Herr Präsident! Meine 1 Damen und Herren! Die Ausführungen, die Herr Kollege von Merk a t z gemacht hat, veranlassen mich eigentlich, all das nicht zu sagen, was ich von Hause aus sagen wollte, und veranlassen mich, einiges zu fragen, was ich ursprünglich gar nicht fragen wollte. Diese Fragen richten sich an die Bundesregierung, die, wie ich sehe, gerade beim Mittagessen ist. Meine Bitte geht deshalb an den Herrn Staatssekretär des Auswärtigen, meine Fragen der Bundesregierung zu übermitteln.
Herr Dr. von Merkatz — ich sehe, auch er ist zum Mittagessen; ich darf also allgemein sagen:
Glaubt denn Herr Dr. von Merkatz, daß Definitionen und aphoristische Ausführungen, die hier in diesem Hause ad usum Delphini formuliert werden oder, wenn sie schon einmal in früheren Zeiten formuliert waren, hier noch einmal postuliert werden, den Gang des Völkerrechts oder der Außenpolitik auch nur in irgendeiner Weise beeinflussen können? Ich glaube das nicht. Ich greife ein einziges Beispiel aus seinen Ausführungen heraus. Er hat den Begriff der Wiedervereinigung definiert. Diese Definition des Herrn Kollegen von Merkatz steht in keiner Weise in Übereinstimmung mit der Formulierung des Begriffs, wie er in der Erklärung der Drei Mächte, der USA, Frankreichs und Großbritanniens, in der Londoner Schlußakte festgelegt ist. Dort spricht man in keiner Weise von dem Fortbestand des deutschen Staates, sondern der Punkt 4 der Erklärung formuliert eindeutig:
Die Schaffung eines völlig freien und vereinig-
ten Deutschlands durch friedliche Mittel bleibt
ein grundsätzliches Ziel ihrer Politik. Also: Herr Dr. von Merkatz — wenn Sie hier wären! —: „Die Schaffung eines geeinten Deutschlands", das ist die Formulierung, die darinsteht, und diese Formulierung ist allein zukunftsträchtig.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich, wie gesagt, aus der Debatte heraushalten, möchte aber nun einige Fragen stellen, die mir sowohl in der Regierungserklärung wie auch in dem überreichten Material bisher noch nicht klargeworden sind.
Für mich steht im Angelpunkt der Londoner Akte die Erklärung der Drei Mächte, die ich schon angezogen habe. Denn es ist in der Außenpolitik aller Völker, glaube ich, etwas Einmaliges, daß drei Nationen, die Weltbedeutung haben, ihre zukünftige Außenpolitik so langfristig festlegen, wie es in dieser Erklärung geschieht. Das ist eine Erklärung, die sich nicht nur mit Deutschland befaßt. Immerhin endet diese Erklärung mit der Feststellung, daß nunmehr ein Westeuropa im Entstehen ist, das auf der Grundlage der sich vertiefenden Freundschaft zwischen den Teilnehmerstaaten die Atlantische Gemeinschaft festigen wird. Meine Damen und Herren Kollegen dieses Hohen Hauses, es ist nun merkwürdig, daß zwar Deutschland als gleichberechtigter Teilnehmerstaat hier angesprochen wird, daß aber trotzdem die Drei Mächte den Abschluß eines Friedensvertrages mit einer gesamtdeutschen Regierung für eine absolute Voraussetzung halten. Denn die Erklärung sagt ja:
Eine zwischen Deutschland und seinen früheren Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für Gesamtdeutschland . . .
ein wesentliches Ziel ihrer Politik . . .
Das bedeutet doch: ein Friedensvertrag mit allen Gegnern, also auch mit der Sowjetunion; das bedeutet doch nach den Erfahrungen, die wir ja nun seit acht oder neun Jahren machen, daß ein solcher Friedensvertrag noch sehr lange auf sich warten lassen kann.
Nun, meine Damen und Herren, wir brauchen die Dinge an sich nicht so tragisch zu nehmen. Aber es steht in der gleichen Schlußakte:
Die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands muß bis zum Abschluß einer solchen Regelung zurückgestellt werden.
Das heißt doch: ein Friedensvertrag kann erst geschlossen werden, wenn sich die vier HauptGegnerstaaten, also auch die Sowjetunion, über den Status eines kommenden Gesamtdeutschland klar und einig sind. Eher kann also gar kein Friedensvertrag geschlossen werden. Nun, dauert das sehr lange, wird die Frage der Grenzen für uns natürlich nicht unwichtig. Ich erwähne diese Frage deswegen, weil die Grenzfrage im Hinblick auf einen Beitritt zur NATO schon einmal eine interessante Präzedenzrolle gespielt hat. Sie wissen, daß sich seinerzeit der irische Freistaat geweigert hat, der NATO beizutreten, weil man im irischen Freistaat die Meinung vertrat, daß ein Beitritt zur NATO den staatlichen Bestand in den Grenzen während der Zeit der Unterschrift stabilisiert. Wenn nun die Bundesrepublik der NATO beitritt, wie verhält es sich — und das ist meine erste Frage an die Bundesregierung — hier mit der Stabilisierung der deutschen Grenzen? Zwar ist die Wiedervereinigung als die Politik des Brüsseler Paktes und der NATO in London postuliert; aber wer garantiert uns denn, wann diese Wiedervereinigung kommt, und was geschieht bis dahin? Ich stelle diese Frage im Hinblick auf den irischen Präzedenzfall. Dieser
bezieht sich bekanntlich auf Nordirland, das heute noch zur englischen Krone gehört, ein Zustand, der vom irischen Freistaat nicht anerkannt wird oder moniert wird.
Wie liegen denn die Dinge in Deutschland hinsichtlich der Wiedervereinigung und des Saarproblems unter Berücksichtigung dieses Abs. 1 in der Drei-Mächte-Erklärung, insbesondere mit Rücksicht darauf, daß eine friedensvertragliche Regelung nach der Wiedervereinigung noch sehr lange auf sich warten lassen kann? Das ist ja immerhin eine Frage, die für die Behandlung des Saarproblems und für das gesamte deutsche Volk von ausschlaggebender Bedeutung ist. Dies ist die erste Frage, die ich zu stellen habe.
Die zweite Frage basiert auf Punkt 1 dieser Erklärung. Dieser Punkt 1 sagt:
Die Regierung der Bundesrepublik wird als einzige deutsche Regierung betrachtet, die berechtigt ist, für Deutschland als Vertreter des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen.
Dieses Problem ist hier schon in der Diskussion angeschnitten worden. Ich darf mir trotzdem die ganz konkrete Frage erlauben: Bestehen irgendwelche Sicherungen oder ist geplant, irgendwelche Sicherungen einzubauen, daß eine gesamtdeutsche Regierung, die also z. B. den Friedensvertrag schließen muß, das Recht hat, die Bindung an Verträge, die die Bundesrepublik als Provisorium geschlossen hat, zu erweitern oder aber abzulehnen? Das kann sich ja z. B. aus dem Friedensvertrag heraus ergeben und braucht gar keine Änderung in Richtung Ost oder West zu sein. Aber es ist doch eine grundsätzliche Frage: Kann die Bundesrepublik als Provisorium eine kommende gesamtdeutsche Regierung an Vertragswerke binden bzw. zu deren Ausdehnung oder Verminderung oder Abschaffung verpflichten?
Zu dieser Frage möchte ich konkret erklärt haben,
wie die Stimmung in London darüber gewesen ist.
Ich bin ja immer einer derjenigen gewesen, die in diesem Hause die Wiedervereinigung als einen sehr wesentlichen Faktor nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Politik überhaupt betrachtet haben; denn diese offene Wunde im Herzen Europas ist nicht nur eine Frage Deutschlands. Diese offene Wunde, die geschlossen werden muß, ist vielmehr eine Wunder die den Frieden Europas und der Welt am allerstärksten gefährdet. Infolgedessen freue ich mich, daß man der Beseitigung dieser Frage in der Londoner Akte einen breiten Raum widmet.
Punkt 4 der Drei-Mächte-Erklärung sagt:
Die Schaffung eines völlig freien und vereinigten Deutschlands durch friedliche Mittel ist ein grundsätzliches Ziel ihrer Politik.
Sehr gut! Da aber der Friedensvertrag und alle kommenden Regelungen sehr einschneidend von dieser Politik betroffen werden, einer Politik, für die wir den Westmächten nur danken können, geht meine Frage dahin: Sind in London während der Besprechungen schon irgendwelche Wege aufgezeigt worden, die dieses Ziel ansteuern, das ja eines der wesentlichsten Ziele ist? Aus den Unterlagen geht darüber nichts hervor. Es wäre jedoch interessant, zu wissen, auf welchen Wegen man dieses
Ziel zu erreichen bestrebt ist. So weit meine Fragen zu der Erklärung der Drei Mächte.
Ich komme nun noch zu einem andern Fragenkomplex. Es ist hier in der Diskussion sehr deutlich angeklungen, daß man sich um die deutsche Sicherheit bemüht, und das ist ja zweifellos auch der Sinn der Londoner Verhandlungen gewesen. Nun hat General Gruenther, der Oberkommandierende der NATO, vor kurzer Zeit Äußerungen getan, die immerhin zu Bedenken Anlaß geben. Diese Äußerungen sind in der Basler „NationalZeitung" ausführlich abgedruckt und von der deutschen Presse übernommen worden. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten vier Zeilen aus der „Welt" verlesen, die sich damit befassen; es ist „Die Welt" vom 27. September dieses Jahres. Da heißt es:
Andererseits machte Gruenther klar, daß die Verteidigung Europas nach dem Konzept der NATO nur in beschränktem Rahmen durchzuführen sei, indem so etwas wie ein Schutzschild von Minimalstärke errichtet werden könne, und dazu brauche man die deutschen Kontingente.
Man kann diese Äußerungen Gruenthers nach den verschiedensten Seiten kommentieren. Sie können den Inhalt und den Zweck haben, dem Ostblock zu zeigen, daß das Brüsseler Abkommen und die NATO lediglich defensiven Charakter haben und mit ganz geringen Kräften versuchen, hier ein minimales Schutzbedürfnis zu befriedigen, und das nach Einschluß der deutschen Kräfte. Man kann aber die Erklärung natürlich auch als den Notschrei des Oberkommandierenden betrachten, der die Tatsache des minimalen Schutzbedürfnisses hier in den Vordergrund stellt. Ja, meine Damen und Herren, wenn wir die Verantwortung für die deutsche Beteiligung an einer koalierten größeren Wehrmacht in Kauf nehmen, dann muß doch auch in etwa die militärische Sicherheit des deutschen Volkes garantiert sein.
Da ich selber die NATO nicht kenne — ich lese auch nur aus der Zeitung von ihr —, möchte ich eine weitere Frage an die Bundesregierung richten. Kürzlich haben im Raume Paderborn NATO-Manöver stattgefunden, die möglicherweise ein Bild von der Schutzbedürftigkeit bzw. von der militärischen Sicherheit geben. Ich möchte deswegen die Bundesregierung fragen, ob ihr die strategischen und militärpolitischen Erkenntnisse, die sich aus den NATO-Manövern im Raum Paderborn ergeben haben, bekannt sind. Im Falle des Bejahens möchte ich die Bundesregierung fragen, ob sie hinsichtlich dieser ihr bekanntgewordenen Erkenntnisse für die Sicherheit des deutschen Volkes befriedigt ist.
Ich habe einen dritten Fragenkomplex, den ich nur kurz anfassen möchte; das ist das Saargebiet. Wir haben alle heute mit Interesse gelesen, daß der französische Ministerpräsident mit dem Herrn Bundeskanzler noch im Laufe dieses Monats zusammentreffen wird, um über die Saarfrage zu sprechen. Ich habe volles Verständnis, wenn von der Bundesregierung bisher noch nicht viel über Möglichkeiten einer Saarregelung gesagt ist; denn kein Mensch dekuvriert gerne, bevor er in Verhandlungen geht, seine Verhandlungsposition. Das würde ich auch nicht tun. Aber in diesem Hause ist die Behandlung des Saarproblems ja nicht gerade neu. Es ist mehrfach Gegenstand der Diskussionen gewesen. Nachdem Herr Kollege von Merkatz van Naters zitiert und auch zugegeben hat, daß die
Möglichkeit einer Europäisierung des Saargebiets nun in weite Ferne gerückt ist, und weil wir wohl alle in diesem Hause der Auffassung des Herrn Bundeskanzlers zuneigen, daß nur ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen den Völkern die europäische Zukunft sicherstellt — der Angelpunkt des europäischen Verhältnisses ist eben das deutschfranzösische Verhältnis, und ein wesentlicher Drehpunkt in diesem Verhältnis ist nun einmal die Saarfrage —, ist es von flagranter Wichtigkeit, einmal zu hören, welche Pläne, die publizierbar sind — etwas anderes möchte ich der Bundesregierung nicht zumuten —, oder welche Konzeption im Grundsatz die Bundesregierung für die kommenden Verhandlungen mit Frankreich hat. Ich möchte also auch hier die Bundesregierung um Auskunft bitten, in welcher Weise die Verhandlungen geführt werden sollen, sofern die Bundesregierung dazu Stellung nehmen will.
Ich wollte nur einmal diese wenigen Fragen ganz konkret stellen, weil ich nicht zuletzt aus den Erfahrungen in diesem Hause — ich meine in erster Linie den 1. Deutschen Bundestag — gelernt habe, daß es gar nicht so sehr darauf ankommt, Proklamationen und große Worte zur außenpolitischen Lage zu machen — diese beeinflussen sie am allerwenigsten —; aber ein genaues Studium der nüchternen Grundlagen ist ein ganz entscheidender Faktor, und ich wollte mit meinen Fragen die Diskussion in diese Richtung lenken: die Aufmerksamkeit auf die konkreten Unterlagen zu richten, die eben das Schicksal der Londoner Abmachungen in der Zukunft beeinflussen werden.
Meine Bitte an den Herrn Bundeskanzler geht — ohne daß ich den Streit des Primats wieder hervorrufen will — dahin, bei den künftigen Verhandlungen der Frage der deutschen Wiedervereinigung — ich behalte trotz der Ausführungen des Kollegen von Merkatz dieses Wort als Terminus technicus bei — die große Beachtung in den Verhandlungen zu schenken und auch den übrigen Nationen gegenüber immer wieder klar zum Ausdruck zu bringen, daß die Frage einer deutschen Wiedervereinigung nicht nur das Schicksal der 18 Millionen Deutschen in der Ostzone sehr stark beeinflußt, sondern daß die Beseitigung der Zerreißung Deutschlands eine der wesentlichen Stützen einer Friedenspolitik in der gesamten Welt werden muß.