Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Aussprache und namentlich die Stellungnahme der Opposition hat einen Vorteil gebracht, nämlich den Vorteil der Klarheit. Wir haben damit die Möglichkeit, uns mit den Auffassungen der Opposition deutlich auseinanderzusetzen, und ich halte das für nötig. Ich stimme nur in einem einzigen Punkt mit den Darlegungen der Opposition überein, nämlich darin, daß eine deutsche Außenpolitik nur mit den Mitteln des Friedens betrieben werden kann. Ich glaube, daß diese Auffassung, diese innerste Friedensbereitschaft unseres Volkes und Staates eine der wichtigsten Grundlagen überhaupt für die neue Existenz unseres Volkes in der Gemeinschaft der Völker ist. Aber wir haben uns zu fragen, wie diese Friedenspolitik betrieben werden kann.
Wir überschauen drei Phasen der Entwicklung. Die erste Phase, die mit dem Kriegsausgang verknüpft war und ihre Grundlage in Yalta und Potsdam gefunden hat, war eine reine Siegerpolitik, aufgebaut auf dem Tatbestand der Unterdrückung des Besiegten. Die zweite Phase zielte darauf ab, eine westliche Zusammenarbeit zustande zu bringen, eine Zusammenarbeit der freien Völker und eine ganz enge Zusammenarbeit der europäischen Völker. Diese Phase hat sich lange hingezogen, und das Londoner Instrument hat nun den Namen „Schlußakte" bekommen. Ich möchte hier der Hoffnung Ausdruck geben, daß es sich nicht um eine
Schlußakte, sondern um eine Londoner Anfangsakte handeln möge, die eine dritte Phase der Vollendung der europäischen Einigung einleitet.
Was bedeutet eigentlich der Friede? Welches sind die Grundelemente des Friedens unter den Völkern? Ich möchte es dahingehend definieren, daß Freiheit und Sicherheit die Substanz des Friedens sind und sein müssen, den wir erreichen wollen. Freiheit und Sicherheit sind die unverzichtbaren Grundpfeiler des Friedens.
Wenn wir die deutsche Außenpolitik überblicken und uns einen Begriff machen wollen, worum es eigentlich gegangen ist, so läßt sich alles unter den Generalnenner vereinigen: es ist um den Frieden Deutschlands mit friedlichen Mitteln gerungen worden. Aber wenn der Weg beschrieben werden soll, den wir gehen müssen, so muß man zu dem Ergebnis kommen, daß der deutsche Friede nur eingebettet sein kann in einen europäischen Frieden. Um diesen europäischen Frieden und damit auch den deutschen Frieden zu erlangen, ist es notwendig, daß Deutschland — ganz Deutschland — einen neuen Status in diesem zerstörten und neu zu schaffenden europäischen Staatensystem findet. Wie aber — so ist die Frage zu stellen — ist die Möglichkeit der Freiheit und der Sicherheit zu gestalten?
Deutschland war im Mittelalter als Heiliges Römisches Reich in der Mitte Europas gewissermaßen das Zentrum unseres Kulturkreises. Im 19. Jahrhundert, als die beiden großen Mächte im Osten und im Westen aufstiegen, wurde es zu einer Brücke, in der Mitte dieses Kontinents gelegen, einer Brücke zwischen Ost und West. Wir können in unserer neu zu erarbeitenden außenpolitischen Grundkonzeption nicht an dem Tatbestand vorbeigehen, daß Deutschland in eine Randlage geraten ist, zu einem Grenzland zwischen Ost und West geworden ist. Ich sage dies, um auch dem Altreichskanzler Brüning zu begegnen, der eine politische Konzeption entwickelt hat, aufgebaut auf die sogenannte Brückenfunktion in der Mitte Europas. Diese Brückenfunktion ist nicht mehr gegeben; denn das alte Staatensystem ist zugrunde gegangen, vor allen Dingen dadurch, daß Osteuropa dem Ostblock anheimgefallen ist.
Eine Brückenfunktion zwischen Ost und West — und ich halte es für wichtig, das einmal zu betonen — ist nur dann gegeben, wenn Osteuropa frei ist. Dann erst wieder wird Mitteleuropa zu jener brückenmäßigen Mittellage kommen. Jetzt — und das sei tief beklagt — ist Deutschland zum Randgebiet geworden. Daher stimmt keine Berufung auf historische außenpolitische Konzeptionen mehr. Wir haben eine völlig neue außenpolitische Konzeption zu entwickeln. An dieser Tatsache scheint mir die Grundauffassung der Opposition, der Sozialdemokratie vorbeizugehen. Es scheint mir, daß sie immer noch von jenem nationalstaatlichen Konzept der Brückenfunktion Deutschlands getragen ist.
Herr Ollenhauer hat die wichtige Kernfrage in einem Kontrast gesehen: ob erst und mit jedem Vorrang eine Wiedervereinigungspolitik betrieben werden soll oder mit Vorrang eine europäische Einigungspolitik. Diese Alternative ist falsch gestellt.
Es ist eine falsche Frage, denn europäische Einigungspolitik und die Wiederherstellung der Einheit
Deutschlands, d. h. die Bestimmung Deutschlands im Status eines neuen Staatensystems, die Voraussetzung für unseren Frieden, die Voraussetzung für die Wiederherstellung der Einheit, alles dies ist ein und dasselbe Problem von verschiedenen Seiten aus betrachtet.
Deshalb halte ich den ganzen Rangstreit für einen unlogischen Schluß.
Jede Isolierung aber — das möchte ich auch der Opposition sagen —, jede Isolierung Deutschlands zwischen Ost und West bedeutet praktisch seine Neutralisierung, ob die Opposition das will oder nicht will, und es ist ja nicht nur die Opposition, sondern es gibt auch so gewisse intellektuelle Labilitäten, die sich immer von dem Prestige der Macht imponieren lassen, die damit auch Hitler anheimgefallen sind; denn wenn dieses Imponieren, dieses Verbeugen des bindungslosen Intellekts vor den dämonischen Kräften der Macht nicht gewesen wäre, wäre manches in Deutschland nicht geschehen.
Jede Isolierung Deutschlands bedeutet eben, ob man will oder nicht, seine Neutralisierung. Neutralisierung, was ist denn das? Ich bitte, klarstellen zu dürfen: wir haben ein ganz klares Neutralisierungskonzept einmal im Potsdamer Abkommen, wir haben ein Neutralisierungskonzept im russischen Notenwechsel, verschärft und noch einmal verdeutlicht und unannehmbar gemacht auf der Berliner Konferenz. Neutralisierung heißt: VierMächte-Herrschaft auf Dauer über dieses Land; denn bei einer Neutralisierung soll die Neutralität dieses Landes nicht von seinem eigenen Willen, nicht von seiner eigenen Kraft abhängen, seine Neutralität gewährleisten zu können, sondern von dem Willen der vier Oberherren, die den Status des Landes jeweils in jedem neuen Konflikt neu bestimmen. Neutralisierung auf der Potsdamer Grundlage — wozu noch die Kontrollen für das Innen-, Sozial- und Wirtschaftsgefüge dieses Landes und jegliche politische Regungen kommen —, Neutralisierung auf dieser Grundlage bedeutet nicht etwa den Frieden bringen, sondern die dauernde Zerreißung nicht nur gebietsmäßig, sondern auch im Gemüt und in den Funktionen der Menschen, die dauernde Zerreißung unter dem divergierenden Einfluß von vier Oberherren, d. h. das dauernde Austragen der Konflikte im deutschen Raum, den dauernden Zustand des Dreißigjährigen Krieges im deutschen Volke.
Neutralitätspolitik ist etwas ganz anderes. Neutral bleibt man in dem Willen, aus einem Konflikt aus eigener Kraft herauszubleiben, und man hat die Kraft, diesen Zustand respektieren zu lassen. Jeder andere Staat, der die Neutralität verletzt, wird zurückgeworfen. Eine deutsche Neutralitätspolitik ist bisher in der Geschichte gescheitert. Es gibt keinen Fall, in dem eine deutsche Neutralitätspolitik mit Erfolg durchgeführt wurde, mit Rücksicht auf unsere geographische Lage und mit Rücksicht darauf, daß das Spannungsfeld der Welt sich auf unser Land mit erstreckt.
Ich frage aber, ob überhaupt — und diese Frage hat sich der Schweizer Bundesrat 1919 bei der Frage eines Eintritts in den Völkerbund sehr klar vorgelegt — in diesem Jahrhundert noch eine Neutralitätspolitik im klassischen Sinn möglich ist. Ich
möchte das verneinen. Ich glaube, daß an die Stelle der historischen, dem 19. Jahrhundert wesentlich entsprechenden Vorstellung von der Neutralitätspolitik vielmehr eine Politik treten sollte, die ich Entspannungspolitik nenne, eine Politik, die darauf gerichtet ist, Konflikte zu entschärfen. Denn der moderne Krieg läßt weder Sieger noch Besiegte zurück. Der moderne Krieg bedeutet die Katastrophe für alle Teile; er kann keine machtpolitischen Entscheidungen bringen. Diese neue Möglichkeit einer Politik — dem dient ja das ganze Konzept der Politik einer europäischen Einigung — möchte ich als Entspannungspolitik bezeichnen. Die neue Politik, die darauf gerichtet ist, eingebettet in die größere Politik das Staatensystem Europas neu, und zwar im Sinne der Einheit, im Sinne der dauernden Zusammenarbeit zur Gewährleistung der Sicherheit und der Freiheit, also zur Erarbeitung der Substanz des Friedens, zu gestalten, ist ihrem ganzen Wesen nach Entspannungspolitik in dem Gegensatz zwischen Ost und West.
Der Weg, der mit deutscher Initiative zu dieser Entspannungspolitik führen sollte, war weit, aber er ist erfolgreich beschritten worden. Ich glaube, die Stunde, in der wir allgemein über die Londoner Schlußakte oder Anfangsakte sprechen, gebietet uns, ein klares Gesicht zu zeigen und uns zu besinnen. Der erste Schritt, den deutsche Politik tun mußte, war der, die völkerrechtliche Stellung Deutschlands wieder aufzurichten. Die Bundesrepublik ist hierbei nichts anderes als das Instrument, damit das deutsche Volk, dessen staatlicher Zusammenhang vernichtet worden ist, bei diesen weltumspannenden Verhandlungen nicht Objekt, sondern mitbeteiligtes Subjekt ist. In diesem Mitam-Tisch-Sitzen bei den Nationen, in dieser Mitbeteiligung, sehe ich den Hauptgehalt dessen, was man heute Souveränität nennt, nämlich die Fähigkeit und Verantwortlichkeit, als gleichberechtigter Partner für seine Interessen einzustehen und als gleichberechtigter Partner am Tisch der Völker zu verhandeln und zu handeln. Es geht darum, die Geschicke Deutschlands durch eigene Initiative, durch ein eigenes Selbstbewußtsein — bei aller Zurückhaltung im Wort — in die Hand zu nehmen.
Die Opposition kritisiert nun, daß dieser Staat, die Bundesrepublik, jenes Gebilde, das aus einer deutschen Not hervorgegangen ist, sich zu sehr perfektioniere, daß damit die Bundesrepublik einen Teilstaat in einem vollen Sinne entstehen lasse. Ich möchte hierauf namens meiner politischen Freunde klar und deutlich antworten: es gibt keinen deutschen Teilstaat, es gibt heute und in Zukunft immer nur einen Staat, den deutschen Staat, der in der Welt als Völkerrechtssubjekt noch heute anerkannt ist.
Was hier in der schweren Verantwortung, aber auch Pflicht gegenüber dem ganzen deutschen Volk wahrgenommen wird, ist stets eine treuhänderische Ausübung der Rechte und Pflichten für das Ganze, das allein als Völkerrechtssubjekt noch besteht, das allein das Subjekt ist, für das gehandelt wird, das ganze Deutschland, das allein auch der Partner eines Friedensvertrages sein kann.
Ich möchte an dieser Grundauffassung mit aller Deutlichkeit festhalten, weil wir damit auf der einen Seite die Grenzen unserer Möglichkeiten sehen, die Grenzen unserer Rechte und die Tiefe der Verantwortung und unserer Pflichten gegenüber dem Ganzen, weil wir auf der andern Seite damit aber auch erkennen, daß die Ausübung dieser Pflicht das höchste Maß an Staatsbewußtsein und an Treue gegenüber diesem Staat zum Ausdruck bringen muß. Dieses Staatsbewußtsein und diese Treue sind zugleich das Staatsbewußtsein und die Treue gegenüber dem Ganzen, und daneben. gibt es keinen Teilstaat.
Ich habe immer etwas gegen den Begriff der Wiedervereinigung polemisiert, denn er setzt irgendwie schon in einer Gefolgschaft gegenüber der ostzonalen Propaganda die Existenz von zwei Gebilden voraus, die irgendwie gleichrangig seien, die irgendwie beide in ein Kollaborationsverhältnis zu zwei Mächtegruppen geraten seien. Das ist eine völlig falsche Sicht und ein Verstoß gegen die Grundlagen des Staatsgefühls, auf die es ankommt und nach denen wir zu handeln haben, die das Maß unserer Verantwortung verdeutlichen. Es gibt eine Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, aber es gibt nicht die Wiedervereinigung von zwei gleichberechtigten Staaten und Teilen. Es gibt nur ein en Staat, und dessen Rechte nimmt die Regierung der Bundesrepublik, der freie, demokratisch legitimierte Teil Deutschlands wahr.
Die Handlungsfähigkeit dieses freien Deutschlands wurde durch die Außenpolitik der letzten fünf Jahre tatsächlich errungen, wenn auch noch nicht de jure. Die dazu nötigen Rechtsakte sind überfällig, und wir stehen dicht vor dem Abschluß dieser Entwicklung; aber die Substanz wurde bereits errungen. Was sind im Völkerrecht papierene Rechte, die nicht von der Wirklichkeit politischer Gestaltungsfähigkeit getragen werden? Wenn wir nach der Wirklichkeit politischer Gestaltung fragen, dann kann man wohl sagen, daß fünf Jahre ein kurzer Weg und eine kurze Zeitspanne waren, daß vieles, sehr vieles, ja Entscheidendes damit erreicht worden ist, daß dieses Land überhaupt wieder die Rechte des Ganzen — die Rechte des Ganzen, wohlgemerkt, und das ist jetzt in der Londoner Schlußakte anerkannt worden — am Tisch der Völker wahrnimmt. Ich halte das für entscheidend.
Nun ein Wort zur Integrationspolitik. Die Opposition hat die Integrationspolitik angegriffen, weil sie sagt, diese Integration schaffe ein Klein-Europa und spalte Europa weiterhin auf. Auch das halte ich für eine vollkommen falsche Betrachtung. Integration ist ja nicht etwa die enge Verschmelzung, die gewissermaßen eine neue, nach außen abgeschlossene, mit einer chinesischen Mauer umzogene Einheit entstehen läßt, sondern Integrationspolitik bedeutet in diesem Sinne, daß auch nicht so sehr der Souveränitätsverzicht wesentlich ist. Jeder völkerrechtliche Vertrag enthält Bindungen und damit Souveränitätsverzichte. Nehmen Sie die Donauschiffahrts-Akte; nehmen Sie irgendeinen Vertrag, der beispielsweise eine Gerichtsbarkeit einsetzt; alles das sind Souveränitätsverzichte. Das ist also nicht das Wesen der Integration. Es ist auch nicht das Wesen der Integration, daß in ihr gewissermaßen die eigene Existenz aufgebende Verschmelzungen stattfinden. Auf das kommt es nicht an.
Ich gebe den Gegnern zu, daß die Integrationspolitik mit dem Begriff des Supranationalen vielleicht ein ferneres Ziel zu sehr dogmatisiert hat, zu schnell vorweggenommen hat. Möglich! Es ist klar, daß diese Souveränitätsverzichte in der dogmatischen Darstellung, die sie oft in der öffentlichen
Polemik gefunden haben, für England und für die skandinavischen Staaten z. B. nicht möglich waren, daß man da in der Wortung und in den Vorstellungen zum Teil viel zu weit gegangen zu sein scheint.
Aber worauf kommt es denn an? Es kommt darauf an — und das ist das Unverzichtbare für meine Freunde —, daß eine europäische Zusammenarbeit so eng gestaltet wird, daß sie nicht nur ein leicht lösbares internationales Bündnis ist, sondern ein Grundprinzip der künftigen Politik, — eine enge Zusammenarbeit, die Krisen standhält, die Dauer hat und in dieser Dauerhaftigkeit jenen Faktor in der Welt darstellt, der zum Ausgleich führen kann.
Um eine solche krisenfeste, dauerhafte und enge Zusammenarbeit auf den wichtigsten Gebieten zustande zu bringen, ist es auch notwendig, eine Gemeinschaftsautorität zu errichten. Lassen wir einmal das Wort „supranational" weg — es mußte gebildet werden, weil es einen logischen Gegensatz zum Begriff des Internationalen, der Nebenordnung, der zufälligen Ordnung, der leicht auflösbaren Ordnung darstellt —; sprechen wir der Substanz nach einfach von Gemeinschaftsautorität, wie jede auf enge Zusammenarbeit, auf Dauer und Krisenfestigkeit begründete Genossenschaft sie zu entwickeln vermag. Ohne eine solche Gemeinschaftsautorität in der Ausführung der Aufgaben der Zusammenarbeit wird man nicht auskommen können.
Nun wurde heute von der Opposition behauptet, es habe ein Bruch in der Außenpolitik der Regierung stattgefunden. Ich kann einen solchen Bruch nicht sehen. Die Regierung hat nichts anderes getan, als das, was möglich ist, zu realisieren. Ich glaube, daß dieses Londoner Übereinkommen in einer wahrhaft tiefen, gefährlichen Krise zustande gekommen ist;
und es wäre doch gegen jede Gerechtigkeit, gegen jedes Maß, möchte ich sagen, wenn man der Regierung, die in diesem Punkte nicht versagt hat, die in diesem entscheidenden Krisenpunkt das Mögliche ergriffen hat, hier nicht die Anerkennung, die Billigung, ja die treue Unterstützung geben wollte.
Wenn ich von der Londoner Anfangsakte gesprochen habe, so glaubte ich, das sagen zu dürfen, weil in diesen Abmachungen alle guten und konstruktiven Entwicklungsmöglichkeiten liegen. Sie sind noch nicht gesichert; wir haben keinen Anlaß, in Begeisterung auszubrechen;
aber wir haben die konstruktive Möglichkeit: dann nämlich, wenn starke Regierungen, entschiedene Regierungen mit einem klaren Konzept auf diesen Grundlagen weiter bauen. Ich möchte für unsere deutsche Situation sagen — diese Bemerkung und diese Bitte richtet sich nicht nur an die Opposition, sondern auch an die eigenen Reihen, und zwar möchte ich nur diese kurze Feststellung treffen und mir einen Kommentar dazu ersparen Eine schwache Regierung — im Innern eines Staates geschwächt, weil ihre Grundlagen nicht mehr festgefügt sind — ist draußen um so schwächer.
Deshalb sind hier für uns alle Verantwortungen vor unserem deutschen Volk gesetzt, gerade weil
wir eben treuhänderisch etwas für ein Ganzes wahrnehmen müssen, ohne das Gewicht und die Macht des Ganzen zu haben. Das erschwert unsere Lage. Gerade deshalb ist unsere Verantwortung hinsichtlich der Grundlagen dessen, was wir hier treuhänderische Regierung nennen, ganz besonders groß.
Meine Partei hat damals — ich muß das hier wieder erwähnen — auf die verhängnisvollen Folgen der Verzögerung im Jahre 1952 hingewiesen, daß versäumt worden ist, den „vorüberrauschenden Mantel der Geschichte", wie Bismarck es ausdrückte, zu ergreifen, die EVG zu ratifizieren und auf juristische Schwierigkeiten, die beim Bundesverfassungsgericht gemacht wurden, keine Rücksicht zu nehmen. Ich glaube, es liegt hier — und das ist ein Irrtum und eine Schuld, die wir eingestehen sollten, von der wir uns aber in Zukunft lösen sollten, damit solche Verzögerungspolitik nicht wieder betrieben wird — ein gewisses Versagen vor, eine innere Unsicherheit gegenüber dem, was notwendig war. Denn wenn etwas politisch gestaltend richtig ist, dann — das sage ich als Jurist — finden sich auch die juristische Form und der entsprechende Urteilsspruch, der Bestand hat. Ich hätte es riskiert, daß das Bundesverfassungsgericht meinetwegen nein gesagt hätte. Wir haben damals eine Verzögerungspolitik betrieben, die ich heute noch, nachträglich, nach zwei fahren, als verhängnisvoll bezeichnen muß.
Die westeuropäische und atlantische Solidarität ist ein Prinzip, das zu einem dauernden Grundsatz jeder Politik gestaltet werden muß. Ich schicke das voraus, damit keinerlei Mißverständnisse hinsichtlich meiner weiteren Ausführungen entstehen. Die westeuropäische Zusammenarbeit, die wir jetzt gestalten können, ist gewiß nicht die letzte Lösung. Sie gewährt Freiheit und Sicherheit in Westeuropa und in Westdeutschland; aber sie gewährt noch nicht Freiheit und Sicherheit in ganz Europa und in ganz Deutschland. Sie ist — und darüber hat unsere Regierung, haben auch wir nie einen Moment einen Zweifel gelassen — immer nur eine Vorstufe, um den wirklichen deutschen, den wirklichen europäischen und damit den Frieden der Welt neu zu gestalten.
Das Militärische — ich gebe das der Opposition zu — hat allzu stark im Vordergrund gestanden. Aber bitte: war es denn unsere Absicht, das Militärische an diesen Platz zu rücken? War es denn überhaupt die Absicht von uns, an Stelle allgemeiner europäischer Politik so stark und so viel Militärpolitik betreiben zu müssen? Ich finde, die Opposition und die Darstellung von Herrn Ollenhauer haben die Dinge auf den Kopf gestellt. Die Spaltungspolitik ging nicht von Westdeutschland oder von Westeuropa oder überhaupt von der freien Welt aus; die Spaltungspolitik ging klar und eindeutig vom Osten aus.
Wenn wir dies auf Deutschland projizieren: was ist denn drüben geschehen? Wir haben nicht nur ein SED-Regime, wir haben ein Volkspolizeiregime, und das ist doch die eigentliche Ursache der Spaltung. Drüben hat man integriert, nicht nur wirtschaftlich, nicht nur militärisch, nicht nur politisch, sondern der Integrationsprozeß soll im Wege der Bolschewisierung noch um ein Erhebliches weitergetrieben werden, vertieft werden. Gesellschaftlich soll durch die zwangsweise, terroristische Herstellung der bolschewistischen Gesellschaftsordnung eine Integration stattfinden, ein Prozeß von solcher
Intensität, von der Westeuropa hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Zustände, seiner wirtschaftlichen, politischen, militärischen Zustände noch nicht einmal träumt. Drüben handelt es sich um eine Einheitsverschmelzung, und wenn daher die Opposition sagt: „Ihr dürft keinen Schritt tun, in dem ihr zum Bunde mit dem Westen kommt; ihr erschwert damit die Wiederherstellung der Einheit", so muß ich klar und deutlich feststellen: durch diese gesellschaftliche und wirtschaftliche Desintegration Deutschlands, nämlich durch die Eingliederung der sogenannten DDR in den Ostblock ist ja jene Spaltung zustande gekommen, um deren Aufhebung wir uns zu bemühen haben.
Darüber hinaus ist es ja nicht nur die sowjetisch besetzte Zone, die sogenannte DDR, die integriert ist. Noch weiter gegangen ist der Integrationsprozeß hinsichtlich der deutschen Gebiete ostwärts der Oder und Neiße, indem man das Gebiet dadurch integriert hat, daß man die Bevölkerung ausgetrieben hat.
Und schließlich die gesamte Errichtung des politischen Systems des Ostblocks mit seinen Satellitenverhältnissen: Es handelt sich hier nicht nur um ein Defensivbündnis unter Führung der Sowjetunion, sondern um eine Allianz, eine Blockbildung, deren aggressiv gegen Westeuropa und Ostasien gerichtete Spitze einfach nicht geleugnet werden kann, weil die Praxis dieser Politik diese Aggressionsabsicht bisher bestätigt hat.
Ich möchte nochmals wiederholen: In Verkennung der Tatsache, daß die Spaltung aus dieser Blockbildung und aus dieser Expansionspolitik hervorgegangen ist, setzt die Opposition die Folgen für die Ursache. Ich glaube, sowenig wir es dulden können, daß die sowjetisch besetzte Zone gewissermaßen zur Speerspitze dieses aggressiven Ostblocks gemacht wird, so wenig dürfen wir es dulden — und darauf ist die westliche Politik auch nicht gerichtet —, daß die Bundesrepublik gewissermaßen zu einer Speerspitze nach der andern Seite hin mißbraucht wird. Ich habe dieses etwas übertriebene Bild gewählt, um den Kontrast deutlich zu machen und weil wir von dieser Vorstellung gegeneinander gerichteter Blöcke zu einer konstruktiven Lösung kommen müssen und kommen können, und zwar durch Überwindung des Gegensatzes dieser Systeme. Wie gesagt, wir haben konstruktiv politisch zu denken, und die Voraussetzung jeder konstruktiven Politik. ist, daß nicht Systeme aufgebaut werden, die in einen Gegensatz zueinander gebracht werden oder die im Innern auf ein Mißtrauen, z. B. das Mißtrauen gegen Deutschland, begründet werden.
Es wurde von Anzeichen der Entspannung gesprochen. Mag sein. Ich sehe keine Entspannungspolitik des Kremls. Aber ich wäre natürlich glücklich, wenn die Opposition in diesem Punkte recht hätte. Ich habe vielmehr das Gefühl, daß die sogenannte Entspannungspolitik, die seit der Erklärung Malenkows vor dem Obersten Sowjet im März 1953 angeblich getrieben wird, vor allem auf dem Eindruck des ungewöhnlichen Prestigegewinns des Ostblocks beruht. Das hat Früchte gebracht — halb Indochina ist praktisch erobert worden —, und schließlich hat dieser Prestigegewinn auch zu einer starken Erschütterung des westlichen Allianz-systems geführt; das wollen wir uns ganz offen eingestehen. Meine Hoffnung ist die, daß London diesen Zerfallsprozeß beendet hat.
Nun lautet die Hauptthese der Opposition — und das ist der eigentliche Gegensatz zwischen der Opposition und uns —, man solle, ehe man militärpolitisch etwas forme, in Verhandlungen mit dem Ostblock eintreten. Ich warne vor diesem Mythos der Verhandlungen, der dem Osten bisher so hohe Prestigegewinne gebracht hat, wie die Praxis beweist!
Vielleicht liegt es an meiner etwas pessimistischen Grundauffassung von der Geschichte und den Grundlagen der Politik; jedenfalls habe ich sehr den Eindruck: indem man mit den Russen causiert, indem man bei einem Machthaber gewissermaßen den Bart des Propheten streichelt,
vermag man nicht die echten Gegensätze, die nüchternen Tatsachen von Gewaltverhältnissen zu ändern.
Es ist vielleicht ein uralter — Herr Kollege Dehler mag es mir nicht übelnehmen, wenn ich jetzt gegen den Politiker Dehler etwas polemisieren muß — liberaler Irrtum, daß man sich gegenüber den Härten der Daseinsbedingungen dieser Welt gewissermaßen in einen humanitären, gewaltlosen Raum flüchten könne und daß sich dort in der Auseinandersetzung des klaren, lauteren und gehobenen Geistes, dem dann so ein bißchen auch die moralischen Engelsflügelchen wachsen, daß es sich dort irgendwie causierend freundlich am Kamin der Geschichte diskutieren ließe.
Alles wohlverdient, diese Grundlinie des Liberalen. Wir wollen das nicht schmälern. Aber die Auseinandersetzungen der Welt werden in ihrer letzten Formung gewiß zwar von klarer Intelligenz getragen; doch die gestaltenden Kräfte liegen tiefer, als daß sie der intellektuelle Verstand causierend beeinflussen könnte.
— Ja, das Diabolische! Gut, dieses Stichwort, Herr Dehler, gefällt mir. Zur Überwindung des Diabolischen in dieser Welt gibt es, glaube ich, nur eine Möglichkeit: Standhaftigkeit des -Charakters!
Wirklicher Geist baut sich auf der Standhaftigkeit des Charakters auf, auf jenen zutiefst im Herzen erlebten moralischen Verpflichtungen. Dann ergibt sich auch jene Möglichkeit des Agreements, des Ausgleichs. Aber dies ist meiner Ansicht nach nicht, wie so viele Liberale meinen — ich nenne es den liberalen Irrtum in der Geschichte —, das Produkt glücklicher Einfälle und glücklicher Kontakte sanfter Stunden des Geistes, sondern es ist die Frucht harter Bemühung, des Aufsichnehmens von Gefahren, des Risikos und letzthin des persönlichen Opfers.
Es wurde gesagt, diese Verhandlungen sollten uns einem kollektiven Sicherheitssystem, einem europäischen Sicherheitssystem näherbringen. Das ist die Grundthese der Opposition. Ich glaube, in der gegenwärtigen Situation, wo eine Sicherheit in Europa noch nicht oder nur schwach ausgebildet vorhanden ist, in der gegenwärtigen Situation des
Übergewichts der Sowjetunion und des Ostblocks könnten solche Verhandlungen nur zu dem Ergebnis der Neutralisierung führen. Ehe wir von einem kollektiven Sicherheitssystem sprechen, müssen wir nach der Sicherheit im gegebenen Zustand fragen. Denn erst wenn Sicherheit vorhanden ist, kann man diesen Zustand der Sicherheit gewissermaßen allgemein, kollektiv machen.
Was ist denn überhaupt der Inhalt dieses so oft mißbrauchten Begriffs „kollektive Sicherheit"?
Wir müssen unterscheiden zwischen aggressiven Militärallianzen — ich möchte sagen: der Ostblock ist ein klassisches Beispiel nicht nur einer aggressiven Militärallianz, sondern eines Militärblocks — und Verteidigungsbündnissen. Natürlich ist ein Verteidigungsbündnis gegen eine bestimmte Bedrohung, also gegen einen bestimmten potentiellen Gegner gerichtet. Schließlich gibt es noch kollektive Sicherheitssysteme. Das sind Systeme, in denen ein Gegensatz dadurch zum Ausgleich gebracht wird, daß man ein drittes gleichwertiges Element schafft, so daß gewissermaßen jeder Angreifer mit Sicherheit auf eine unüberwindliche Übermacht stößt, also dadurch, daß man in ein solches System den potentiellen Gegner mit hineinnimmt.
Nun muß ich fragen: Wenn in Europa, in der freien Welt kein System der Sicherheit gegeben ist, wenn augenblicklich die Sowjetunion die volle Hegemonie ausübt und in der Lage bleibt, diese Hegemonie über den Kontinent auszuüben, ist dann die Möglichkeit der Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems gegeben? Ich sage nein. Die Hereinnahme eines übermächtigen Gegners in ein solches System bedeutet dann nicht die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems, sondern die vertragsmäßige Anerkennung der Hegemonie der Sowjetunion über Europa, d. h. die Unterwerfung.
— Gewiß, lieber Kollege Kiesinger, mehr als die Hegemonie! Ich bewegte mich auf einer völkerrechtlichen Begriffsebene, und da sind die Ausdrücke etwas neutraler; wir haben die Wirklichkeit dieser Dinge ja am eigenen Leibe erspürt und erlebt. — Ohne den vorherigen Aufbau eines europäischen Sicherheitssystems ist an ein kollektives Sicherheitssystem unter Hereinnahme des potentiellen Gegners, in diesem Falle nämlich der Sowjetunion, nicht zu denken. Es bedeutete die Unterwerfung.
Dieses System läßt sich dann auch nicht über die UNO schaffen. Wie sollte, abgesehen von den verfassungsmäßigen Grundlagen der Vereinten Nationen mit dem Sicherheitsrat, mit dem Vetorecht, wie sollte in einem solchen System, das bisher auch nicht den Konflikt in Korea und andere Zusammenstöße in der Welt verhindern konnte, ein so schwieriger Spannungszustand ohne die Schaffung eines regionalen, also europäischen Sicherheitssystems, also ohne die Schaffung einer dritten Kraft, behoben werden? Ich sehe darin keine Möglichkeit. Von diesem Sicherheitssystem — nennen wir es ruhig ein kollektives — hängt letzthin die Zustimmung der Sowjetunion zur friedlichen Wiederherstellung der Einheit unseres Landes ab. Es muß also eine Politik getrieben werden — und das nenne ich die aktive Politik zur
Wiederherstellung der Einheit unseres Landes —, die die realen Grundlagen der Freiheit und der Sicherheit schafft, damit dann auf diesen realen Grundlagen echte und erfolgreiche Verhandlungen über ein kollektives Sicherheitssystem geführt werden können. Deshalb ist tatsächlich der Aufbau zunächst dieses Systems, das sich, wie wir zu Gott hoffen, aus der Londoner Anfangsakte entwickeln möge, die Voraussetzung für die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems. Der dritte Faktor, der Faktor des Ausgleichs, der hier notwendig ist und der dann, wenn er zustande kommt und die Verhandlungen erfolgreich laufen, auch eine Zustimmung des Ostblocks zuläßt, vorausgesetzt, daß er Frieden schließen will, diese dritte Kraft heißt Europa. Sie ist eine Kraft, die nicht nur auf Europa beschränkt bleiben darf. Sie vermag, über die europäische Gemeinschaft hinausgreifend, als dritter Faktor zwischen den Spannungspolen von Ost und West ein Feld des Ausgleichs zustande zu bringen. Nicht mehr Deutschland hat jene Brückenfunktion des 19. Jahrhunderts, sondern diese Brückenfunktion zwischen den Weltmächten von Ost und West ist auf ganz Europa übergegangen. Ich glaube, die Schaffung dieses Entspannungsblocks — ich gebrauche ausdrücklich nicht das Wort „Neutralitätspolitik", weil es die nicht mehr gibt; es gibt nur noch Entspannungspolitik —, diese Entspannungspolitik als dritte Kraft in einem weltumspannenden System kollektiver Sicherheit scheint mir die einzige wirklich reale Aussicht zu sein, zu einer Befriedung der Welt, zum Frieden Europas, damit zum deutschen Frieden und damit zur Wiederherstellung der Einheit unseres Landes zu kommen.
Ein fernes Ziel! Sie werden sagen: nicht real. Wir stehen hier nicht als Diplomaten, wir stehen hier nicht als Exekutivbeamte, wir stehen hier als Vertreter von Parteien, die ein Bild, eine Möglichkeit, ein Ziel aufzeigen. Und dieses Bild, die Möglichkeit und das Ziel — es mag so fern sein, wie es wolle, ich hoffe, es ist gar nicht so fern —, dieses reale Bild, durch eine dritte Kraft hier eine echte Entspannungspolitik, ein echtes kollektives Sicherheitssystem also dann auch zugunsten des potentiellen Gegners, der Sowjetunion, einzuleiten, — wenn wir hier nicht die Grundlagen dieser europäischen Einheit schaffen, dann gibt es keine Aussicht, diese dritte Kraft des Ausgleichs, des Gleichgewichts zu schaffen, und dann ist es aussichtslos, von einer Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit und Sicherheit und damit in echtem Frieden zu reden.
Gewiß, die Einheit als Satellitenstaat des Ostens und damit den dritten Weltkrieg können wir jeden Tag haben. Damit in der Konsequenz den dritten Weltkrieg! Ich bitte, das auch zu bedenken. Ich sprach davon, daß nicht nur die dritte Kraft Europa, die sich einmal finden muß, das Entscheidende ist, um jene große, den Frieden bringende Konzeption zu ermöglichen. Denken wir daran, daß nicht nur die Erscheinung des Bolschewismus unsere Welt heute so tief umgestaltet hat. Es ist auch das Ende des Zeitalters des Kolonialismus. Die ehemaligen Kolonialvölker sind aufgestanden und kommen zu ihrer Einheit, zu ihrem Nationalbewußtsein, zum Selbstbewußtsein ihrer Existenz. Wenn Europa die Idee der Freiheit dadurch verwirklicht hat, daß es mit dem Besiegten nicht im Sinne der Unterdrückung Frieden schließt, sondern daß es mit dem Besiegten und aus dem Tatbestand dieses zweiten Weltkrieges jenes große neue
Staatensystem auf den Grundbegriffen der Freiheit aufzubauen vermag, dann, sage ich, bietet Europa aber auch diesen Kolonialvölkern das an, was echte Freiheit ist und damit die Grundlage echter Freundschaft und Zusammenarbeit. Es muß ein Ende haben mit jenem Denken in Hegemonien und Imperialismen. Ich glaube, daß die Ausdehnung dieses Systems der europäischen Einheit zur Herstellung eines echten Freundschaftsverhältnisses mit jenen Völkern, die neu auf dem Plan der Geschichte erscheinen, daß diese Ausdehnung wahrhaft zu jener Entspannungspolitik in der Welt beiträgt und daß diese Völker dann nicht eine Beute des Kremls werden.
Der Anschluß dieser Völker an Europa, das dann auch in sich selbst den Geist von Siegern und Besiegten verloren hat, den Geist des Imperialismus und den Geist der Ausbeutung überwunden hat und mit dem Geist der Hegemonie Schluß gemacht hat, wäre tatsächlich eine geistige und reale und gestaltende politische Grundlage für eine künftige Welt des Friedens. Das würde Anziehungskraft ausüben. An diesem Tatbestand könnte auch der Ostblock auf die Dauer und in den Zeiträumen der Geschichte nicht vorbeigehen. Deshalb glaube ich, daß es unbedingt notwendig sein wird, die Londoner Anfangsakte vor allen Dingen im Hinblick auf das Politische und auf die wirtschaftliche Integration zu erweitern. Mit der wirtschaftlichen Integration können wir am leichtesten beginnen, weil sie auch in den herkömmlichen internationalen Formen, von denen sich die Mächte in Europa schwer trennen können, noch am leichtesten zustande kommt.
Ich möchte hier jede Festlegung hinsichtlich der Abmachungsergebnisse der Londoner Anfangsakte vermeiden. Wir werden das prüfen, wenn die Texte ausgearbeitet sind.
Es handelt sich bei dieser Londoner Anfangsakte einmal um schon jetzt, und zwar im Prinzipiellen, getroffene Abmachungen und zweitens darum, weitere Abmachungen zu treffen. Ich sprach davon, daß die Regierung einen Anspruch auf Billigung hat, wenn wir auch noch nicht zu dem einzelnen Stellung nehmen können. Den Anspruch auf Billigung aber möchte ich unterstreichen.
Ich bin der Auffassung, daß in der Londoner Schlußakte zwei ganz wichtige Punkte noch klargestellt werden müssen. Es handelt sich einmal um die Frage: Sind die Elemente, die eine Integration, d. h. eine enge und dauerhafte Zusammenarbeit möglich machen, stark genug ausgebaut, oder sind sie noch zu schwach? Ich möchte mich namens meiner Freunde — das entspricht der Konsequenz unserer politischen Haltung — nun nicht von den Grundlagen und den Erkenntnissen, die bei den Verhandlungen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft gewonnen worden sind, trennen. Ich weiß, daß viele unserer Freunde, ehrliche Europäer, auch im Ausland, an diesen Grundbegriffen und Grunderkenntnissen festhalten. Ich sehe keinen Anlaß, das, was ich gestern stark befürwortet habe, heute aus Opportunismus ins Feuer zu werfen.
Denn an die Fragen der Gleichberechtigung, der
Nichtdiskriminierung, der Rüstungskontrolle und
aller jener Garantien für das Zusammenhalten ist
in einem sogenannten integrierten, sogenannten supranationalen Konzept viel deutlicher der Maßstab der Gerechtigkeit anzulegen als in einer Konstruktion auf der Grundlage vereinzelter, nebeneinander kooperierender nationaler Einheiten. Aber darüber werden wir später, wenn wir die einzelnen Fragen prüfen, noch zu sprechen haben.
Der zweite Punkt betrifft die Umgestaltung des Ministerrates, der im Brüsseler Pakt nur ein Konsultativrat ist, zu einem mit Entscheidungsbefugnissen ausgestatteten Rat, also vergleichsweise zu einem Bundesrat. Es ist zu fragen, ob das genügt und was daraus entwickelt werden kann. Warten wir ab, was die Experten uns vorzulegen haben! Ich möchte hier nicht voreilig etwas zerreden.
Sehr schwierig wird auch die Frage der parlamentarischen Kontrolle des Ganzen sein. Auf diese parlamentarische Kontrolle, die die wahre Integration politischer Willen darstellt, kommt es an.
Hinsichtlich der Produktionsbeschränkungen und Rüstungskontrollen habe ich für meine politischen Freunde folgendes zu sagen. Wir legen keinen Wert auf ausgesprochene Angriffswaffen; damit meine ich die überschweren Waffen, die ABC-Waffen und die in den Zusatzprotokollen beschriebenen Waffen, wenn wir auch wissen, was es bedeutet, daß eine Nationalarmee geschaffen wird, die unter Umständen ihrer notwendigen Ausrüstung und ihres Nachschubs plötzlich beraubt sein kann. Ich möchte die Gefährdung, die darin liegt, nicht verkleinern und sage es hier ganz deutlich. Aber wir sind einverstanden, daß man gewisse grundlegende Verzichte ausgesprochen hat. Wir sind damit einverstanden, wenn die Kontrolle dieser Beschränkungen in einer möglichst supranationalen Praxis und damit mit der Möglichkeit und dem Maßstab der Gerechtigkeit gestaltet wird. Wir würden aber nicht einverstanden sein und müssen uns auf Grund unserer Verantwortung alles vorbehalten, wenn diese Verzichte diskriminierend ausgenutzt werden sollten. Dann kann das Vertragswerk nicht funktionieren; dann ist überhaupt dieser ganze Weg ein hoffnungsloser gewesen. Aber es gehört zu den politischen Pflichten, optimistisch zu sein, Willen und Aktivität zu haben, das Selbstbewußtsein zu haben, etwas Gutes zu gestalten.
Nun kann ich nicht — und damit komme ich zum Schluß - einer Frage ausweichen, die oft in diesem Hause berührt worden ist bei Opposition und Regierungskoalition. Ich meine das künftige Schicksal von Volk und Gebiet an der Saar. Dazu möchte ich bei aller Zurückhaltung doch mit der notwendigen Deutlichkeit namens meiner politischen Freunde sagen: Eine Junktimspolitik ist Erpressungspolitik. Wir können das nicht annehmen. Wir begrüßen es deshalb, daß die Londoner Akte nichts über dise Frage enthält. Deswegen, weil die Londoner Akte keinerlei Junktim enthält, halten wir es auch für richtig, daß die Regierung auf dieses Problem nicht eingegangen ist. Sie hatte keinen Anlaß, in ihrer Berichterstattung über die Londoner Akte auf diese Frage einzugehen. Ein Junktim ist also nicht in der Welt. In der Welt ist aber ein politischer Zusammenhang. Den erkennen auch wir an. Aber wir müssen eine Politik des Junktims im Sinne der Erpressung ablehnen, weil damit eine der wichtigsten Grundlagen des europäischen Systems der engen und vertrauensvollen europäischen Zusammenarbeit überhaupt gefährdet wäre.
Mit der gleichen Deutlichkeit wie die Opposition — eigentlich sollten solche Bekenntnisse gar nicht mehr abgegeben werden, weil sie selbstverständlich sind —, also, ich glaube, für alle, möchte ich sagen: Es kann doch gar kein Zweifel daran bestehen, daß Volk und Gebiet an der Saar deutsches Volk und deutsches Gebiet sind. Es kann doch gar kein Zweifel sein, daß man hier keine politischen Verzichte aussprechen kann und aussprechen wird. Das ist doch auch gar nicht das Problem! Es geht doch nicht darum, Fragen der Abtretung, der Annexion zu billigen. Ich glaube, das ist für einen künftigen Friedensvertrag völlig undiskutabel. Es geht um etwas anderes, nämlich darum — und da möchte ich ein Wort von Kollegen Mommer aufgreifen —, einen Modus vivendi zu finden für die Behandlung der schwerwiegenden Fragen, wie sie eine Treuhandschaft aufwirft unter Berücksichtigung der Grenzen, die jede Treuhandschaft auferlegt, bis ein Friedensvertrag kommt. Es gilt also einen Modus vivendi zu finden, der nicht die grundsätzliche Frage präjudiziert, sondern so konstruktiv ist, daß die Anerkennung der Tatsache, daß es sich hier um deutsches Volk und deutsches Gebiet handelt, öffentliche Meinung wird. Verzichte auf selbstverständliche politische Ansprüche des deutschen Staates können also gar nicht ausgesprochen werden. Auch unser französischer Nachbar muß einsehen, daß fremde Oberhoheit über die Saar, französische Oberhoheit, keine Grundlage des Vertrauens ist, der Aussöhnung und der konstruktiven Zusammenarbeit für die Zukunft.
1951 gelang es der Bundesregierung — und das war ein sehr entscheidender Schritt —, in jenem Briefwechsel mit Herrn Robert Schuman, dem damaligen französischen Außenminister, als Modus vivendi wenigstens den Status quo bzw. die Nichtveränderung des Status quo sich bestätigen zu lassen. Das war damals — so habe ich es empfunden — ein entscheidender Fortschritt in einer fast hoffnungslosen Lage einem Gebiet gegenüber, über das uns die Oberhoheit tatsächlich weggenommen war. Ich glaube aber, daß der hier geschaffene Modus vivendi von folgenden Grundlagen ausgehen muß: keine politischen Konzessionen, keine Annexionsvorstellungen und auch keine einen Annexions- und Abtrennungstatbestand verschleiernde sogenannte europäische Vorregelung.
Aber im Wirtschaftlichen dürfte sich ein Boden der Verständigung finden lassen. Wir sind die Sachwalter des deutschen Volkes an der Saar, und ein Sachwalter hat in erster Linie die Interessen der Saarbevölkerung wahrzunehmen. Wirtschaftlich, glaube ich, kann man zu einem konstruktiven Ausgleich kommen.
Und noch ein zweiter Punkt ist für einen Modus vivendi klarzustellen: Die deutsche Bevölkerung an der Saar muß hinsichtlich der Ausübung ihrer demokratischen Rechte alle die Rechte zuerkannt bekommen, wie sie die Grundlagen des Statuts des Europarats und die Grundlagen der Menschenrechtskonvention beinhalten, d. h. alle staatsbürgerlichen Freiheiten, die einem modernen europäischen zivilisierten Kulturvolk zukommen. Diese beiden Grundlagen, für einen Modus vivendi wirtschaftlich konstruktive Lösungen zu suchen und politisch unserer Bevölkerung drüben alles das an Rechten, was einem modernen Zustand entspricht, zuzuerkennen, dürften Grundlagen sein, um später einmal, wenn es zum Friedensschluß und zum Friedensvertrag kommt, eine Regelung zu finden, die dann auf einen Tatbestand der Verständigung aufgebaut ist. Die Pläne des Kollegen van der Goes van Naters aus dem Europarat haben ja ihre Grundlagen nun verloren, nachdem man so sich von den supranationalen Konstruktionsprinzipien trennen wollte. Natürlich muß auch ein Modus vivendi irgendwie durch eine Autorität gewährleistet sein. Aber die Autorität, die man da in supranationalen Behörden suchte, hat man vorerst selber zerschlagen. Man muß sich also bei dieser Frage durchaus im Sinne der Verständigung, aber niemals im Geiste des Verzichts auf Unverzichtbares, sondern in einem Geiste, konstruktive Lösungen für eine gute Zukunft zu suchen, auseinandersetzen. Ich bin nicht der Auffassung, daß man durch dauerndes Ausklammern dieses Problems die Dinge bessert, obwohl man sagen muß: Zeit ist notwendig. Vor allen Dingen: was auch geschieht, es muß den Interessen unserer deutschen Menschen an der Saar dienen. Das ist der Maßstab, das ist die Verantwortung, nach denen wir zu handeln haben.
Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen. Die Aussöhnung mit Frankreich, die wirkliche Aktivierung auch der britischen Verantwortung in Europa, der Schutz, den uns die Vereinigten Staaten gewähren, und dann stehe ich nicht an zu sagen: auch das Ziel einer vernünftigen Politik mit der Sowjetunion, durchaus einen Zustand friedlicher Verständigung zu finden und nicht den Haß wachsen zu lassen, sondern die Vernunft, eine Politik gegründet auf diese Prinzipien sind notwendig. Nun wohl, Koexistenz — ein mißbrauchter Begriff! Solange man um sich eine chinesische Mauer zieht, schließt man sich aus der Gemeinschaft der Völker aus, und dann gibt es eben keine Koexistenz, dann gibt es eben nur jene verderbliche gefährliche Isolierung. Ich als Ostdeutscher vertrete durchaus den Standpunkt: wir haben uns zu verständigen, aber auf realen Grundlagen, die wir mit unserer Ehre und mit unserer Verantwortung vor der Zukunft wirklich verantworten können: Freiheit und Sicherheit nicht nur für Deutschland, nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt als Grundlage des Friedens. Ich kann nach dem Osten — und auf den kommt es jetzt an, etwas zu sagen — nur hinüberrufen: Schließt ihr Frieden, wir sind zum Frieden mehr als bereit.