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ID0204700600

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    2. Deutscher Bundestag — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Oktober 1954 2235 47. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 7. Oktober 1954. Geschäftliche Mitteilungen . . . . 2235, 2320 A Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung vom 5. Oktober 1954 (Londoner Konferenz) (Anträge Drucksachen 863, 864): 2235 C Ollenhauer (SPD) 2235 A, 2306 C, 2308 B, 2309 A, 2314 B Dr. von Brentano (CDU/CSU): zur Sache .. 2242 B, 2248 B, 2305 A, B zur Geschäftsordnung .. . . . 2286 C Erler (SPD) . . 2248 B, 2287 A, D, 2290 D, 2291 C, 2292 A, B, 2294 A, 2317 D, 2318 C Dr. Dehler (FDP) 2249 D Haasler (GB/BHE) 2249D Dr. von Merkatz (DP): zur Sache 2257 D zur Geschäftsordnung. . . . 2286 A, D Dr. Baron von Manteuffel-Szoege (CDU/CSU) 2264 D Stegner (Fraktionslos 2267 B Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . 2269 B, 2277 D, 2316 C Kiesinger (CDU/CSU) . . . 2274 A, 2290 C, 2291 C, 2293 D Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . 2282 A, 2287 D, 2305 C, 2311 D, 2315 C, 2317D, 2318 C, D Mellies (SPD) (zur Geschäftsordnung) 2286 B Euler (FDP) : zur Geschäftsordnung 2286 C zur Sache . . . . . . . . 2319 C D. Dr. Gerstenmaier (CDU/CSU) . 2292 A, C, 2294 D, 2304 B, 2308 A, 2309 A, C, 2319 B D. Dr. Ehlers (CDU/CSU) . . 2299 C, 2300 C, 2310 B, 2311 B Dr. Arndt (SPD) 2300 C, 2303 A, 2304 C, 2305 B, C Wehner (SPD) 2309 D Heiland (SPD) 2311 A Dr. Becker (Hersfeld) (FDP) . . . 2312 C Dr. Kather (GB/BHE) 2319 A Überweisung des Antrags Drucksache 863 an den Auswärtigen Ausschuß . . . . 2320 C Annahme des Antrags Drucksache 864 2320 C Nächste Sitzung 2320 C Die Sitzung wird um 9 Uhr 5 Minuten durch den Präsidenten D. Dr. Ehlers eröffnet.
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    Rede von Erich Ollenhauer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Stellungnahme zu den Londoner Vereinbarungen und zu der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers vom Dienstag kann sich nicht auf eine kritische Untersuchung des Inhalts der Londoner Vereinbarungen beschränken. Das Scheitern des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft hat eine neue Lage für die Außen- politik der Bundesrepublik geschaffen. Diese Überzeugung hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion veranlaßt, auf eine außenpolitische Debatte im Bundestag vor Beginn der Londoner Konferenz zu drängen. Wir bedauern auch heute noch, daß die Regierung und die Koalitions-Mehrheit diesem Verlangen der Opposition nicht. nachgekommen sind.
    Der Herr Bundeskanzler hat vorgestern in seiner Regierungserklärung die Auffassung vertreten, daß die Londoner Vereinbarungen die folgerichtige Fortsetzung der bisherigen Außenpolitik der Bundesregierung seien und daß der Erfolg der Londoner Konferenz deshalb die Richtigkeit dieser Politik erneut bestätigt habe. Dieser Versuch, das Scheitern der bisherigen Außenpolitik der Regierung zu verschleiern, ist verständlich. Aber im Interesse der historischen Wahrheit muß festgestellt werden, daß die jetzt in London vereinbarte Aufrüstung der Bundesrepublik im Rahmen des Brüsseler Pakts und der Nordatlantik-Organisation etwas völlig anderes ist als die bisher von der Regierung und den Regierungsparteien vertretene Europapolitik.

    (Sehr richtig! Sehr wahr! bei der SPD.)

    Bis zum Scheitern des EVG-Vertrages haben wir hier im Hause und in aller Öffentlichkeit bis zum Überdruß die These vertreten hören, daß es nur einen Weg zur europäischen Einheit gebe, näm-


    (Ollenhauer)

    lich den Weg der sogenannten Integration, wie der EVG-Vertrag ihn vorgesehen hatte. Alle Versuche der Sozialdemokratie, andere und nach unserer Auffassung bessere Wege und Methoden für die europäische Zusammenarbeit zur Diskussion zu stellen, wurden als illusionär und weltfremd abgelehnt.

    (Zuruf von der Mitte: Ihre Vorschläge waren das auch!)

    Alle Zweifel der Sozialdemokratie an der Möglichkeit des Zustandekommens und an der Wirksamkeit der EVG-Lösung wurden als Ausdruck einer uneuropäischen Einstellung und als reine Verneinungspolitik beiseite geschoben.
    Heute stehen wir vor zwei Tatsachen. Erstens: Die sozialdemokratische Beurteilung der Aussichten für die Durchsetzung der Integrationspolitik hat sich als weit realistischer erwiesen als die Vorstellungen der Regierung und der Regierungsparteien.

    (Beifall bei der SPD.)

    Zweitens: Wenn heute der Herr Bundeskanzler die Londoner Vereinbarungen als die logische Fortsetzung seiner Integrationspolitik bezeichnet, so ist demgegenüber festzustellen, daß die Form der Zusammenarbeit, die in London beschlossen wurde, unter völligem Verzicht auf den supranationalen Integrationscharakter der EVG den sozialdemokratischen Vorstellungen näher kommt als der bisherigen Integrationspolitik der Mehrheit in diesem Hause.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Wir würden auf diese Feststellung keinen besonderen Wert legen, wenn die Integrationspolitik der
    EVG bis zum Scheitern des Vertrages nicht als eine
    Art von Weltanschauung hingestellt worden wäre

    (Sehr gut! bei der SPD)

    und wenn der Herr Bundeskanzler nicht am Dienstag den Versuch gemacht hätte, den klaren Bruch in der Konzeption seiner Europapolitik einfach zu leugnen.

    (Erneute Zustimmung bei der SPD.)

    Wesentlicher ist für uns die Feststellung, daß sich durch das Scheitern der EVG auch eine neue Situation für die Außenpolitik der Bundesrepublik ergeben hat. Die Grundfrage ist deshalb, ob die Bundesregierung mit den Beschlüssen auf der Bühler Höhe und mit ihrem Verhalten auf der Londoner Konferenz dieser neuen Situation gerecht geworden ist oder nicht. Wir Sozialdemokraten sehen den entscheidenden Mangel in der neuen Europapolitik der Regierung darin, daß sie nichts anderes darstellt als den Versuch, so schnell als möglich eine Ersatzlösung für die EVG, also für einen militärischen Beitrag der Bundesrepublik zu finden. Wir halten diese Taktik für falsch. Nach unserer Überzeugung gab das Scheitern der EVG-Politik der Bundesrepublik die Chance für einen neuen Start in ihrer Außenpolitik.
    Dieser neue Abschnitt in der Außenpolitik mußte nach unserer Meinung mit der Fragestellung beginnen, ob und wie wir der Lösung der vordringlichsten Aufgabe der deutschen Politik, nämlich der Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit, näherkommen können.

    (Beifall bei der SPD.)

    Außerdem hätte die veränderte Situation eine
    gründliche Überprüfung der internationalen Lage
    unter dem Gesichtspunkt erfordert, ob heute die Voraussetzungen und die Notwendigkeiten, die 1950 die Bundesregierung zu ihrer jetzt gescheiterten Integrationspolitik veranlaßt haben, überhaupt noch bestehen oder in vollem Umfang bestehen. Bevor überhaupt eine Prüfung der Ergebnisse der Londoner Konferenz im einzelnen möglich ist, müssen diese beiden Fragen untersucht werden.
    Was die heutige internationale Lage betrifft, so kann nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, daß sie sich wesentlich von der unterscheidet, die bei Beginn des Korea-Konfliktes bestand. Die Gefahr eines bewaffneten Konfliktes zwischen den beiden Hauptlagern in der Welt ist heute wesentlich geringer. Ich nehme an, daß diese Feststellung von niemandem in diesem Hause ernsthaft bestritten wird. Die bemerkenswerteste Feststellung in dieser Richtung aus der jüngsten Zeit stammt von dem jetzigen belgischen Außenminister Paul Henri Spaak, der in seiner Rede vor der Beratenden Versammlung des Europarates in Straßburg am 18. September erklärte:
    Ich glaube nicht, selbst wenn wir morgen von den Amerikanern verlassen würden, daß die russischen Streitkräfte sich auf Europa stürzen und sich unserer Länder bemächtigen würden.

    (Zurufe von den Regierungsparteien.)

    Diese Auffassung über eine Entspannung der internationalen Lage stützt sich ja tatsächlich auf eine Reihe von Ereignissen. Der Krieg in Korea ist zu Ende. Die Genfer Konferenz hat den Indochina
    Konflikt mit einem Kompromiß beendet. Die Sowjetunion hat nach der Berliner Konferenz ihre Vorschläge -für ein europäisches Sicherheitssystem revidiert, nachdem sie in der Berliner Fassung von vornherein für alle Beteiligten unannehmbar waren. Auch die heutige Fassung löst das Problem sicher nicht; aber die Veränderungen in den Vorschlägen lassen das Interesse der Sowjetunion an den Verhandlungen über ein europäisches Sicherheitssystem deutlich erkennen. In den letzten Tagen hat die Sowjetunion ferner durch ihren Vertreter in den Vereinten Nationen ihre bisherige Haltung gegenüber einer internationalen Rüstungskontrolle so wesentlich revidiert, daß sie nach der Meinung der amerikanischen und britischen Vertreter in den Vereinten Nationen erwägenswert ist.
    In diesem Zusammenhang sind auch die gestrigen Ausführungen des sowjetischen Außenministers Molotow in Karlshorst von Interesse. Kein Zweifel: auch hier ist die Andeutung einer wesentlichen Änderung der Sowjethaltung gegenüber der Haltung der Sowjetdelegation auf der Berliner Konferenz. Ich knüpfe an die Bemerkungen, soweit sie uns bekannt sind, in diesem Augenblick keinen einzigen Kommentar, weil ich glaube, daß eine ernsthafte Diskussion über den für uns so entscheidenden Fragenkomplex erst möglich ist, wenn die angekündigte Note der Sowjetunion an die drei Westmächte überreicht worden ist und wir den Wortlaut der Vorschläge in aller Ruhe und Gründlichkeit diskutieren können. Was ich aber hier feststellen möchte und was sicher von niemandem hier in diesem Hause bestritten werden kann, ist, daß auch diese neue Initiative in der Richtung der Politik der Sowjetunion liegt, den Versuch einer internationalen Entspannung fortzusetzen.
    Es kommt hinzu, daß auf der andern Seite die amerikanische Regierung in der letzten Zeit meh-


    (Ollenhauer)

    rege Schritte planmäßig unternommen hat, um die internationale Entspannung zu fördern und das Nebeneinanderleben der beiden großen Mächtegruppen zu erleichtern. Ich möchte hier nur an die Initiative des Präsidenten Eisenhower zur Schaffung einer internationalen Behörde für Atomenergie erinnern. Und, meine Damen und Herren, selbst bei vorsichtigster Bewertung aller dieser Entwicklungen ist der Schluß unbestreitbar, daß die Tendenzen zur Entspannung heute bei weitem die Gefahren eines gewaltsamen Zusammenstoßes zwischen den beiden großen Mächtegruppen überwiegen.
    Die erste Schlußfolgerung, die das deutsche Volk aus einer solchen Feststellung ziehen sollte, wäre ein eindeutiges, positives Bekenntnis zu dieser Politik der Entspannung.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Erhaltung und die Festigung des Friedens durch eine friedliche Austragung der Gegensätze und durch eine international kontrollierte Abrüstung ist das höchste Ziel, dessen Verwirklichung wir immer von neuem wünschen und anstreben müssen.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    In dieser Lage, meine Damen und Herren, erscheint aber auch die Notwendigkeit eines militärischen Beitrages der Bundesrepublik zur Verteidigung der freien Welt in einem anderen Licht. Wir sind der Meinung, daß die Entscheidung über einen solchen deutschen Verteidigungsbeitrag vor allem unter dem Gesichtspunkt gefällt werden muß, ob er mit einer Politik der Wiedervereinigung Deutschlands vereinbar ist. Hier lag ja einer der wesentlichen Gründe für unsere Ablehnung der EVG. Aber abgesehen von dieser Einschränkung, die sich aus der besonderen Situation der Spaltung Deutschlands ergibt, kann nicht ernsthaft bestritten werden, daß heute ein deutscher Verteidigungsbeitrag nicht mehr von der gleichen Dringlichkeit ist, wie es vielleicht in der Vergangenheit angenommen werden konnte.

    (Beifall bei der SPD. — Unruhe in der Mitte und rechts.)

    Jedenfalls gibt es kein Argument, das die Bundesrepublik veranlassen könnte, eine Chance für Verhandlungen über die Wiedervereinigung zugunsten einer schnellen Aufrüstung der Bundesrepublik auszulassen.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Das militärische Gewicht eines deutschen Verteidigungsbeitrages in dem Ausmaß, in dem er im EVG-Vertrag vorgesehen war und jetzt auch in den Londoner Vereinbarungen in Aussicht genommen worden ist — ich möchte nicht von den Zahlen ausgehen, die mit Augenzwinkern über die wirkliche Stärke einer künftigen deutschen Armee immer wieder verbreitet werden,

    (lebhafter Beifall bei der SPD)

    sondern ich unterstelle, daß hier im Hause niemand ist, der in dieser Beziehung nicht zu absoluter Loyalität gegenüber dem Text der Verträge bereit wäre —,

    (Sehr gut! bei der SPD — Unruhe und Zurufe von der Mitte und rechts)

    dieser Beitrag von 12 Divisionen ist für das Kräfteverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und
    der Sowjetunion, die die beiden entscheidenden
    Mächte in der Welt repräsentieren, von keiner entscheidenden Bedeutung, zumal sie vor Ablauf von drei Jahren überhaupt nicht aktionsfähig sein könnten.

    (Anhaltende Unruhe bei den Regierungsparteien.)

    Die Konsequenzen der Entwicklung in der internationalen Politik gehen aber noch viel weiter. Die Frage der militärischen Kräfteverteilung wird heute bei weitem von der Frage überschattet, ob es möglich ist, in globaler Weise den Kalten Krieg zwischen Ost und West durch umfassende Vereinbarungen zu beenden. Denn eine aussichtsreiche Diskussion über die Aufgabe dieser oder jener Machtposition der einen oder anderen Seite wird sich erst dann positiv führen lassen, wenn es zu einer solchen globalen Verständigung zwischen den Hauptbeteiligten kommt. Die Frage eines deutschen militärischen Beitrages ist deshalb vom Standpunkt der internationalen Politik heute von nachgeordneter Bedeutung, — in größerem Maße als zu früheren Zeiten.
    Die Schlußfolgerung, die sich daraus für die Politik der Bundesrepublik ergibt, ist deshalb die Notwendigkeit, eine aktive Politik für die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit mit Vorrang vor allen anderen Überlegungen über den militärischen Status der Bundesrepublik zu betreiben.

    (Beifall bei der SPD.)

    Eine friedliche und für alle Beteiligten in Ost und West und für das deutsche Volk akzeptierbare Lösung der deutschen Frage wäre zugleich ein entscheidender Beitrag zur Beendigung des Kalten Krieges in der Welt.
    Wir Sozialdemokraten sind deshalb aus allen diesen Gründen der Überzeugung, daß auf dem Verhandlungsprogramm der Bundesregierung für die Londoner Konferenz als erster Punkt die Frage einer neuen Initiative für Vier-Mächte-Verhandlungen über das Problem der deutschen Einheit und der Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems hätte stehen müssen.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Wenn die deutsche Regierung eine solche Forderung erhoben und durchgesetzt hätte, wäre in London die Möglichkeit gewesen, die Vorbereitung für eine derartige Konferenz gemeinsam zwischen den Vertretern der drei Westmächte und der Bundesrepublik zu treffen. Das ist nicht geschehen, und das bedauerlichste ist, daß die Bundesregierung nicht einmal den Versuch gemacht hat, die Tagesordnung der Londoner Konferenz in diesem Sinne zu gestalten. Wir sehen in diesem Fall nicht nur ein bedauerliches Versäumnis der Bundesregierung in einer bestimmten taktischen Situation. Die Folgen der Vermeidung der Behandlung dieses Themas können viel weitreichender sein; denn wir können nicht erwarten, meine Damen und Herren, daß die Westmächte über ihre erneuten feierlichen Erklärungen für die Wiedervereinigung Deutschlands hinaus in dieser Frage von sich aus aktiv werden, wenn nicht immer von neuem durch die Deutschen selbst in der Richtung einer aktiven Wiedervereinigungspolitik gedrängt wird.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Was uns veranlaßt, hier in diesem Punkte und schon an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt unsere große Besorgnis zu äußern, ist die Tatsache, daß wir in den Vereinbarungen von London, so-


    (Ollenhauer)

    weit sie sich mit dem zukünftigen Status der Bundesrepublik nach der Aufhebung des Besatzungsstatuts beschäftigen, sehr bemerkenswerte Formulierungen finden. Diese Formulierungen erwecken den Anschein, daß hier nicht nur ein System der freien inneren Selbstverwaltung des westdeutschen Teiles unseres Landes angestrebt wird, sondern daß sich auch die Tendenzen verstärken, die Bundesrepublik als ein abgeschlossenes staatliches Gebilde sowohl in völkerrechtlichem Sinne als auch im Verhältnis zum sowjetisch besetzten Teil Deutschlands zu etablieren. Wenn das richtig ist — und wir werden diese Frage sehr ernsthaft untersuchen, sobald wir die Texte der Verträge und Vereinbarungen im Wortlaut vorliegen haben —, dann müssen sich daraus sehr ernsthafte und weitgehende Konsequenzen im Verhältnis der Bundesrepublik zu dem Status eines wiedervereinigten Deutschlands ergeben. Und wir wären dem Herrn Bundeskanzler sehr dankbar für eine Erklärung, daß eine solche Entwicklung nicht den Vorstellungen der Bundesregierung entspricht.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    In jedem Falle wird die sozialdemokratische Bundestagsfraktion jeden weiteren außenpolitischen Schritt der Bundesregierung und jede außenpolitische Verpflichtung, die sie eingeht, unter dem Gesichtspunkt prüfen, ob sie mit einer aktiven Wiedervereinigungspolitik der Bundesrepublik vereinbar ist oder nicht. Unser grundsätzlicher Einwand gegen die Londoner Konferenz ist daher, daß sie die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands, auch unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung dieser Frage für eine ernsthafte Entspannung und Befriedung in Europa und in der Welt, nicht zum wesentlichen Bestandteil ihrer Verhandlungen gemacht hat und daß die Bundesregierung dadurch eine ihr durch wiederholte einstimmige Bundestagsbeschlüsse aufgetragene Verpflichtung nicht erfüllt hat.

    (Beifall bei der SPD.)

    Der Herr Bundeskanzler hat nun am Dienstag den Inhalt der Londoner Vereinbarungen bekanntgegeben und erläutert. Wir sind ja auch glücklicherweise noch eine Stunde vor Beginn der Plenarsitzung in den Besitz des deutschen Textes der Vereinbarung von London gekommen. Wir betrachten die heutige Debatte, soweit sie sich mit den Londoner Vereinbarungen im einzelnen beschäftigt, als Generaldiskussion, der eingehende Beratungen bei der Vorlage der noch auszuarbeitenden Verträge und Vereinbarungen folgen müssen. Wir erwarten dabei, daß in diesem Fall entgegen der Praxis bei der parlamentarischen Beratung des EVG-Vertrages und des Generalvertrages mehr Wert auf genügend Zeit für eingehende Beratung gelegt wird als auf die Schnelligkeit der Ratifizierung.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich glaube, es besteht kein Grund, daß wir auch dieses Mal darauf aus sind, in bezug auf Fixigkeit die Fleißnummer eins zu bekommen.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Zur allgemeinen Beurteilung der Londoner Vereinbarung möchte ich hier im Namen meiner Fraktion zunächst einige erste Feststellungen treffen.
    Ich habe die britische Initiative zur Einberufung der Londoner Konferenz auf meiner Pressekonferenz am 24. September ausdrücklich begrüßt. Es war selbstverständlich, daß nach dem Scheitern der Integrationspolitik ein neuer Versuch für die europäische Zusammenarbeit auf anderer Basis gemacht werden mußte, weil die Zusammenarbeit der europäischen Völker einfach eine Notwendigkeit ist. Der Herr Bundeskanzler hat mit sichtlicher Befriedigung festgestellt, daß durch die Londoner Vereinbarungen eine ernste Krise in Westeuropa überwunden worden sei. Er hat vergessen, hinzuzufügen, daß diese Krise vermeidbar gewesen wäre, wenn man bereits früher die Konsequenzen aus der offensichtlichen Unmöglichkeit der Durchführung der Integrationspolitik gezogen hätte.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Wie oft, meine Damen und Herren, haben wir hier in diesem Hause gehört, daß die Einigung Europas mit der Integrationspolitik der Bundesregierung stehe und falle und daß das Scheitern dieser Politik zu einer Katastrophe führen müsse! Mit welcher Leidenschaft hat man sich hier gewehrt auch nur gegen jede Diskussion über alternative Lösungen! Und diese Weigerung hat die Bundesregierung noch bis nach der Brüsseler Konferenz mit der Behauptung aufrechterhalten, es gebe keine Alternative zur EVG.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Als dann aber das Fiasko in dieser eingleisigen Politik offenkundig war, war es der Herr Staatssekretär Professor Hallstein, der sich unmittelbar vor Beginn der Londoner Konferenz in der „Welt" öffentlich rühmte, das Auswärtige Amt habe nicht weniger als elf verschiedene Alternativlösungen ausgearbeitet.

    (Hört! Hört! und Lachen bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, es ist bezeichnend für das Verhältnis der Regierung zum Parlament, daß selbst die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses erst durch die Veröffentlichung des Herrn Staatssekretärs von dieser erstaunlichen Aktivität unseres Auswärtigen Amtes erfahren haben,

    (Sehr gut! bei der SPD)

    und es ist ja doch wohl auch kein Zweifel darüber, daß diese Methode in hohem Maße geeignet ist, das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit amtlicher Äußerungen beim Volke zu erschüttern.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Die Tatsache, daß es der Londoner Konferenz gelungen ist, in fünf Tagen eine andere Lösung als die EVG auszuarbeiten, ist jedenfalls eine Rechtfertigung der Auffassung der Sozialdemokratie von den Möglichkeiten alternativer Lösungen,

    (Sehr gut! bei der SPD)

    und soweit die Londoner Vereinbarungen eine europäische Zusammenarbeit weiter zu entfalten versuchen, sehen wir mindestens in zwei Punkten einen Fortschritt gegenüber der EVG-Lösung.
    Der erste und der wichtigste Punkt ist zweifellos die Entscheidung der britischen Regierung, weitgehende dauernde Verpflichtungen auf dem europäischen Kontinent zu übernehmen, weitergehende Verpflichtungen, als je eine britische Regierung, außer in Kriegszeiten, übernommen hat. Auch wir möchten der britischen Regierung für ihre Initiative in bezug auf die Einberufung der Konferenz und für ihren Beitrag in der Richtung der europäischen Zusammenarbeit unseren Dank aussprechen.

    (Beifall bei der SPD.)



    (Ollenhauer)

    Diese Entscheidung der britischen Regierung bedeutet in der Tat eine Hoffnung für alle, die eine möglichst umfassende europäische Zusammenarbeit wünschen.
    Wir sind weiter der Meinung, daß die Aufgabe des Prinzips der Integration als der allein möglichen Basis einer europäischen Einheit ein Fortschritt ist. Denn damit ist die Gefahr, die wir immer gefürchtet haben, daß sich das freie Europa noch einmal in sich spalten könnte, wesentlich gemindert.
    Was wir bedauern, meine Damen und Herren, ist die Tatsache, daß die Londoner Vereinbarungen, soweit sie sich auf die europäische Zusammenarbeit beziehen, nur die militärische Seite dieser Zusammenarbeit behandeln.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    In dieser Beziehung wird leider .der Fehler der EVG-Konstruktion fortgesetzt,

    (Sehr richtig! bei der SPD)

    die europäische Zusammenarbeit mit dem Schwergewicht auf militärischem Gebiet zu beginnen. Die Frage der Einheit Europas ist aber nicht nur und nicht in erster Linie die Frage seiner militärischen Organisation.

    (Beifall bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, hätten wir nur mit einem Teil der Energie, mit der hier für die deutsche Aufrüstung im europäischen Rahmen in den letzten Jahren gearbeitet worden ist, die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit der europäischen Völker gefördert, so hätten wir mehr für die Schaffung

    (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU — Abg. Albers: Wie war es mit dem Schuman-Plan?)

    einer wirklichen europäischen Gemeinschaft getan, als es heute der Fall ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Und um wieviel besser, meine Damen. und Herren, stünde es um das freie Europa, wenn es uns in den letzten Jahren auf dem Kontinent wenigstens gelungen wäre, das Maß von praktischer Zusammenarbeit zu verwirklichen, das z. B. die skandinavischen Länder mit dem Resultat erreicht haben, daß sie heute die volle Freizügigkeit ihrer Staatsbürger, den einheitlichen Arbeitsmarkt und die einheitliche Sozialordnung verwirklicht haben.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe in der Mitte und rechts.)

    In der Zeit des Kalten Krieges würde eine solche Gemeinsamkeit der freien europäischen Völker die Position dieser Völker gegenüber den Gefahren der totalen Infiltration wesentlich verstärkt haben.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Nun, nachdem die Londoner Konferenz diesen Aufgabenkomplex völlig außer Betracht gelassen hat, erwarten wir eine Stärkung derjenigen europäischen Einrichtungen, die die Voraussetzungen für den Ausbau der europäischen Zusammenarbeit auf den anderen als den militärischen Gebieten schaffen können.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Montan-Union!)

    Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Rede die Fortschritte hervorgehoben, die auf der Londoner Konferenz in bezug auf die Gleichberechtigung und auf die Ausschaltung von Diskriminationen gegenüber den im EVG-Vertrag und im Generalvertrag vorgesehenen Regelungen erzielt worden sind. Wir freuen uns, daß das Scheitern des EVG-Vertrages die Londoner Konferenz mit solchen Erfolgen auf diesem Gebiete möglich gemacht hat;

    (Zustimmung bei der SPD)

    denn sonst wäre j a die Bundesrepublik nach Ihrem Willen für 50 Jahre an die schlechteren Bedingungen des EVG-Vertrages und des Generalvertrages gebunden gewesen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Die Feststellung dieser Fortschritte auf der Londoner Konferenz gegenüber der EVG-Lösung ist ja auch eine nachträgliche indirekte Anerkennung der Berechtigung der sozialdemokratischen Opposition gegen die Verträge von Paris und Bonn.

    (Erneuter lebhafter Beifall bei der SPD. — Unruhe und Zurufe bei den Regierungsparteien.)

    — Ich weiß, wie schwer Ihnen das fällt, aber, meine Damen und Herren, das hilft nichts.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) Wir nehmen das zur Kenntnis.

    Darüber hinaus sind wir sicher darin einig, daß wir uns die gründliche Untersuchung der Vereinbarung und ihrer Konsequenzen vorbehalten. Wir haben eine Fülle von Fragen, die weder durch den Text der Vereinbarung noch durch die knappen Erläuterungen des Herrn Bundeskanzlers beantwortet sind. Die Position der Bundesrepublik nach der Aufhebung des Besatzungsstatuts scheint uns keineswegs so klargestellt, wie es der Herr Bundeskanzler hier behauptet hat. Die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, daß die Notstandsklausel des Generalvertrages gefallen sei, befriedigt uns nicht. In den Vereinbarungen über das Verhältnis zwischen den Hohen Kommissaren auf ,der einen Seite und der Bundesregierung auf der andern Seite in der Zeit bis zur Aufhebung des Besatzungsstatuts ist ausdrücklich festgestellt, daß in dieser Zeit die Ausübung des Notstandsrechts in den Händen der drei westlichen Besatzungsmächte bleibt,

    (Hört! Hört! bei der SPD)

    und zweitens soll der Verzicht auf das Notstandsrecht erst in Kraft treten, wenn die Bundesrepublik die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dieses Recht selbst auszuüben.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Herr Bundeskanzler, bedeutet das, daß die Bundesregierung die Absicht hat, nach dem Muster der Ausnahmezustandsbestimmungen der Weimarer Verfassung die Schaffung eines neuen Art. 48 im Grundgesetz vorzubereiten? Wir möchten darauf eine klare und eindeutige Antwort haben.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Soweit die militärischen Vereinbarungen in Frage kommen, wird z. B. auch zu untersuchen sein, in welcher Weise die doppelte Kontrolle, die durch das Rüstungskontrollamt des Brüsseler Vertrages und durch NATO ausgeübt werden soll, praktisch funktioniert. Wir sind in Übereinstimmung mit unserer allgemeinen Politik für die internationale Abrüstung. Wir sind dagegen, daß das Ruhrgebiet wieder zur Waffenschmiede wird, und wir bedauern und beklagen, daß heute schon gewisse Kreise in Deutschland die Frage eines militärischen Beitrags der Bun-


    (Ollenhauer)

    desrepublik in erster Linie unter dem Gesichtspunkt sehen, welchen Anteil sie an den Gewinnen einer neuen Rüstungskonjunktur in Deutschland ergattern können.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir wünschen im Zusammenhang mit der Frage der Kontrolle, daß die Arbeitsplätze der deutschen Arbeiter im Rahmen einer Friedensproduktion uneingeschränkt erhalten bleiben und nicht einem neuen verstärkten Sog nach dem Westen zum Opfer fallen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Das ist nicht nur eine sozialpolitische Frage, das ist eine nationalpolitische Frage allererster Ordnung.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Wir werden im Laufe der weiteren Beratungen die Bundesregierung um konkrete Aufklärung darüber bitten, ob bei der Aufstellung von deutschen Divisionen tatsächlich ein höheres Maß von Sicherheit für die Bundesrepublik erreicht wird. Denn es wäre unverantwortlich, dem deutschen Volk und vor allem der deutschen Jugend das schwere persönliche und materielle Opfer einer Aufrüstung zuzumuten, wenn der Effekt für die Erhöhung der Sicherheit der Bundesrepublik gleich Null bliebe.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Die Bundesregierung wird bei der Einzelberatung auch darüber Auskunft geben müssen, mit welchen finanziellen Belastungen die Durchführung der Londoner Vereinbarungen für das 'deutsche Volk in der Bundesrepublik verbunden sein wird. Der Aufwand von 40 Milliarden DM als Grundlage für die Durchführung 'der Aufrüstung ist von keiner Seite ernsthaft bestritten worden. Unsere Auffassung ist, daß ein solcher Betrag von 40 Milliarden DM angesichts der weitgehenden unerfüllten sozialen Verpflichtungen gegenüber Millionen von Menschen unverantwortlich ist.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Im Kalten Krieg ist eine umfassende Politik der sozialen Sicherheit von größerer Bedeutung für die Stärkung der freien Welt als die Aufstellung von neuen Divisionen.

    (Erneuter Beifall bei der SPD. — Unruhe in der Mitte.)

    Ich möchte schließlich an den Herrn Bundeskanzler die Frage richten, was von deutscher Seite noch geschehen muß, um die Vereinbarungen von London vor allem in Frankreich in Kraft zu setzen. Herr Mendès-France hat nach seiner Rückkehr aus London in Paris erklärt, daß er die Vorschläge von London nur gemeinsam mit einer Grundsatzeinigung über die Saarfrage dem französischen Parlament vorlegen wird, und er hat gestern abend im Auswärtigen Ausschuß des französischen Parlaments angekündigt, daß er am 20. Oktober über die Saarfrage mit dem Herrn Bundeskanzler verhandeln möchte. Der Herr Bundeskanzler hat diese Frage in seiner Regierungserklärung merkwürdigerweise mit keinem Wort erwähnt. Ist es richtig, Herr Bundeskanzler, daß solche Verhandlungen zwischen der französischen Regierung und Ihnen im Sinne der Mitteilung von Herrn Mendès-France bevorstehen, und welche Haltung, Herr Bundeskanzler, werden Sie bei diesen Verhandlungen einnehmen?

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Es ist wiederum die Rede von einer sogenannten Europäisierung der Saar unter der Kontrolle der Montan-Union. Die Sozialdemokratische Partei ist der Meinung, daß im Interesse der freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem französischen und dem deutschen Volk auch eine Lösung der Saarfrage gefunden werden muß.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

    Sie kann aber nicht den Verzicht auf das Saargebiet als einen Teil deutschen Staatsgebietes umfassen, und sie muß in jedem Falle die Bevölkerung des Saargebiets unverzüglich in den Genuß aller demokratischen Grundrechte und Freiheiten bringen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir erwarten vom Herrn Bundeskanzler, daß er seine Vorstellungen von der Verhandlungsführung in dieser Frage im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages darlegt, und wir Sozialdemokraten sind bereit, im Rahmen der obengenannten Grundsätze an einer positiven Lösung dieses Problems mitzuarbeiten.
    Meine Damen und Herren, das entscheidende Problem, das für uns im Zusammenhang mit den Londoner Vereinbarungen aufgeworfen worden ist, ist die Frage, wie die Londoner Vereinbarungen in Beziehung gesetzt werden sollen zu einer aktiven Politik für die Wiedervereinigung Deutschlands.
    Der Herr Bundeskanzler hat in den letzten Wochen wiederholt zu der Frage der Wiedervereinigung und der Eingliederung der Bundesrepublik in ein westliches Verteidigungssystem in einem Sinne Stellung genommen, der uns zu den ernstesten Befürchtungen Anlaß gibt.
    Ich muß in diesem Zusammenhang zurückkommen auf das Interview des Herrn Bundeskanzlers in der Londoner „Times" vom 4. September. Dort sagte der Bundeskanzler im Zusammenhang mit den Verhandlungen der Brüsseler Konferenz:
    Ich gab mir Mühe, keine unnötigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Mendès-France und mir aufkommen zu lassen, aber ich erhob natürlich die stärkste Einwendung, als er forderte, daß jeder Teilnehmer an dem Vertrag das Recht haben sollte, die Mitgliedschaft in der Verteidigungsgemeinschaft im Falle einer Wiedervereingung Deutschlands zu kündigen. Nach meiner Auffassung
    — nach der Auffassung des Herrn Bundeskanzlers —und nach der Auffassung anderer auch war dies eine Einladung an Rußland, die Wiedervereinigung Deutschlands durch jedes Mittel zu versuchen und so die EVG zu Ende zu bringen.

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, das ist eine wörtliche Äußerung des Herrn Bundeskanzlers. Was er hier über das Verhältnis zwischen EVG und Wiedervereinigung sagt, ist das strikte Gegenteil der politischen Linie, die die Wiedervereinigung Deutschlands als die vordringlichste Aufgabe der deutschen Politik betrachtet.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Ein solcher Standpunkt macht die Wiedervereinigung schon durch das Verhalten der Bundesregierung unmöglich.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)



    (Ollenhauer)

    Da diese Frage an keinem Punkt des konkreten Inhalts der Londoner Vereinbarungen behandelt ist, muß dieser wesentliche Gesichtspunkt hier mit aller Klarheit und Entschiedenheit noch einmal herausgestellt werden.
    Es kommt nicht nur darauf an, daß die Bundesrepublik keine Verpflichtungen für eine zukünftige frei gewählte gesamtdeutsche Regierung übernehmen kann, nein, die Bundesrepublik muß auch aus eigenem Willen bereit sein, jede vertragliche Vereinbarung zu lösen, wenn sie die Wiedervereinigung hindert.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Und über die feierlichen Erklärungen der westlichen Außenminister auf der Berliner Konferenz hinaus —die ja der Herr Bundeskanzler durch seine in dem „Times"-Interview kundgetane Auffassung auch beiseite geschoben hat —, daß eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung an vertragliche Verpflichtungen der Bundesrepublik nicht gebunden sein werde, muß sich die Bundesrepublik auch selbst die Freiheit der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung durch die Aufnahme einer Kündbarkeitsklausel für den Fall ernsthafter Möglichkeiten für eine Wiedervereinigung sichern, einer Kündbarkeitsklausel in allen internationalen Verträgen und Vereinbarungen, die die Bundesrepublik abschließt.

    (Beifall bei der SPD.)

    Es kommt darauf an, auf diese Weise das Initiativrecht der Bundesregierung in der Frage der Verhandlungen über die Wiedervereinigung zu sichern.
    Hier stehen wir nach unserer Auffassung an dem entscheidenden Punkt. Vereinbarungen wie die von London, die die Wiedervereinigung als prinzipielles Ziel erklären, aber nicht zum Gegenstand der Vertragsgestaltung und der praktischen Politik machen, sind für das deutsche Volk in dieser Situation nicht akzeptabel.

    (Abg. Arnholz: Sehr gut!)

    Heute bedeutet die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik im Rahmen der NATO und die ausschließliche Konzentration der Außenpolitik der Bundesrepublik auf ihre Eingliederung in das westliche Verteidigungssystem den Verzicht auf eine aktive Politik für die Wiedervereinigung Deutschlands.

    (Beifall bei ,der SPD.)

    Die Sozialdemokratische Partei muß eine solche Lösung ablehnen.

    (Erneute Zustimmung bei der SPD.)

    Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß die Bundesrepublik keine neuen Verpflichtungen im Zusammenhang mit ,dem westlichen Verteidigungssystem und an Stelle der EVG übernehmen sollte, ehe nicht ein neuer ernsthafter Versuch gemacht worden ist, durch Verhandlungen mit der Sowjetunion zu klären, ob es möglich ist, die Frage der deutschen Wiedervereinigung auf der Basis von freien Wahlen in allen vier Zonen und in Berlin und der Eingliederung des geeinten Deutschlands in ein System der kollektiven Sicherheit zu lösen.
    Wir haben bereits früher an dieser Stelle eine Reihe von konkreten Vorschlägen in dieser Richtung gemacht. Wir haben damals auch auf die Möglichkeiten hingewiesen, die sich durch den Aufbau eines solchen Sicherheitssystems im Rahmen der Vereinten Nationen bieten.
    Ich erinnere mich noch sehr deutlich an die sehr unfreundlichen Belehrungen über den angeblich fragwürdigen Wert der Vereinten Nationen für die Sicherheit, die wir damals von dieser Stelle entgegennehmen mußten.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    In diesem Punkte dürfte heute vielleicht eine sachlichere Diskussion möglich sein, nachdem der Herr Bundeskanzler mit solchem Nachdruck und mit einer so starken positiven Betonung auf die Londoner Vereinbarungen hingewiesen hat, die die Anerkennung der Satzungen und der Grundsätze der Vereinten Nationen zum Gegenstand haben.

    (Sehr gut! bei der SPD. — Abg. Dr. Eckhardt: Na und?)

    Wir sind der Auffassung, daß die Schaffung eines solchen europäischen Sicherheitssystems im Rahmen der Vereinten Nationen möglich ist. Selbstverständlich wird ein wesentlicher Punkt der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung und die Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems die Frage des zukünftigen Status des wiedervereinigten Deutschlands sein. Wir sind der Auffassung, daß eine Lösung gefunden werden kann, die eine gesamtdeutsche frei gewählte Regierung akzeptiert und die weder von den östlichen noch von den westlichen Partnern eines wiedervereinigten Deutschlands als eine gegen sie gerichtete Bedrohung empfunden wird.

    (Beifall bei der SPD.)

    Der Beitrag, den das wiedervereinigte Deutschland in einem solchen Sicherheitssystem zu leisten hat, muß zwischen den beteiligten Mächten und der gesamtdeutschen Regierung vereinbart werden. Es gibt dafür, wie die Erfahrung zeigt, viele praktische Möglichkeiten. Allerdings würde eine solche Regelung die einseitige Bindung Gesamtdeutschlands an eine Militärallianz mit der einen oder anderen Seite ausschließen.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Wir sind überzeugt, daß die Frage neuer internationaler Konferenzen auch über das deutsche Problem und die europäische Sicherheit unter .Beteiligung der Sowjetunion auf der Tagesordnung bleibt, daß diese neuen Konferenzen kommen werden und daß wir deshalb die hier gegebene Chance für eine friedliche und freiheitliche Lösung des deutschen Problems nicht jetzt durch die in den Londoner Vereinbarungen vorgesehene militärische Aufrüstung der Bundesrepublik im Rahmen des Brüsseler Paktes und der NATO belasten dürfen.
    Meine Damen und Herren, niemand kann den Erfolg solcher neuen Verhandlungen über das deutsche Problem und über eine europäische Entspannung voraussagen. Aber niemand, vor allem im deutschen Volke, kann es auch verantworten, auf einen solchen Versuch zu verzichten, ehe wir uns für lange Zeit unwiderruflich an eine Politik binden, die auf der Annahme basiert, daß die Spaltung der Welt in zwei Blöcke und damit auch die Spaltung Deutschlands für lange Zeit eine unabänderliche Tatsache sind.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Das ist eine sehr ernste Situation. Ich möchte deshalb auch ausdrücklich hinzufügen: Sollte ein solcher neuer, ernsthafter Versuch scheitern, sollte es nicht gelingen, die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und die Schafung eines europäischen Sicherheitssystems positiv zu lösen,


    (Ollenhauer)

    dann stehen wir Sozialdemokraten in vollem Umfang zu den Erklärungen, die wir auf unserem Berliner Parteitag über die Bereitschaft der Sozialdemokratie zu einer Mitwirkung an einer gemeinsamen Verteidigung der freien Welt beschlossen haben.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist der Auffassung, daß vor der Ratifizierung der Londoner Vereinbarungen von der Bundesrepublik eine neue ernsthafte Anstrengung gemacht werden muß, um die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit auf dem Wege von Verhandlungen zu fördern.
    Wir stellen daher folgenden Antrag: Der Bundestag wolle beschließen: Die Bundesregierung wird ersucht,
    1. in Besprechungen mit den drei westlichen Besatzungsmächten die Grundlagen einer gemeinsamen Politik zu klären, die in kommenden Vier-Mächte-Verhandlungen die Wiedervereinigung Deutschlands herbeiführen soll; daher

    (Abg. Dr. Becker [Hersfeld]: Wie?)

    2. zu den in der Londoner Akte vorgesehenen speziellen Verhandlungskommissionen die Bildung einer weiteren Kommission zu betreiben, deren Aufgabe es sein soll, für das in Nr. 4 der Erklärungen der drei Westmächte in Abschnitt V der Akte aufgestellte Ziel gemeinsame Richtlinien festzustellen und eine einheitliche Politik zu ermöglichen; dabei
    3. bei den westlichen Besatzungsmächten darauf hinzuwirken, daß mit der sowjetischen Besatzungsmacht so bald wie möglich Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und die Eingliederung Deutschlands in ein europäisches Sicherheitssystem im Rahmen der Vereinten Nationen aufgenommen werden; weiter
    4. in den Abkommen, die in Ausführung der Schlußakte der Londoner Konferenz vorgesehen sind, nur solche Verpflichtungen und Bindungen der Bundesrepublik einzugehen, die ihrer Grundaufgabe gerecht werden, ihre vordringlichste politische Verpflichtung zu erfüllen: die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit mit friedlichen Mitteln herbeizuführen.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD.)



Rede von Dr. Hermann Ehlers
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Brentano.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Heinrich von Brentano


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat vorgestern von diesem Platze aus dem Deutschen Bundestag einen ersten zusammenfassenden Bericht über das Ergebnis der Londoner Neun-Mächte-Konferenz unterbreitet. Gleichzeitig wurde die Londoner Akte im Wortlaut veröffentlicht. In dieser Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler auf die Ereignisse hingewiesen, die zur Einberufung der Neun-Mächte-Konferenz geführt haben. Es scheint mir gut und notwendig zu sein, diese Darstellung in der heutigen Debatte noch um weniges zu ergänzen.
    Der letzte und unmittelbare Anlaß zur Einberufung der Konferenz war die Entscheidung des französischen Parlaments vom 30. August, das mit Mehrheit die Ratifizierung der Verträge von Bonn und Paris abgelehnt hat. Es ist nicht die Aufgabe des deutschen Parlaments, zu dieser Entscheidung kritisch Stellung zu nehmen; denn ein jedes Parlament ist in seinen Entscheidungen frei, und wir haben sie als politische Realitäten zu respektieren. Sicherlich ist es uns aber nicht verwehrt, von der Enttäuschung zu sprechen, die der Parlamentsbeschluß von Paris bei all jenen auslösen mußte, die die Initiative der französischen Regierung und des französischen Parlaments seinerzeit bereitwillig aufgenommen hatten.
    Die Diskussion über die Verträge begann ursprünglich mit dem Entschließungsantrag des heutigen Premierministers Sir Winston Churchill vom 11. August 1950 in der Beratenden Versammlung des Europarats. Dieser Entschließungsantrag wurde von dem französischen Ministerpräsidenten Pleven aufgenommen, der am 24. Oktober 1950 seinen Gedanken über die Schaffung einer europäischen Armee vortrug, einen Gedanken, der von der französischen Nationalversammlung seinerzeit mit überwältigender Mehrheit gutgeheißen wurde. Die Verhandlungen führten dann zur Unterzeichnung der Verträge, und sie führten zu den Ratifizierungsverhandlungen. Sie wissen, daß Belgien, Luxemburg, Holland und die Bundesrepublik die Verträge mit Mehrheiten bis zu vier Fünfteln der Stimmen ratifiziert haben und Italien die Ratifizierung beabsichtigte.
    Meine Damen und Herren, man wird vielleicht fragen, warum ich auf diese Dinge eingehe. Aber das scheint mir nötig — auch jetzt nach der Darstellung des Herrn Kollegen Ollenhauer —, um der objektiv unrichtigen Behauptung entgegenzutreten, mit der Entscheidung von Paris habe sich die deutsche Außenpolitik als unrichtig erwiesen und sei gescheitert.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Richtig daran ist nur, daß die Ratifizierung der beiden Verträge durch einen Vertragspartner abgelehnt wurde.

    (Sehr gut! in der Mitte. — Abg. Dr. Bärsch: Der allerdings der entscheidende Partner war!)

    — Bei Sechsen ist immer einer entscheidend, weil die Ratifizierung von der Zustimmung aller abhängt. Das ist eine Binsenweisheit, die ich bereits vor Ihnen wußte. Ich glaube aber nicht, daß die Feststellung genügt, die Außenpolitik sei gescheitert, um nun die politische Zielsetzung als unrichtig zu bezeichnen. Denn wer das tut, müßte doch der Vollständigkeit halber hinzufügen, daß dann auch die Außenpolitik Belgiens, Hollands, Luxemburgs, Italiens, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs falsch gewesen sei. Meine Damen und Herren, wenn Sie das behaupten, meine ich doch, daß wir uns in einer guten Gesellschaft befinden.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Das ist eine Logik!)

    Ich bedauere, auch feststellen zu müssen, daß diese Behauptung, die deutsche Außenpolitik sei gescheitert, mit dieser Lautstärke und mit dieser


    (Dr. von Brentano)

    Befriedigung eigentlich nur noch in den Oststaaten aufgestellt worden ist.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Heiland: Jetzt sind Sie beinahe wieder bei Scharley und Schroth! — Abg. Mellies: Sie haben allerhand gelernt vom Herrn Bundeskanzler!)

    Es scheint mir darum auch notwendig und richtig, heute von dieser Stelle aus zu erklären, daß auch die ablehnende Entscheidung der französischen Kammer uns nicht veranlassen kann, unsere Zielsetzung zu überprüfen, wohl aber veranlassen muß, andere Wege zu suchen, auf denen das gemeinsame Ziel verwirklicht werden kann.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich sage — auf die Gefahr hin, Widerspruch bei Ihnen zu hören, meine Damen und Herren von der Opposition —: das gemeinsame Ziel, und ich nehme hierfür Bezug auf das gemeinsame Schlußkommuniqué, das die Regierungen der sechs Länder bei Abschluß der Brüsseler Konferenz am 22. August veröffentlicht haben. Ich kann ebenso Bezug nehmen auf den Vorspruch und den Inhalt der Londoner Akte, wie sie am 3. Oktober unterzeichnet wurde.
    Ich habe es darum auch begrüßt, daß der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung eindringlich betont hat, daß die Bundesregierung bereit und entschlossen sei, auch in Zukunft die Grundlinien der bisherigen Außenpolitik zu vertreten. Die Bundesregierung befindet sich dabei in Übereinstimmung mit der erdrückenden Mehrheit des Deutschen Bundestages, dessen Entschließung vom 26. Juli 1950, die auch Ihre Zustimmung gefunden hatte, meine Damen und Herren von der Opposition, heute noch volle Gültigkeit besitzt.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Ich drücke darum auch den Wunsch aus, die Bundesregierung möge in Zukunft nichts unversucht lassen, um die Politik der echten europäischen Integration auf allen dazu geeigneten Gebieten und mit jedem dazu bereiten Partner und in jeglicher sich hierfür anbietenden Form weiterzuführen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Um einen Irrtum richtigzustellen, der aus den Worten unseres Kollegen Ollenhauer klang, möchte ich hier folgendes sagen: Es ist mir nicht erinnerlich, daß irgendwann einmal von, dieser Stelle von der Regierung oder von der Mehrheit des Hauses gesagt worden sei, die Integrationsnolitik, wie sie in dem Vertrag über die Montan-Union, in dem Vertrag über die Verteidigungsgemeinschaft und in dem geplanten Vertrag über die Europäische Politische Gemeinschaft ihren Niederschlag fand, sei der einzig mögliche Weg der europäischen Koordination.

    (Lachen bei der SPD. — Abg. Mellies: Da müssen Sie einmal die Protokolle nachlesen!)

    — Meine Damen und Herren. es ist gesagt worden — und das wiederhole ich auch heute —: es ist der beste Weg;

    (Sehr richtig! in der Mitte)

    und wir bedauern, daß wir heute gezwungen sind, einen anderen zu gehen.,

    (Beifall in der Mitte.)

    Wenn die Bundesregierung an dieser Politik festhält, dann folgt sie damit nicht nur dem Auftrag des Bundestags, nein, sie erfüllt auch die verfassungsmäßige Pflicht, wie sie sich aus der Präambel und aus dem Art. 24 des Grundgesetzes ergibt, die für den Bundestag und für die Bundesregierung verpflichtend sind.
    Ich wiederhole darum auch die Erklärung der Bereitschaft, im Zuge der kommenden politischen Entwicklung ungeachtet der in einem Zwischenstadium geschaffenen Formen der politischen Kooperation auf Souveränitätsrechte zu verzichten und sie in eine echte europäische Gemeinschaft zum gleichen Zeitpunkt und im gleichen Umfang einzubringen, wie sich die andern an diesen Entscheidungen beteiligen werden.
    Meine Damen und Herren, ich habe hier zu meiner Überraschung gehört, daß der Herr Kollege Ollenhauer die mangelnde Initiative zu einer europäischen Verständigung beklagt und auf das Beispiel der skandinavischen Staaten verwiesen hat. Er hat gefragt: Warum haben wir nicht Gleiches getan, warum haben wir nicht versucht, wenigstens in der Form dieses skandinavischen Staatenbündnisses die Frage der Freizügigkeit und ähnliche zu lösen? Meine Damen und Herren, ist es zu begreifen, daß dies von dem Vertreter der Partei gesagt wird, die sogar dem Eintritt in den Europarat nicht zugestimmt hat?!

    (Beifall in der Mitte.)

    Ich weiß nicht, wie und wo wir diese Verhandlungen nach dem Wunsche des Herrn Kollegen Ollenhauer hätten führen sollen, wenn wir in der selbstgewählten Isolierung geblieben wären, die bis zur Stunde seinen Vorschlägen entspricht.

    (Erneuter Beifall in der Mitte.)

    Die Entscheidung des französischen Parlaments, von der ich sprach, hat zunächst die Verwirklichung einer konkreten Form der politischen Zusammenarbeit, wie sie im Pariser Vertrag vorgesehen war, verhindert. Man kann aber diese Tatsache sicherlich nicht isoliert sehen. Die politischen und psychologischen Reaktionen, die sie überall in der Welt auslösen mußte, waren — und ich unterstreiche hier ganz besonders die Darlegungen in der Regierungserklärung — geeignet, Europa und die freie Welt in ihrer Existenz zu gefährden. Im deutschen Volk mußte der Ausschlag besonders heftig sein. Das ergibt sich aus der besonderen geographischen und politischen Lage unseres Vaterlandes, das vielleicht mehr als jedes andere Volk ein vitales Interesse daran hat, in ein echtes Sicherheitssystem eingebaut zu sein. Die besondere Lage Deutschlands im Zentrum eines politischen Spannungsfeldes läßt diesen Wunsch begreiflich erscheinen. Man konnte Reaktionen spüren, und es scheint mir gut, darüber zu sprechen. Auf der einen Seite hörte man Stimmen, die wir nicht gerne vernehmen: man spürte, daß einzelne schon wieder den Blick in die Vergangenheit wendeten und glaubten, daß das Heil Deutschlands in der Pflege eines neuen Nationalismus liegen könnte. Andere flüchteten in den Neutralismus und meinten, daß nach der Absage, die aus dem Westen gekommen sei, der Versuch unternommen werden müßte, das Gesicht nun nach dem Osten zu kehren. In beiden Fällen — ich glaube, das sagen zu können — waren das nicht einmal immer die schlechtesten, die etwa solches ausdrückten. Es waren oft die dumpfe Angst vor


    (Dr. von Brentano)

    einer Isolierung und zuweilen auch die Flucht in eine gefährliche Resignation, die sich in solchen Äußerungen kundtaten.
    Aber nicht nur in Deutschland und nicht nur in Europa wurden solche Reaktionen erkennbar. Auch in anderen Ländern, nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten, mußte diese Entwicklung enttäuschen, weil sie diejenigen zu rechtfertigen schien, die schon seit einiger Zeit den Standpunkt vertreten, daß die europäischen Völker nicht mehr die Kraft zur Selbstbehauptung und zur Selbsterhaltung aufbringen. Wir alle wissen es — und wir müssen es darum auch aussprechen —, daß eine Entscheidung, durch die die Vereinigten Staaten sich von Europa zurückzögen, eine politische Katastrophe ohnegleichen einleiten würde. Ich glaube, hierüber besteht auch in diesem Hause keine Meinungsverschiedenheit. Ich erinnere an die sehr eindringlichen und überzeugenden Ausführungen des belgischen Außenministers Paul Henri Spaak in der Beratenden Versammlung des Europarats, der mit tiefem Ernst vor einer solchen Entwicklung gewarnt hat. Der Herr Kollege Ollenhauer hat Herrn Spaak zitiert. Ich ergänze gern das Zitat, weil ich den Eindruck habe, daß Herr Kollege Ollenhauer die wesentliche Stelle, die er zitieren wollte, überlesen hat.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Herr Spaak hat zwar gesagt, er habe nicht den Eindruck, daß nun morgen oder übermorgen ein Angriffskrieg von Rußland drohe. Das hat er in der Auseinandersetzung mit denen gesagt — er hat sie angesprochen —, die etwa die Meinung vertreten: Rußland hat ja bis heute gewartet, und deswegen brauchen wir gar nichts zu tun; es wird immer warten, solange es uns paßt. Herr Spaak hat aber wörtlich hinzugefügt: „Ich begreife nicht, daß es politisch verantwortliche Menschen gibt, die jetzt und in dieser Stunde Verhandlungen mit der Sowjetunion aufnehmen wollen."

    (Hört! Hört! und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Das ist ein Wortzitat, das Ihnen vielleicht weniger sympathisch ist; aber der Wahrheit die Ehre!

    (Beifall und Heiterkeit in der Mitte.)

    Meine Damen und Herren, wir sollten uns aber auch gerade im Verhältnis zu den anderen Staaten und nicht zuletzt zu den Vereinigten Staaten von der primitiven Vorstellung frei machen, als könnten wir uns jede Untätigkeit und jede Torheit erlauben und in die Resignation des Nichtstuns versinken in der angenehmen Hoffnung, daß die Vereinigten Staaten uns den Glauben an unsere Zukunft abnehmen und daß sie an unserer Stelle handeln, wenn wir untätig bleiben.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Man hat hier auch schon einmal davon gesprochen, daß man den Siegern den Mühlstein der Verantwortung um den Hals legen wollte. Meine Damen und Herren, der Mühlstein der Verantwortung liegt um unseren Hals!

    (Zustimmung in der Mitte.)

    Dieser gefährlichen Ungewißheit und Unsicherheit hat die Londoner Konferenz ein Ende bereitet. Es erscheint auch mir zu früh — darin stimme ich Herrn Kollegen Ollenhauer zu —, heute schon das Ergebnis der Londoner Konferenz in allen Einzelheiten zu diskutieren und abschließend dazu Stellung zu nehmen. Es liegt ein vollständiger und zusammenfassender Entwurf vor, aber wir wissen, daß in den nächsten Tagen noch die Beauftragten der beteiligten Regierungen damit beschäftigt sein werden, den Text zu ergänzen und entsprechend den ihnen erteilten politischen Richtlinien zusätzliche oder erläuternde Vereinbarungen auszuarbeiten. Es kann sich daher heute nur darum handeln, zu dem Vertragswerk, wie es zur Stunde vorliegt, erstmals Stellung zu nehmen und durch Frage und vielleicht Kritik seine Ergänzung zu fördern.
    Aus den Äußerungen des Herrn Kollegen Ollenhauer klang eine Enttäuschung darüber, daß die Bundesregierung aus London doch nicht alles mitgebracht habe, was er und seine Freunde erwarteten. Aber wenn ich das Ganze höre, was Herr Kollege Ollenhauer gesagt hat, dann habe ich den Eindruck, daß er offenbar doch zuviel verlangt. Er erwartet, so scheint es mir, daß Rußland der Wiedervereinigung zustimmt. Er erwartet, daß Frankreich auf seine beanspruchten, angemaßten Rechte an der Saar verzichtet. Er erwartet, daß die Vereinigten Staaten weiterhin die finanzielle Hilfe leisten und daß im übrigen die freie Welt uns verteidigt. Meine Damen und Herren, das alles erwarten wir auch. Aber ich glaube, wir können es nicht ernstlich erwarten, wenn wir nicht bereit sind, daran mitzuwirken.

    (Beifall in der Mitte.)

    Ich habe schon eingangs gesagt, daß die Genugtuung über den erfolgreichen Abschluß der Londoner Konferenz durch die Erkenntnis beeinträchtigt wird, daß wir zumindest vorläufig auf eine echte europäische Integrationspolitik verzichten müssen, soweit sie nicht bereits Formen wie in der Montan-Union angenommen hat. Ich möchte hier betonen, daß der Pflege und dem Ausbau dieser ersten überstaatlichen Institution in Zukunft unser ganz besonderes Bemühen gelten soll.

    (Bravo! in der Mitte.)

    Das, was uns heute vorgelegt wird, ist etwas anderes als das, was am Nein der französischen Kammer gescheitert ist. Darin stimme ich dem Herrn Kollegen Ollenhauer zu. Diese Tatsache zwingt uns, das Vertragswerk sorgfältig auf Inhalt und Wirkung zu prüfen.
    Der erste Teil beschäftigt sich mit der völkerrechtlichen Stellung der Bundesrepublik. Schon mit dem Deutschland-Vertrag sollte der Zweck erreicht werden, das Besatzungsrecht abzulösen. Die Regierungserklärung vom 1. September 1954 spricht darum auch in knapper Weise von dem Wunsche nach der Wiederherstellung der Souveränität. Ich begrüße es, daß dieser Teil des Vertrags den Wunsch erfüllt, und begrüße ganz besonders die folgende Formulierung:
    In der Überzeugung, daß Deutschland nicht länger der Rechte beraubt bleiben darf, wie sie einem freien und demokratischen Volk von Rechts wegen zustehen, und in dem Wunsche, die Bundesrepublik Deutschland als gleichberechtigten Partner mit den Bemühungen der übrigen Vertragschließenden um Frieden und Sicherheit zu assoziieren, . . .
    Ich begrüße diese Fassung, weil darin das so häufig mißbrauchte Wort von der Souveränität nicht zu finden ist, wohl aber in einer überzeugenden und eindeutigen Weise der deutschen Bundesrepublik als gleichberechtigtem Partner die Rechte eines freien Volkes zuerkannt werden. Dies scheint mir


    (Dr. von Brentano)

    eine glückliche und gute Definition des völkerrechtlichen Status zu sein, wie er schlechthin zwischen freien Völkern bestehen sollte, die nicht mehr an den absoluten Wert des Souveränitätsbegriffs glauben. Auch der einzelne Mensch vermag sich in eine gemeinsame Ordnung nur einzufügen, wenn er auf die angebliche Souveränität des Individuums verzichtet und für sich nicht mehr, aber selbstverständlich auch nicht weniger an Rechten beansprucht, als er den Mitmenschen und der Gemeinschaft einzuräumen bereit ist. Eine sittlich gefestigte Ordnung kann nur auf dieser gegenseitigen Achtung des Rechts und der Gleichberechtigung beruhen. Wenn man vergessen haben sollte, daß auch das Zusammenleben der Völker von sittlichen Normen bestimmt sein muß, dann wäre es wohl an der Zeit, sich darauf wieder zu besinnen und nach dieser Erkenntnis zu handeln.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Es scheint mir darüber hinaus ein Fortschritt zu sein, daß sowohl die Notstandsklausel wie der häufig diskutierte Art. 7 Abs. 3 des Deutschland-Vertrages nicht wiederkehren. Der Herr Kollege Ollenhauer konnte nicht umhin, die Befriedigung auszudrücken, daß die Notstandsklausel nicht mehr enthalten ist. Aber was müssen sich für böse Gedanken in seinem Gehirn bewegen, wenn er sogleich der Bundesregierung unterstellt, sie wolle den fehlenden Notstandsparagraphen durch eine noch schlimmere Bestimmung ersetzen.

    (Abg. Arnholz: Er hat gefragt! Das ist ein Unterschied!)

    Heben Sie doch Ihre Sorgen für den richtigen Zeitpunkt auf und belasten Sie sich nicht schon mit Sorgen um die Zukunft.

    (Abg. Heiland: Das geht uns ja nichts an, was?!)

    — Doch, wenn es so weit ist!

    (Abg. Heiland: Sie sind die Mehrheit, was? ! — Abg. Arnholz: Wenn es dem Kanzler paßt!)

    — Meine Damen und Herren, nicht, wenn es dem Kanzler paßt, sondern wenn es dem Deutschen Bundestag paßt;

    (Abg. Erler: Und so lange bleibt die Notstandsklausel!)

    das ist nun einmal das verfassungsmäßige Organ
    für die Gesetzgebung, ob Sie es wollen oder nicht.

    (Abg. Arnholz: Dann richten Sie sich auch danach! Sie handeln nicht danach!)

    Auch in dieser Formulierung über die Wiederherstellung der Gleichberechtigung kommt zum Ausdruck, daß seit Abschluß des Deutschland-Vertrages die Dinge sich gewandelt haben, ebenso aber auch, daß das Vertrauen zum deutschen Volk als einem verlässigen und glaubwürdigen Partner sich in einer wirklich erfreulichen Weise gesteigert hat. Und auch das scheint mir, wenn ich mir diese Einschiebung gestatten darf, gerade kein überzeugender Beweis dafür, daß die bisherige Außenpolitik Deutschlands unrichtig gewesen sei.
    Der Hinweis auf Art. 7 des Deutschland-Vertrages führt zwangsläufig zur Behandlung des Problems der Wiedervereinigung unseres deutschen Vaterlandes. Sämtliche vertragschließenden Mächte haben im Londoner Abkommen feierlich erklärt, daß die Schaffung eines völlig freien und vereinigten Deutschlands durch friedliche Mittel ein grundsätzliches Ziel ihrer Politik bleibt.

    (Beifall in der Mitte und rechts.)

    Sie haben gleichzeitig die ausdrückliche Garantie für die Stadt Berlin wiederholt.
    Die Diskussion um die Einberufung einer ViererKonferenz — Herr Kollege Ollenhauer hat ja diese Forderung heute wiederholt — hat erneut die Frage der Wiedervereinigung in den Mittelpunkt gestellt. Das konnte nicht ausbleiben, und ich glaube, es ist auch gut so; denn das deutsche Volk kann die Welt nicht oft genug darauf ansprechen, daß die willkürliche Zerreißung Deutschlands eine politische und seelische Belastung darstellt, die von Tag zu Tag unerträglicher wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Jedes Volk hat das unbestreitbare und originäre Recht, seine eigene Ordnung im Zusammenwirken aller Kräfte des Volkes zu gestalten. Bis zur Stunde wird dieses Recht dem deutschen Volk noch vorenthalten.
    Bundesregierung und Bundestag waren sich zu jeder Stunde darüber einig, daß die Wiedervereinigung ein unverzichtbares Anliegen des deutschen Volkes und ein unverrückbares Ziel der Außenpolitik sein und bleiben muß. Wenn wir diese Forderung unausgesetzt wiederholen, dann nicht nur, weil wir an die Millionen von Menschen denken, die durch Zwang daran gehindert werden, mit uns am friedlichen Wiederaufbau unseres Vaterlandes zu arbeiten, sondern ebenso, weil dieser Unrechtstatbestand den Spannungszustand in der Welt erhöht und jeden Menschen, der in der Freiheit lebt, veranlassen sollte, in den Bemühungen nicht nachzulassen, um der Erhaltung des Friedens willen diesen Millionen die Freiheit wiederzugeben.

    (Beifall in der Mitte und rechts.)

    Ich glaube keinen Widerspruch zu finden, wenn ich feststelle, daß es hier keine Meinungsverschiedenheiten zwischen Parteien und Fraktionen gibt, wenn wir Ziel und Aufgabe diskutieren. Es mag vielleicht Differenzen darüber geben, auf welchem Wege wir dieses Ziel erreichen. Diese Differenzen wurden sichtbar, als die Opposition nach der Entscheidung der Pariser Kammer die unverzügliche Einberufung einer Vier-MächteKonferenz forderte, während w i r den Zeitpunkt für eine solche Konferenz für denkbar unglücklich hielten. Ich bin auch heute noch unverändert der Überzeugung, daß eine in sich gespaltene freie Welt uns nicht, zum mindesten nicht mit den gleichen Erfolgsaussichten, in unseren Bemühungen unterstützen könnte. Wenn der Vertrag von London Gestalt angenommen hat, dann werden wir unsere Forderung gemeinsam mit denen, die sie nunmehr erneut als Ziel ihrer eigenen Politik bestätigt haben, mit mehr Aussichten auf Erfolg vertreten können.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Niemand von uns hat doch wohl die Berliner Konferenz vergessen. Den vereinten ernstlichen und wirklich redlichen Bemühungen der Außenminister der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs ist es in dieser Konferenz noch nicht einmal gelungen, von dem vierten Partner, der Sowjetunion, auch nur eine Erklärung zu erhalten, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen er bereit sein könnte, der Wieder-


    (Dr. von Brentano)

    vereinigung eines freien Deutschlands zuzustimmen.
    Wenn ich Herrn Kollegen Ollenhauer recht verstand, glaubt er, in der heute nacht durch Radio und heute morgen in einigen Zeitungen verbreiteten Erklärung des russischen Außenministers Molotow über die Frage der Wiedervereinigung doch einen verheißungsvollen Ansatz zu sehen. Soweit ich diese Erklärung hörte und las,

    (Abg. Ollenhauer: Sehr vorsichtig!)

    — soweit ich diese Erklärung hörte und las; ich drücke mich auch sehr vorsichtig aus — enthält sie nichts, was auch nur um Millimeterbreite über das hinausginge, was man in Berlin sagte.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Wenn man sagt „freie Wahlen", ohne das Wort „frei" zu definieren, dann denkt man wohl an die Definition der Freiheit, die in Berlin diskutiert worden ist und die uns nicht zu befriedigen vermag. Und wenn man im gleichen Atemzug sagt: „Freie Wahlen und gleichzeitiger Abzug aller Besatzungstruppen" — meine Damen und Herren, ich glaube, ein solcher Vorschlag ist wirklich nicht wert, ernstlich diskutiert zu werden;

    (Zustimmung bei der CDU/CSU und beim GB/BHE)

    denn man spürt doch hier die Absicht und wird mit Recht verstimmt.
    Meine Damen und Herren! Selbstverständlich ist es die Aufgabe der Bundesregierung — der Bundeskanzler hat es vorgestern gesagt, und ich unterstreiche es —, zu jedem Zeitpunkt die Frage der Wiedervereinigung anzusprechen, zu jedem Zeitpunkt die Bemühungen fortzusetzen, zu einer Viererkonferenz zu gelangen, von der wir alle wissen, daß sie ja die einzige Möglichkeit ist, dieses Problem zu lösen. Aber an dem Ende der Bemühungen muß ein freies Deutschland stehen.
    Ich möchte mich hier auch mit Äußerungen beschäftigen, die in jüngster Zeit gefallen sind und denen ich mit Nachdruck und Schärfe entgegentreten muß. In voller Einmütigkeit hat der Bundestag wiederholt erklärt, daß freie Wahlen eine unabdingbare Voraussetzung der Wiedervereinigung sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU und beim GB/BHE.)

    Wer bereit ist, auch unfreie Wahlen zu akzeptieren, unterschreibt einen Blankowechsel, den die sowjetzonalen Machthaber auf Kosten des ganzen deutschen Volkes einlösen würden,

    (Beifall bei der CDU/CSU — Abg. Erler: Wer ist denn das?)

    und er begeht ein Unrecht an den 18 Millionen Menschen, die mit uns in der Forderung einig sind, frei ihre politische Meinung zu bilden und frei ihre politische Meinung zu äußern.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Erler: Wen meinen Sie, Herr von Brentano?)

    — Herr Kollege Erler, nicht Sie und Ihre Freunde.
    Die Freiheit ist unteilbar. Wollte man sie nur einem Teil des deutschen Volkes geben, dann brauchten wir uns nicht ernstlich um die Wiedervereinigung zu bemühen.

    (Sehr gut! rechts.)

    Oder glaubt wirklich jemand, daß wir den Aufbau einer friedlichen und freiheitlichen Ordnung gemeinsam mit solchen Menschen durchführen könnten, die ihr Mandat und ihre Legitimation aus Zwang und Terror herleiten?
    Das soll nicht besagen, daß wir etwa ängstlich wären, wenn freie Wahlen auch einer Handvoll Kommunisten den Einzug in ein gesamtdeutsches Parlament ermöglichen würden. Uns mit ihnen auseinanderzusetzen und den letzten ihrer Wähler von seinem politischen Irrtum zu überzeugen, würde uns sicherlich nicht schwerer fallen als in den vergangenen Jahren der Bundesrepublik.
    Herr Kollege Ollenhauer sagte, als er den Londoner Pakt und insbesondere den Brüsseler Pakt behandelte, der Wiedervereinigung stünde jede aktive Beteiligung Deutschlands an Vereinbarungen dieser Art entgegen, solange nicht vorher die letzte Verhandlungsmöglichkeit ausgenützt sei; wir dürften also einem militärischen Sicherheitssystem nur unter der Voraussetzung beitreten, daß die Verhandlungen der Viererkonferenz endgültig gescheitert seien. Meine Damen und Herren, hier ist allerdings eine Meinungsverschiedenheit, die so tiefgehend ist, daß ich glaube, allein an dieser Fragestellung müßte jedes Bemühen um eine gemeinsame Außenpolitik scheitern.

    (Zustimmung in der Mitte und rechts.)

    Ich bedaure das, meine Damen und Herren, aber ich halte es für vollkommen undenkbar, nun in Viererverhandlungen einzutreten und alle Entscheidungen, von deren Beantwortung Leben und Tod von uns und anderen abhängen, hinauszuschieben und den Zeitpunkt, zu dem, und die Frage, wie sie fallen sollen, in das diskretionäre Ermessen des Herrn Malenkow zu stellen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wer entscheidet denn, wann diese Verhandlungen endgültig gescheitert sind, und wer sagt Ihnen, meine Damen und Herren, wie lange die anderen auf uns warten wollen? Wer sagt Ihnen, daß sich die anderen dieser Prozedur auch unterziehen wollen?

    (Abg. Dr. Mommer: Mendès-France hat doch mehr Phantasie!)

    Ich darf hier noch einmal den von Ihnen zitierten belgischen Außenminister Spaak nennen, der nahezu wörtlich vor zehn Tagen in Straßburg in seiner, ich glaube sagen zu können: historischen Rede erklärte:
    Wer heute bereit ist, auf ein militärisches Sicherheitssystem zu. verzichten um den Preis eines politischen Akkords mit der Sowjetunion, ist in meinen Augen ein Narr oder ein Verbrecher.

    (Hört! Hört! und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, diese Auffassung, die Herr Spaak mit so eindringlicher Schärfe vorgetragen hat, entspricht im Grundsatz auch der meinen und der meiner Freunde, daß es nämlich unerträglich ist, alle Entscheidungen hinauszuschieben und damit auch das Vertrauen derer zu verscherzen, um deren Vertrauen wir uns jahrelang und mit Erfolg bemüht haben, um nun abzuwarten, ob und wann es der sowjetrussischen Regierung gefällt, ernste Verhandlungen aufzunehmen und ernst zu nehmende Vorschläge zu machen.

    (Abg. Dr. Mommer: Herr von Brentano, gibt es nicht Termine? Hat nicht Mendès-France gesagt: Bis zum 20. Juli muß eine Vereinbarung da sein, sonst geschieht was anderes?)



    (Dr. von Brentano)

    — Es gibt Termine, meine Damen und Herren; das erkenne ich völlig an. Es gibt aber Termine, die sich einfach durch Zeitablauf setzen. Wir haben nunmehr einige Jahre auf dieses Entgegenkommen, auf diese Verständigungsbereitschaft der Sowjetunion gewartet. Da scheint es mir doch müßig zu sein, nun zu sagen: Setzen wir dem Kreml noch einen Termin von drei Monaten! Ich glaube, das würde nur ein höfliches Lächeln auslösen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Es ist dann auch das Problem der Saar behandelt worden, und ich halte es für nötig, ein Wort dazu zu sagen. Ich habe in der Erwiderung auf die Regierungserklärung am 28. Oktober 1953 hierzu einiges gesagt und möchte das Wesentliche kurz wiederholen. Ich habe damals erklärt:
    Wir wissen natürlich, daß im Laufe der letzten Jahre im Saargebiet Tatsachen geschaffen wurden, die wir in ihrer faktischen Bedeutung auch dann nicht leugnen können, wenn wir sie bedauern. Niemand erwartet oder verlangt aber doch von uns, daß die Lösung des so bedeutungsvollen Problems etwa darin bestehen sollte, daß wir uns der empirischen Kraft des Faktischen beugen und die Rechtsgültigkeit dessen anerkennen, was ohne unsere Mitwirkung geschehen ist. Dazu bedürfte es doch keiner Verhandlungen! Und es ist auch wahrhaftig kein Ausdruck einer mangelnden Verständigungsbereitschaft, wenn wir daran erinnern, daß das Saargebiet innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 liegt, wenn wir aussprechen, was alle Welt weiß, daß die Einwohner des Saargebiets Deutsche sind, und wenn wir darauf hinweisen, daß die Praxis der Behörden im Saargebiet unserer Überzeugung nach nicht mit Art. 10 der Konvention über die Menschenrechte in Einklang steht und daß wir darum eine freie Willensentscheidung des Volkes an der Saar erwarten, damit dieses Volk dann mit Frankreich und mit uns über diese Frage entscheiden kann, von deren Beantwortung doch unser gemeinsames Schicksal abhängt.
    Meine Damen und Herren! Ich wiederhole diese Erklärung gerade jetzt, wo vielleicht neue Gespräche mit der französischen Regierung notwendig werden. Der Gedanke, etwa eine Lösung im Sinne des Planes des holländischen Abgeordneten van der Goes van Naters in der in Straßburg entwickelten Form zu finden, muß der Vergangenheit angehören oder muß in die Zukunft verlegt werden; denn die Voraussetzung für eine, wie wir glaubten, echte europäische Lösung ist ja weggefallen und wird erst dann wieder entstehen, wenn im Zuge der von mir erhofften und erwünschten Entwicklung auch die europäische Integration in neuen Formen sich verwirklichen läßt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Im übrigen sagt das Londoner Protokoll ausdrücklich, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zum Abschluß einer friedensvertraglichen Regelung für Gesamtdeutschland zurückgestellt werden muß. Diese Erklärung stimmt ja auch überein mit dem Briefwechsel zwischen der französischen und der deutschen Regierung anläßlich der Unterzeichnung des Vertrags über die Montan-Union, so daß hierzu kein Kommentar mehr nötig ist.
    Das schließt nicht aus, daß wir uns bemühen sollten, das Problem der Saar in freundschaftlichem und aufrichtigem Gespräch zu diskutieren und wenigstens eine vorläufige gute Regelung anzustreben. Die uneingeschränkte Einräumung der staatsbürgerlichen Freiheitsrechte für die Deutschen an der Saar wäre ein hoffnungsvoller Ausgangspunkt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die wirtschaftlichen Interessen und Bindungen Frankreichs an der Saar zu respektieren und zu garantieren, wird, so glaube ich, Deutschland sicherlich jederzeit bereit sein. Selbstverständlich sollten wir bei allen solchen Erwägungen Rücksicht nehmen auf die Wünsche und auf die Vorschläge der deutschen Bevölkerung an der Saar, über deren Kopf hinweg zu entscheiden auch nicht demokratisch wäre.
    In dem zweiten Teil des Vertragswerks sehe ich im Gegensatz zu dem Herrn Kollegen Ollenhauer einen guten Ansatzpunkt dafür, das System einer weitgespannten europäischen Sicherheit zu errichten. Die Anwendung des Brüsseler Pakts bedeutet die Einbeziehung des Vereinigten Königreichs, und das hat auch Herr Kollege Ollenhauer begrüßt. Es war immer der Wunsch aller Vertragspartner der Verteidigungsgemeinschaft, andere europäische Staaten und an der Spitze England in diese Gemeinschaft einzubeziehen. Die engste Form der Assoziierung schien uns die wünschenswerteste und die volle Mitwirkung an 'der Integration das äußerste Ziel. Ich stehe nicht an, die Entscheidung der englischen Regierung auf das wärmste zu begrüßen und der englischen Regierung zu danken, daß sie durch ihre aktive Teilnahme an der Organisation des Brüsseler Pakts einen, wie ich glaube, entscheidenden Beitrag zum Erfolg der Londoner Konferenz geleistet hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten des GB/BHE.)

    Im übrigen aber scheint mir der Brüsseler Pakt, so wie er nunmehr in London ergänzt worden ist, auch echte und ausbaufähige Ansätze für eine Weiterentwicklung zu bieten. Die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf den bisher nur als Konsultativrat tätigen Ausschuß der Regierungen kann im Rahmen des Brüsseler Pakts einem echten Exekutivorgan zur Entstehung verhelfen. Die Vorschrift, daß der Brüsseler Rat den Delegierten der Brüsseler Vertragsmächte bei der Beratenden Versammlung des Europarats einen Jahresbericht über seine Tätigkeit im Hinblick auf die Rüstungskontrolle erstatten soll, halte ich ebenfalls für glücklich. Sie wird der Beratenden Versammlung des Europarates eine neue, zusätzliche Bedeutung verleihen, und die Unterversammlung der Delegierten des Brüsseler Pakts kann durch ihre Tätigkeit selbst in die Aufgaben eines echten parlamentarischen Kontrollorgans hineinwachsen.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Diese Berichterstattung gegenüber dem Europarat gilt ja auch für die Montan-Union. Sie war für die Verteidigungsgemeinschaft ebenso wie im Statut über die Politische Gemeinschaft vorgesehen. Darüber hinaus wird der Brüsseler Pakt auch die Möglichkeit geben, daß andere Staaten ihren Beitritt erklären; ich erinnere an die Äußerung des norwegischen Außenministers, die er vor einigen Tagen in New York gemacht hat. Jede solche Ausweitung ides Brüsseler Pakts wird unsere volle Zustimmung und unsere Unterstützung erfahren.


    (Dr. von Brentano)

    Aber wie ich schon sagte und wie ich auch wiederholen möchte, werden wir alle Anstrengungen unternehmen, um auf den gegebenen Ansatzpunkten die Politik der Integration fortzuführen. Man sollte nicht meinen, daß das der Ausdruck einer Rechthaberei sei; sie wäre fehl am Platze. Aber ich möchte daran erinnern, daß die politischen Ziele, die in der Montan-Union im ersten Ansatz verwirklicht worden sind und die in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft fortschreitend verwirklicht werden sollten, tatsächlich unverändert geblieben sind. Es kam uns doch nicht in erster Linie darauf an, im Rahmen der Montan-Union die Produktion von Kohle und Stahl zusammenzuführen, und es kann nicht oft genug vor der deutschen und vor der Weltöffentlichkeit gesagt werden, daß das politische Ziel der europäischen Verteidigungsgemeinschaft ein größeres und bedeutungsvolleres war als der Beitrag deutscher Divisionen zu der leider notwendigen Verteidigung.

    (Beifall in der Mitte.)

    Das scheint mir hier ganz klar gesagt werden zu müssen. Denn ich habe zwei Äußerungen des Herrn Kollegen Ollenhauer auf das tiefste bedauert. Er hat davon gesprochen, daß für weite Kreise des deutschen Volkes die Aussichten auf die Rüstungskonjunktur ihre Zustimmung zur Politik bedingen würden.

    (Zurufe von der Mitte: Unerhört! — Weitere Zurufe von der Mitte.)

    Meine Damen und Herren, daß es irgendwelche charakterlosen Lumpen dort und dort und dort gibt, wissen wir alle. Aber wir sollten sie nicht hier nennen und im Ausland den Eindruck erwecken, als stellten sie die Mehrheit des deutschen Volkes dar.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der SPD: Wer hat das gesagt?)

    Und noch mehr, meine Damen und Herren, —

    (Abg. Erler: Darf ich eine Frage an den Sprecher richten?)