bundesjugendinstituts begrüßt hat. Ich hatte vor einigen Jahren Gelegenheit, an der vorbereitenden Arbeitstagung für die Errichtung des UNESCO-Jugendinstituts teilzunehmen. Die dort von den Teilnehmern der meisten demokratischen Staaten der Welt vorgebrachten Begründungen waren so reichhaltig und geben zu so vielem Nachdenken Anlaß, daß man sich wirklich einmal mit ihrem Für und Wider beschäftigen sollte.
Mittlerweile hat nun dieses UNESCO-Jugendinstitut seine Arbeit aufgenommen. Aus einer Korrespondenz, die ich vor kurzer Zeit mit dem Direktor dieses Instituts hatte, ist zu entnehmen, daß man bereits in der kurzen Zeit eine große Summe von Erfahrungen gesammelt hat, die gewiß zu der Hoffnung berechtigen, daß Institute auf nationaler Ebene, die korrespondierenden Charakter zu diesem UNESCO-Institut haben, für das UNESCO-Institut eine gewisse Hilfestellung bedeuten könnten. In Frankreich hat man bereits die entsprechenden Konsequenzen gezogen. Dort ist vor kurzer Zeit ein Studienbüro eingerichtet worden, welches einmal den Zweck hat, objektive wissenschaftliche Untersuchungsaufgaben für den Bereich der Jugend durchzuführen — genau so wie wir es für ein zentrales Jugendinstitut wünschen —, und zum anderen auch den ganz konkreten Zweck, als korrespondierendes Institut das UNESCO-Jugendinstitut zu unterstützen. Das Institut sollte weiter objektiv und unabhängig die Herausarbeitung sinnvoller praktischer Möglichkeiten der staatsbürgerlichen Erziehung übernehmen. Probleme der internationalen Erziehung und der Vorbereitung auf ein Leben in überstaatlichen Zusammenschlüssen sollten ebenfalls mit zur Aufgabe dieses Instituts gehören und könnten wiederum in enger Zusammenarbeit mit dem vorhin erwähnten UNESCO-Jugendinstitut gelöst werden.
Es ließe sich ein ganzer Katalog von Problemen, die unbedingt ihrer Lösung harren, aufzählen, so z. B. eine von jeder Dogmatik freie Untersuchung der Wirkung von Film, Funk, Fernsehen, Presse und Literatur auf den jungen Menschen, die Überprüfung der Möglichkeiten zur Einhaltung der Jugend-Arbeitsschutz-Gesetzgebung und entsprechende Vorbereitungen für die Schaffung eines modernen, den heutigen Bedürfnissen angepaßten Berufsausbildungsgesetzes. Die sehr guten, vom DGB herausgegebenen und von der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung von Jugendfragen durchgeführten Untersuchungen über die Arbeitslosigkeit und die Berufsnot der Jugend bedürfen einer weitergehenden Interpretierung und einer Fortsetzung. Dann würde nach meiner Überzeugung in absehbarer Zeit nicht mehr von einer Berufsnot der Jugend gesprochen werden, sondern nur von einem jetzt akut werdenden Facharbeitermangel in der deutschen Industrie.
In diesem Zusammenhang ist noch die Frage aufzuwerfen, ob für die Berufsfindung der jungen Menschen nicht mehr getan werden könnte, vor allen Dingen für eine Verbreiterung der Berufs-ausbildungs- und der Berufsfindungsmöglichkeiten für junge Mädchen in der Bundesrepublik.
Gerade heute ist es nötiger denn je, zu einer systematischen Jugendarbeit zu kommen. Eine systematische Jugendarbeit ist jedoch ohne eine entsprechende Grundlagenforschung undenkbar. Das, was zur Zeit an Untersuchungen von einzelnen Meinungsforschungsinstituten vorliegt, reicht bei weitem nicht aus und läßt nur wenige Rückschlüsse auf die derzeitige Situation und die Einstellung der Jugend zu. Besonders in letzter Zeit zeigt sich, daß sehr viele Probleme der Jugendpolitik, Maßnahmen zur Überwindung der Jugendnot, vor allem in den Zonengrenzgebieten, und Fragen der Jugendgesetzgebung entschieden werden, ohne daß -die Entscheidungen auf Grund umfassender und sachgerechter Ermittlungen über die tatsächlich vorhandene Ausgangsituation erfolgen. Ja, man kann sagen, daß heute auf dem Jugendsektor nach den Vorstellungen, die ihren Ursprung in den zwanziger Jahren haben, gearbeitet wird. Dies läßt sich seit rund 30 Jahren in Deutschland verfolgen. Nur so läßt sich damit auch das nur als unbeholfen zu bezeichnende Verhalten der maßgebenden deutschen Stellen bei der Behandlung des Fremdenlegionär-Problems beurteilen und erklären.
Besonders deutlich wurde diese Tatsache jedoch bestätigt durch die Beobachtung des zweiten sogenannten Deutschlandtreffens der FDJ in Berlin. Hier zeigte es sich, daß die Vertreter der Bundesrepublik teilweise mit völlig falschen Erwartungen und Vorstellungen in die Gespräche der Jugendlichen aus der sowjetisch besetzten Zone einstiegen. Eine vorherige objektive Untersuchung der Situation durch eine parteipolitisch unabhängige Stelle hätte für die Vertreter der Bundesrepublik eine wesentlich bessere Ausgangssituation geschaffen.
Hiermit ist eine wesentliche Aufgabe angesprochen, die das Institut zu erfüllen hat. Wie allgemein bekannt sein dürfte, haben sich die deutschen Jugendverbände der dankenswerten, aber sehr schweren Aufgabe unterzogen, nunmehr in gemeinsame Gespräche mit den Jugendlichen der sowjetisch besetzten Zone einzutreten. Wir sind es ihnen einfach schuldig, da diese Arbeit von unschätzbarem Wert für unser gesamtes deutsches Volk ist, im Hinblick auf die Wiedervereinigung die nötige Unterstützung, soweit das in unserer Macht liegt und mit unseren Mitteln möglich ist, zu geben. Wir müßten auch — das sei in diesem Zusammenhang gesagt — den Mut aufbringen, objektiv, fern jeder Parteipolitik, nur der Wahrheit dienend, das herauszustellen, was in der Sowjetzone vielleicht besser ist als bei- uns. Die Wahrheit ist ein wesentlicher, nicht zu unterschätzender Faktor in der Demokratie. Entsprechende Arbeiten auf diesem Gebiet würden uns gewisse Erleichterungen verschaffen und würden einzelne von uns nicht in die Situation gebracht haben, von den Jugendlichen aus der sowjetisch besetzten Zone mit Tatsachen konfrontiert zu werden, was sich nur zu unserem eigenen Nachteil ausgewirkt hat. Wenn entsprechende Arbeiten auf diesem Gebiet vorliegen, wird deutlich werden, daß die Bundesrepublik noch wesentliche Anstrengungen unternehmen muß, um gegenüber der Jugend attraktiver zu erscheinen und ein wesentliches Plus gegenüber den anderen herausstellen zu können.
Wir sollten in diesem Zusammenhang einmal ansprechen, was — wenn auch aus den vorhin angedeuteten getarnten und zweckbetonten Gründen — in der Ostzone besser geregelt ist als bei uns. In -diesem Zusammenhang wird immer wieder die Frage der Schulgeldfreiheit aufgeworfen. Man komme mir jetzt nicht mit irgendwelchen Bedenken, die im Grundgesetz liegen mögen; denn den Jugendlichen ist es ja in letzter Konsequenz gleichgültig,
wie dieses Grundgesetz beschaffen ist, wenn sie nur diese Vorteile bekommen, die ihnen anderswo geboten werden. Man sollte dann wohl auch einmal — und hierüber sollten vor allen Dingen diejenigen ein sehr deutliches Wort 'sprechen, die die Probleme kennen — über das gesamte deutsche Schulproblem, nicht allein im Hinblick auf die Verfassung, sondern von der Notsituation der Jugend ausgehend, ein sehr deutliches Wort sagen.
Zu den Ausbildungsmöglichkeiten habe ich schon vorhin einiges gesagt. Aber es erscheint noch erwähnenswert, daß bei uns sehr viel zu tun übrigbleibt zur Fundierung und auch zur Schaffung der Voraussetzungen der jungen Ehen, nicht zuletzt im Hinblick darauf, daß auch die jungen Mädchen, die morgen in den Ehestand eintreten sollen, eine entsprechende Vorbereitung auf ihre Haushaltspflichten, die es zu übernehmen gilt, bekommen sollten.
Wir sollten auch immer wieder vom Arbeitsschutz,
von der Berufsausbildung und von der staatsbürgerlichen Erziehung der deutschen Jugend reden.
Wenn wir diese.Dinge ansprechen, so ist im gleichen Atemzug auch die Lage der akademischen Jugend in der Bundesrepublik angesprochen. Ich selbst habe rund 10 Semester als Werkstudent studiert und weiß, wie es um -die Situation derjenigen bestellt ist, die sich als Werkstudenten durch ihr Studium hungern müssen. Auch hier sind sehr dankenswerte Aufgaben zu erfüllen, und ihre Erfüllung würde in letzter Konsequenz der gesamten Gesellschaft und damit dem gesamten Volke zugute kommen.
Aus all diesen Gründen und weil wir wünschen, daß in der Zukunft die vorhandenen Mittel effektvoller und zweckmäßiger eingesetzt werden, beantragt meine Fraktion die Errichtung dieses Jugendinstituts. Wir sollten nicht immer so lange mit einem entscheidenden Schritt auf eine bessere Situation der Jugend warten, wie es im vergangenen Jahrhundert geschehen ist, wo der Anstoß zur Jugendgesetzgebung und zu Schutzmaßnahmen für die Jugend erst gegeben wurde, als der Staat seine Rekrutierungen gefährdet sah.
Wenn man auch gewisse Parallelen zur heutigen Zeit ziehen kann, sollte man doch ganz klar erkennen, daß im Vordergrund der Mensch und nicht die Rekrutierung oder allein die Belange der Wirtschaft, die damals in der Wirtschaftsordnung und in der Wirtschaftsverfassung immer wieder in den Vordergrund gestellt wurden, im Vordergrund zu stehen haben.
Ich möchte nicht, da sie allgemein bekannt sein dürfte, die denkwürdige Rede des englischen Abgeordneten Macauley zitieren, der sich gerade mit diesem Problem beschäftigt. Unser Wunsch ist es, daß wir sehr schnell auf diesem Wege, wie wir ihn angedeutet haben, im Hinblick auf die brennenden Probleme, die es für die Jugend zu lösen gilt und die die Jugend heute bereit ist, mit zu lösen, diese Arbeit aufnehmen. Man rede auch nicht immer davon, daß derjenige, der die Jugend besitzt, die Zukunft hat. Es ist besser, daß man sehr nützlich in die Zukunft plant. Dann ist diese Planung für die Jugend, und wer damit die Jugend bekommt, der hat die Zukunft von selbst.
Wir beantragen deshalb von seiten der sozialdemokratischen Fraktion die Überweisung der vorliegenden Drucksache 883 an den Ausschuß für Jugendfragen.