Rede von
Dr.
Baron
Georg
Manteuffel-Szoege
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach Wochen der Sorge und der Unruhe, die uns nach dem Scheitern der Brüsseler Konferenz und der Ablehnung der EVG durch die französische Nationalversammlung erfaßten, liegt nun das Ergebnis der NeunMächte-Konferenz von London vor. Dieses Ergebnis stellt einen neuen Meilenstein im Bestreben der freien Völker, sich zu verständigen und zu einigen, dar. Darüber hinaus hat die Konferenz Gott sei Dank das Prinzip nicht preisgegeben, für das die Bundesregierung, getragen von der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes, mit unermüdlicher Zähigkeit gekämpft hatte.
Allen Zweiflern und Spöttern zum Trotz spricht die Schlußakte von London von den wichtigsten Problemen der westlichen Welt, nämlich von der Sicherheit und von der europäischen Integration. Die Erläuterungen, die vorgestern der Herr Bundeskanzler dazu gegeben hat, beweisen uns, daß
die Bundesregierung auch heute noch an diesem Ziele festhält, um unter veränderten Umständen auf anderem Wege das gleiche Ziel zu erreichen. Das außenpolitische Ziel der Bundesregierung hat immer darin bestanden, den von französischen Staatsmännern eingeleiteten Plan der Integrierung Westeuropas zu verwirklichen.
Das Ergebnis von London begrüßen wir auf alle Fälle. Der Besatzungszustand wird definitiv beendet. Dieses Ergebnis beweist, daß sich die Bundesrepublik Deutschland das Vertrauen der freien Welt weitgehend erworben hat. Es ist auf dem Wege, aus einem besetzten Land ein verbündetes Land zu werden. Mögen sich nun neue Wege ergeben oder mögen diese Wege in die alten einmünden, fest steht doch wohl folgendes: wir sollen unsere Souveränität, d. h. unsere nationale Unabhängigkeit wieder erhalten. Daß dieses möglich geworden ist, muß als Zeichen eines uns gewährten Vertrauens gewertet werden.
Vertrauen ist im Leben der Völker und der Staaten genau so wie im Leben der einzelnen Menschen eine zarte Pflanze. Sie gedeiht nicht, sondern verkümmert, wenn sie nicht fortlaufend gepflegt wird. Schon in Brüssel zeigte es sich, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht allein stand. Zwar vermochten die Beneluxstaaten und Italien die Widerstände nicht zu überwinden, die sich damals auf französischer Seite entgegenstellten. So negativ auch zunächst das Ergebnis von Brüssel erschien, so wurde doch bereits damals eine der Grundlagen für London gelegt. Wenn dann die beiden angelsächsischen Großmächte nach gründlicher Vorbereitung alles taten, um die Londoner Konferenz zu einem positiven Ergebnis zu führen, so ist das auch ein Beweis des uns geschenkten Vertrauens. Trotz 1 allen Belastungen aus der Vergangenheit und trotz allen Mißverständnissen in jüngster Zeit sollten wir nicht vergessen, daß es auch in Frankreich weite Kreise gibt, die uns vertrauen.
Wenn das in London erreichte Ergebnis nicht wieder gefährdet werden soll, haben wir die wahrlich nicht leichte Aufgabe, uns diese Vertrauensbasis zu erhalten und darüber hinaus weiteres Vertrauen zu gewinnen. Ich möchte mit aller Deutlichkeit feststellen, daß dieses Vertrauen nicht in diesem Ausmaß vorhanden gewesen wäre und nicht so reiche Früchte getragen hätte, wenn nicht die Linientreue der deutschen Bundesregierung uns den Ruf der Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit in der internationalen Politik wieder eingebracht hätte.
Nunmehr sind anscheinend die Voraussetzungen für eine ruhige und stetige Außenpolitik gegeben. Wir denken auch nicht daran, die uns durch das Ende des Besatzungszustandes wiedergewonnene Bewegungsfreiheit für etwas anderes zu gebrauchen als für die Fortsetzung einer ruhigen und stetigen Außenpolitik.
Jemand, der sich plötzlich nach langen Bemühungen frei bewegen kann, sollte nicht sofort mit einem Dauerlauf beginnen.
Daher würde ich es begrüßen, wenn unsere Regierung nicht unter den ersten Schritten, sondern erst nach sorglicher Erwägung des Für und Wider diplomatische Vertretungen errichtete, wo solche noch nicht bestehen. Die Bedeutung einer solchen Vertretung auch bei einer Weltmacht hängt nicht von der Schnelligkeit ihrer Errichtung ab, sondern sie
hängt ab von der Wahl der geeigneten Person oder
der geeigneten Persönlichkeiten und sie hängt
weiterhin von dem richtig gewählten Zeitpunkt ab.
Zwar haben die verhinderten deutschen MoskauPilger in letzter Zeit prominenten Zuzug erhalten, aber diese gut gemeinten Reisepläne werden auf unseren außenpolitischen Kurs nicht den geringsten Einfluß ausüben.
Mit dem Ergebnis von London ist der Zeitpunkt nähergerückt, in dem deutsche Streitkräfte errichtet werden sollen. Das Recht der Verteidigung ist ein Bestandteil der Souveränität eines freien Volkes. Die Aufstellung unserer Streitkräfte ist für uns nicht nur die freiwillige Ausübung eines uns wiedergewährten Rechtes, sondern wird von uns in erster Linie als eine schwere und harte, ja sogar vielleicht drückende Pflicht empfunden,
die wir als Bestandteil der freien Welt auf uns nehmen müssen.
Wir sollten uns darüber im klaren sein, daß wir in den ersten Jahren nach der Errichtung deutscher Streitkräfte im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit argwöhnischer und nicht immer wohlwollender Kritik ausgesetzt sein werden. Daher sollten wir in Wort und Schrift alle Äußerungen vermeiden, die, so harmlos sie auch gemeint sein mögen, trotzdem als ein Rückfall in eine unglückselige Vergangenheit empfunden werden könnten.
Wir wissen jetzt, daß England entgegen den Traditionen, j a fast entgegen den Grundsätzen seiner eigenen Geschichte sich bereit erklärt hat, Truppen auf dem Kontinent zu belassen, und diese nur mit Zustimmung der Mehrheit seiner Vertragspartner — zu denen j a auch wir gehören — zurückziehen wird. Wenn unsere Gegner uns vorhalten, daß wir durch unseren Beitrag zur Verteidigung der freien Welt eine Pflicht oder eine Vorleistung auf uns nehmen, dann sollten wir ehrlich genug sein, zuzugeben, daß die von uns geforderten Leistungen nicht größer sind als die, die die übrigen Vertragspartner auf sich genommen haben, insonderheit Großbritannien.
In der Herstellung von Waffen mußte die Bundesrepublik Beschränkungen hinnehmen, denen die übrigen Mächte nicht unterworfen sind. Man soll diese Beschränkungen nicht als Diskriminierung bezeichnen, auch wenn die übrigen Großmächte ihnen nicht unterworfen sind. Wir sind aus eigener Kraft nicht in der Lage, die sogenannten A-, B- und C-Waffen herzustellen. Wir befinden uns ohne Zweifel in der Zone der strategischen Gefährdung. So entschlossen unsere Bereitschaft ist, einen Beitrag zur Verteidigung der freien Welt zu leisten, so sehr sollten wir es im Grunde begrüßen, daß Deutschland an der Herstellung dieser apokalyptischen Massenvernichtungsmittel nicht beteiligt ist.
Der Brüsseler Vertrag richtete sich ursprünglich gegen Deutschland. In der neuen Fassung werden Deutschland und Italien in den Vertrag einbezogen. Er richtet sich grundsätzlich gegen niemanden und damit gegen jeden, der eine Aggression gegen eine Vertragsmacht unternimmt. Er hat gegenüber der NATO zwei erhebliche Vorzüge für uns. Erstens: er setzt nicht ein Minimum der Rüstungen fest wie die NATO, sondern er bestimmt das Höchstmaß der Rüstung. Er ist damit geeignet, der Sowjetunion
den Vorwand zu nehmen, ein neuer deutscher Militarismus mit Angriffsabsichten gegen den Osten sei im Entstehen begriffen. Die Brüsseler Organisation ist damit gleichzeitig ein Instrument der Rüstungskontrolle und damit der internationalen Sicherheit. Zweitens: im Gegensatz zur NATO geht aber der Brüsseler Pakt in dem Ausmaß der Hilfeleistung gegen einen Angriff weiter; denn die Hilfeleistung sämtlicher anderer Vertragspartner zugunsten des angegriffenen Staates setzt dann automatisch ein.
Man kann die Lage Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg infolge der völlig veränderten Umstände nicht mit der heutigen vergleichen. Der Zusammenbruch nach dem ersten Weltkrieg war nicht annähernd so groß wie der nach 1945. Vor allem aber blieb die Einheit unseres Reiches erhalten. Gerade deshalb wage ich, das kühne Wort zu sagen: Hätte sich Stresemann nicht glücklich gepriesen, wenn er nach fünfjährigen Bemühungen das erreicht hätte, was, wie wir hoffen, nun Wirklichkeit zu werden scheint?
Ich glaube, auch bei kühler und abwartender Betrachtung der Sachlage ist diese Überlegung nicht unberechtigt.
Wenn in der Schlußakte der Londoner Konferenz die Regierungen der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs erklären, daß sie die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige deutsche Regierung betrachten, die frei und rechtmäßig gebildet wurde und daher berechtigt ist, für Deutschland als Vertreterin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen, so ist damit, glaube ich, eine Festlegung erfolgt, die bei den künftigen Verhandlungere über die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit ein unschätzbares politisches Kapital darstellt.
Ob man damit einverstanden ist oder nicht, ob man es bedauert oder nicht, auf unserer irdischen Welt muß ein Staat auch über konkrete politische Macht verfügen, um seine ethisch berechtigten Aufgaben verwirklichen zu können. Das heißt auf unsere Verhältnisse übertragen: die Bundesrepublik Deutschland braucht politische Macht und zuverlässige Partner, wenn sie mit der Sowjetunion in ein echtes Gespräch kommen will. Nur eine politisch handlungsfähige und von starken Partnern unterstützte Bundesrepublik Deutschland hat eine konkrete Chance, mit der Sowjetunion in ein reales Gespräch über die Wiedervereinigung Deutschlands im richtigen Zeitpunkt zu gelangen.
Alle Hoffnungen auf die Wiedervereinigung Deutschlands und alle Bemühungen um dieses Ziel entheben uns nicht der Aufgabe, die Bundesrepublik Deutschland nach innen und nach außen so widerstandsfähig wie nur immer möglich zu machen. Dafür genügen nicht allein militärische Machtmittel — ich möchte das nachdrücklich unterstreichen —; dafür bedarf es ebenso sehr der geistigen Klarheit wie der sozialen Stabilität. Es bedarf außerdem einer ausgewogenen Gesellschaftsordnung und einer über den materiellen Bereich hinausgehenden Wertordnung der Güter dieses Lebens, wenn wir mit der Ratifizierung der Verträge von London eine feste außenpolitische Basis erhalten haben.
Unser außenpolitischer Wert und unsere Bedeutung für unsere Vertrags- und Verhandlungspartner hängen nicht zuletzt davon ab, daß wir aus dem Zustand der innenpolitischen Improvisation herauskommen und zu stabilen Dauerlösungen gelangen. Das Wort vom Primat der Außenpolitik findet seine Bestätigung nur auf dem Hintergrunde einer geordneten Innenpolitik.
Gestatten Sie mir, noch ein weiteres, vielleicht sehr persönliches Wort vorzubringen. In der Christlich-Sozialen Union sind die Vertriebenen durch Abgeordnete verhältnismäßig zahlreich vertreten. Ich selbst gehöre zu ihnen. Bei uns ist die Enttäuschung darüber, daß der EVG-Vertrag gescheitert und die Europäische Politische Gemeinschaft zunächst in den Hintergrund getreten ist, besonders groß.
Haben doch viele von uns gehofft, daß die Zugkraft eines vereinigten Europa besonders gute Lösungsmöglichkeiten für die zahlreichen Ostprobleme gebracht hätte, nicht nur für die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit, sondern auch für eine gewaltlose Rückkehr in die unvergessene Heimat.
Das Wort des ersten Vertriebenenministers, Lukaschek, steht vor meinen Augen: „Wir wollen nicht
an frischen Gräbern vorüber die Heimat betreten".
Es ist ganz selbstverständlich, daß die Vertriebenen den Gedanken der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes immer wieder ganz besonders stark herausstellen. In der Disziplin, die sie in der erdrückenden Mehrheit auszeichnet, sind sie auch nach allem, was sie getroffen hat, bereit, die wirtschaftlichen und persönlichen Lasten der militärischen Verteidigungsbereitschaft auf sich zu nehmen. Sie bleiben dabei den Grundsätzen der Charta der Vertriebenen treu, die jeden Gedanken an Rache und Gewalt von vornherein grundsätzlich ausschließen.
Zum Schluß noch eines. Ein leiser Neid erfaßte einen, wenn man beobachten konnte, in wie geringem Ausmaße sich die außenpolitischen Auffassungen bei Regierung und Opposition in England voneinander unterscheiden. In der Vergangenheit drehte sich der Kampf der Regierungsmehrheit mit der Opposition bei uns um die Frage der europäischen Integration. Der Gedanke der Integration, der im Montanvertrag seinen ersten und konkreten Ausgang gefunden hatte, kann zunächst nicht weitergeführt werden. Damit entsteht für die Opposition ein Ausgangspunkt, zu einer gemeinsamen Außenpolitik mit der Regierung zu gelangen.
Sie kann dabei allerdings nicht an ihrer Forderung festhalten, daß unter den gegenwärtigen Umständen sofort eine Vierer-Konferenz über die Wiedervereinigung Deutschlands stattfinden soll.
Und zudem soll die Opposition endlich in der Frage der Verteidigungsgemeinschaft klar Farbe bekennen,
damit wir und die Welt wissen, woran wir sind. Denn ein Volk in unserer Lage ist um so stärker, je einiger es nach außen hin auftritt.
In schwersten Stunden hat das deutsche Volk außerordentliche Widerstandskraft bewiesen. Es wird daher jetzt die Nerven haben, einer Politik zu folgen, die schrittweise und unpathetisch vorgeht. Manchmal hat man das Empfinden, als ob die schwergeprüften Brüder und Schwestern jenseits des Eisernen Vorhangs dieses unser Handeln am tiefsten begreifen, jedenfalls besser als manche Satten und Kurzsichtigen diesseits des Eisernen Vorhangs.
Jede Politik besteht in der Kunst, das Mögliche zu erreichen. Wir sollten uns daher bei der Kritik am Londoner Ergebnis davor hüten, Unmögliches zu verlangen. Jeder Billigdenkende wird der Regierung und vornehmlich dem Manne, der ihre Außenpolitik führt, die Anerkennung nicht versagen können, daß mit großer Hingabe, mit großer Anspannung aller physischen und geistigen Kräfte in London alles getan wurde, was überhaupt nach menschlichem Ermessen geschehen konnte, und daß erreicht wurde, was unter den gegebenen Umständen überhaupt zu erreichen war; und dafür sollten wir alle, ohne Rücksicht auf parteipolitische Unterschiede, ihm aufrichtig danken.