Rede von
Dr.
Heinrich
von
Brentano
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat vorgestern von diesem Platze aus dem Deutschen Bundestag einen ersten zusammenfassenden Bericht über das Ergebnis der Londoner Neun-Mächte-Konferenz unterbreitet. Gleichzeitig wurde die Londoner Akte im Wortlaut veröffentlicht. In dieser Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler auf die Ereignisse hingewiesen, die zur Einberufung der Neun-Mächte-Konferenz geführt haben. Es scheint mir gut und notwendig zu sein, diese Darstellung in der heutigen Debatte noch um weniges zu ergänzen.
Der letzte und unmittelbare Anlaß zur Einberufung der Konferenz war die Entscheidung des französischen Parlaments vom 30. August, das mit Mehrheit die Ratifizierung der Verträge von Bonn und Paris abgelehnt hat. Es ist nicht die Aufgabe des deutschen Parlaments, zu dieser Entscheidung kritisch Stellung zu nehmen; denn ein jedes Parlament ist in seinen Entscheidungen frei, und wir haben sie als politische Realitäten zu respektieren. Sicherlich ist es uns aber nicht verwehrt, von der Enttäuschung zu sprechen, die der Parlamentsbeschluß von Paris bei all jenen auslösen mußte, die die Initiative der französischen Regierung und des französischen Parlaments seinerzeit bereitwillig aufgenommen hatten.
Die Diskussion über die Verträge begann ursprünglich mit dem Entschließungsantrag des heutigen Premierministers Sir Winston Churchill vom 11. August 1950 in der Beratenden Versammlung des Europarats. Dieser Entschließungsantrag wurde von dem französischen Ministerpräsidenten Pleven aufgenommen, der am 24. Oktober 1950 seinen Gedanken über die Schaffung einer europäischen Armee vortrug, einen Gedanken, der von der französischen Nationalversammlung seinerzeit mit überwältigender Mehrheit gutgeheißen wurde. Die Verhandlungen führten dann zur Unterzeichnung der Verträge, und sie führten zu den Ratifizierungsverhandlungen. Sie wissen, daß Belgien, Luxemburg, Holland und die Bundesrepublik die Verträge mit Mehrheiten bis zu vier Fünfteln der Stimmen ratifiziert haben und Italien die Ratifizierung beabsichtigte.
Meine Damen und Herren, man wird vielleicht fragen, warum ich auf diese Dinge eingehe. Aber das scheint mir nötig — auch jetzt nach der Darstellung des Herrn Kollegen Ollenhauer —, um der objektiv unrichtigen Behauptung entgegenzutreten, mit der Entscheidung von Paris habe sich die deutsche Außenpolitik als unrichtig erwiesen und sei gescheitert.
Richtig daran ist nur, daß die Ratifizierung der beiden Verträge durch einen Vertragspartner abgelehnt wurde.
— Bei Sechsen ist immer einer entscheidend, weil die Ratifizierung von der Zustimmung aller abhängt. Das ist eine Binsenweisheit, die ich bereits vor Ihnen wußte. Ich glaube aber nicht, daß die Feststellung genügt, die Außenpolitik sei gescheitert, um nun die politische Zielsetzung als unrichtig zu bezeichnen. Denn wer das tut, müßte doch der Vollständigkeit halber hinzufügen, daß dann auch die Außenpolitik Belgiens, Hollands, Luxemburgs, Italiens, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs falsch gewesen sei. Meine Damen und Herren, wenn Sie das behaupten, meine ich doch, daß wir uns in einer guten Gesellschaft befinden.
Ich bedauere, auch feststellen zu müssen, daß diese Behauptung, die deutsche Außenpolitik sei gescheitert, mit dieser Lautstärke und mit dieser
Befriedigung eigentlich nur noch in den Oststaaten aufgestellt worden ist.
Es scheint mir darum auch notwendig und richtig, heute von dieser Stelle aus zu erklären, daß auch die ablehnende Entscheidung der französischen Kammer uns nicht veranlassen kann, unsere Zielsetzung zu überprüfen, wohl aber veranlassen muß, andere Wege zu suchen, auf denen das gemeinsame Ziel verwirklicht werden kann.
Ich sage — auf die Gefahr hin, Widerspruch bei Ihnen zu hören, meine Damen und Herren von der Opposition —: das gemeinsame Ziel, und ich nehme hierfür Bezug auf das gemeinsame Schlußkommuniqué, das die Regierungen der sechs Länder bei Abschluß der Brüsseler Konferenz am 22. August veröffentlicht haben. Ich kann ebenso Bezug nehmen auf den Vorspruch und den Inhalt der Londoner Akte, wie sie am 3. Oktober unterzeichnet wurde.
Ich habe es darum auch begrüßt, daß der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung eindringlich betont hat, daß die Bundesregierung bereit und entschlossen sei, auch in Zukunft die Grundlinien der bisherigen Außenpolitik zu vertreten. Die Bundesregierung befindet sich dabei in Übereinstimmung mit der erdrückenden Mehrheit des Deutschen Bundestages, dessen Entschließung vom 26. Juli 1950, die auch Ihre Zustimmung gefunden hatte, meine Damen und Herren von der Opposition, heute noch volle Gültigkeit besitzt.
Ich drücke darum auch den Wunsch aus, die Bundesregierung möge in Zukunft nichts unversucht lassen, um die Politik der echten europäischen Integration auf allen dazu geeigneten Gebieten und mit jedem dazu bereiten Partner und in jeglicher sich hierfür anbietenden Form weiterzuführen.
Um einen Irrtum richtigzustellen, der aus den Worten unseres Kollegen Ollenhauer klang, möchte ich hier folgendes sagen: Es ist mir nicht erinnerlich, daß irgendwann einmal von, dieser Stelle von der Regierung oder von der Mehrheit des Hauses gesagt worden sei, die Integrationsnolitik, wie sie in dem Vertrag über die Montan-Union, in dem Vertrag über die Verteidigungsgemeinschaft und in dem geplanten Vertrag über die Europäische Politische Gemeinschaft ihren Niederschlag fand, sei der einzig mögliche Weg der europäischen Koordination.
— Meine Damen und Herren. es ist gesagt worden — und das wiederhole ich auch heute —: es ist der beste Weg;
und wir bedauern, daß wir heute gezwungen sind, einen anderen zu gehen.,
Wenn die Bundesregierung an dieser Politik festhält, dann folgt sie damit nicht nur dem Auftrag des Bundestags, nein, sie erfüllt auch die verfassungsmäßige Pflicht, wie sie sich aus der Präambel und aus dem Art. 24 des Grundgesetzes ergibt, die für den Bundestag und für die Bundesregierung verpflichtend sind.
Ich wiederhole darum auch die Erklärung der Bereitschaft, im Zuge der kommenden politischen Entwicklung ungeachtet der in einem Zwischenstadium geschaffenen Formen der politischen Kooperation auf Souveränitätsrechte zu verzichten und sie in eine echte europäische Gemeinschaft zum gleichen Zeitpunkt und im gleichen Umfang einzubringen, wie sich die andern an diesen Entscheidungen beteiligen werden.
Meine Damen und Herren, ich habe hier zu meiner Überraschung gehört, daß der Herr Kollege Ollenhauer die mangelnde Initiative zu einer europäischen Verständigung beklagt und auf das Beispiel der skandinavischen Staaten verwiesen hat. Er hat gefragt: Warum haben wir nicht Gleiches getan, warum haben wir nicht versucht, wenigstens in der Form dieses skandinavischen Staatenbündnisses die Frage der Freizügigkeit und ähnliche zu lösen? Meine Damen und Herren, ist es zu begreifen, daß dies von dem Vertreter der Partei gesagt wird, die sogar dem Eintritt in den Europarat nicht zugestimmt hat?!
Ich weiß nicht, wie und wo wir diese Verhandlungen nach dem Wunsche des Herrn Kollegen Ollenhauer hätten führen sollen, wenn wir in der selbstgewählten Isolierung geblieben wären, die bis zur Stunde seinen Vorschlägen entspricht.
Die Entscheidung des französischen Parlaments, von der ich sprach, hat zunächst die Verwirklichung einer konkreten Form der politischen Zusammenarbeit, wie sie im Pariser Vertrag vorgesehen war, verhindert. Man kann aber diese Tatsache sicherlich nicht isoliert sehen. Die politischen und psychologischen Reaktionen, die sie überall in der Welt auslösen mußte, waren — und ich unterstreiche hier ganz besonders die Darlegungen in der Regierungserklärung — geeignet, Europa und die freie Welt in ihrer Existenz zu gefährden. Im deutschen Volk mußte der Ausschlag besonders heftig sein. Das ergibt sich aus der besonderen geographischen und politischen Lage unseres Vaterlandes, das vielleicht mehr als jedes andere Volk ein vitales Interesse daran hat, in ein echtes Sicherheitssystem eingebaut zu sein. Die besondere Lage Deutschlands im Zentrum eines politischen Spannungsfeldes läßt diesen Wunsch begreiflich erscheinen. Man konnte Reaktionen spüren, und es scheint mir gut, darüber zu sprechen. Auf der einen Seite hörte man Stimmen, die wir nicht gerne vernehmen: man spürte, daß einzelne schon wieder den Blick in die Vergangenheit wendeten und glaubten, daß das Heil Deutschlands in der Pflege eines neuen Nationalismus liegen könnte. Andere flüchteten in den Neutralismus und meinten, daß nach der Absage, die aus dem Westen gekommen sei, der Versuch unternommen werden müßte, das Gesicht nun nach dem Osten zu kehren. In beiden Fällen — ich glaube, das sagen zu können — waren das nicht einmal immer die schlechtesten, die etwa solches ausdrückten. Es waren oft die dumpfe Angst vor
einer Isolierung und zuweilen auch die Flucht in eine gefährliche Resignation, die sich in solchen Äußerungen kundtaten.
Aber nicht nur in Deutschland und nicht nur in Europa wurden solche Reaktionen erkennbar. Auch in anderen Ländern, nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten, mußte diese Entwicklung enttäuschen, weil sie diejenigen zu rechtfertigen schien, die schon seit einiger Zeit den Standpunkt vertreten, daß die europäischen Völker nicht mehr die Kraft zur Selbstbehauptung und zur Selbsterhaltung aufbringen. Wir alle wissen es — und wir müssen es darum auch aussprechen —, daß eine Entscheidung, durch die die Vereinigten Staaten sich von Europa zurückzögen, eine politische Katastrophe ohnegleichen einleiten würde. Ich glaube, hierüber besteht auch in diesem Hause keine Meinungsverschiedenheit. Ich erinnere an die sehr eindringlichen und überzeugenden Ausführungen des belgischen Außenministers Paul Henri Spaak in der Beratenden Versammlung des Europarats, der mit tiefem Ernst vor einer solchen Entwicklung gewarnt hat. Der Herr Kollege Ollenhauer hat Herrn Spaak zitiert. Ich ergänze gern das Zitat, weil ich den Eindruck habe, daß Herr Kollege Ollenhauer die wesentliche Stelle, die er zitieren wollte, überlesen hat.
Herr Spaak hat zwar gesagt, er habe nicht den Eindruck, daß nun morgen oder übermorgen ein Angriffskrieg von Rußland drohe. Das hat er in der Auseinandersetzung mit denen gesagt — er hat sie angesprochen —, die etwa die Meinung vertreten: Rußland hat ja bis heute gewartet, und deswegen brauchen wir gar nichts zu tun; es wird immer warten, solange es uns paßt. Herr Spaak hat aber wörtlich hinzugefügt: „Ich begreife nicht, daß es politisch verantwortliche Menschen gibt, die jetzt und in dieser Stunde Verhandlungen mit der Sowjetunion aufnehmen wollen."
Das ist ein Wortzitat, das Ihnen vielleicht weniger sympathisch ist; aber der Wahrheit die Ehre!
Meine Damen und Herren, wir sollten uns aber auch gerade im Verhältnis zu den anderen Staaten und nicht zuletzt zu den Vereinigten Staaten von der primitiven Vorstellung frei machen, als könnten wir uns jede Untätigkeit und jede Torheit erlauben und in die Resignation des Nichtstuns versinken in der angenehmen Hoffnung, daß die Vereinigten Staaten uns den Glauben an unsere Zukunft abnehmen und daß sie an unserer Stelle handeln, wenn wir untätig bleiben.
Man hat hier auch schon einmal davon gesprochen, daß man den Siegern den Mühlstein der Verantwortung um den Hals legen wollte. Meine Damen und Herren, der Mühlstein der Verantwortung liegt um unseren Hals!
Dieser gefährlichen Ungewißheit und Unsicherheit hat die Londoner Konferenz ein Ende bereitet. Es erscheint auch mir zu früh — darin stimme ich Herrn Kollegen Ollenhauer zu —, heute schon das Ergebnis der Londoner Konferenz in allen Einzelheiten zu diskutieren und abschließend dazu Stellung zu nehmen. Es liegt ein vollständiger und zusammenfassender Entwurf vor, aber wir wissen, daß in den nächsten Tagen noch die Beauftragten der beteiligten Regierungen damit beschäftigt sein werden, den Text zu ergänzen und entsprechend den ihnen erteilten politischen Richtlinien zusätzliche oder erläuternde Vereinbarungen auszuarbeiten. Es kann sich daher heute nur darum handeln, zu dem Vertragswerk, wie es zur Stunde vorliegt, erstmals Stellung zu nehmen und durch Frage und vielleicht Kritik seine Ergänzung zu fördern.
Aus den Äußerungen des Herrn Kollegen Ollenhauer klang eine Enttäuschung darüber, daß die Bundesregierung aus London doch nicht alles mitgebracht habe, was er und seine Freunde erwarteten. Aber wenn ich das Ganze höre, was Herr Kollege Ollenhauer gesagt hat, dann habe ich den Eindruck, daß er offenbar doch zuviel verlangt. Er erwartet, so scheint es mir, daß Rußland der Wiedervereinigung zustimmt. Er erwartet, daß Frankreich auf seine beanspruchten, angemaßten Rechte an der Saar verzichtet. Er erwartet, daß die Vereinigten Staaten weiterhin die finanzielle Hilfe leisten und daß im übrigen die freie Welt uns verteidigt. Meine Damen und Herren, das alles erwarten wir auch. Aber ich glaube, wir können es nicht ernstlich erwarten, wenn wir nicht bereit sind, daran mitzuwirken.
Ich habe schon eingangs gesagt, daß die Genugtuung über den erfolgreichen Abschluß der Londoner Konferenz durch die Erkenntnis beeinträchtigt wird, daß wir zumindest vorläufig auf eine echte europäische Integrationspolitik verzichten müssen, soweit sie nicht bereits Formen wie in der Montan-Union angenommen hat. Ich möchte hier betonen, daß der Pflege und dem Ausbau dieser ersten überstaatlichen Institution in Zukunft unser ganz besonderes Bemühen gelten soll.
Das, was uns heute vorgelegt wird, ist etwas anderes als das, was am Nein der französischen Kammer gescheitert ist. Darin stimme ich dem Herrn Kollegen Ollenhauer zu. Diese Tatsache zwingt uns, das Vertragswerk sorgfältig auf Inhalt und Wirkung zu prüfen.
Der erste Teil beschäftigt sich mit der völkerrechtlichen Stellung der Bundesrepublik. Schon mit dem Deutschland-Vertrag sollte der Zweck erreicht werden, das Besatzungsrecht abzulösen. Die Regierungserklärung vom 1. September 1954 spricht darum auch in knapper Weise von dem Wunsche nach der Wiederherstellung der Souveränität. Ich begrüße es, daß dieser Teil des Vertrags den Wunsch erfüllt, und begrüße ganz besonders die folgende Formulierung:
In der Überzeugung, daß Deutschland nicht länger der Rechte beraubt bleiben darf, wie sie einem freien und demokratischen Volk von Rechts wegen zustehen, und in dem Wunsche, die Bundesrepublik Deutschland als gleichberechtigten Partner mit den Bemühungen der übrigen Vertragschließenden um Frieden und Sicherheit zu assoziieren, . . .
Ich begrüße diese Fassung, weil darin das so häufig mißbrauchte Wort von der Souveränität nicht zu finden ist, wohl aber in einer überzeugenden und eindeutigen Weise der deutschen Bundesrepublik als gleichberechtigtem Partner die Rechte eines freien Volkes zuerkannt werden. Dies scheint mir
eine glückliche und gute Definition des völkerrechtlichen Status zu sein, wie er schlechthin zwischen freien Völkern bestehen sollte, die nicht mehr an den absoluten Wert des Souveränitätsbegriffs glauben. Auch der einzelne Mensch vermag sich in eine gemeinsame Ordnung nur einzufügen, wenn er auf die angebliche Souveränität des Individuums verzichtet und für sich nicht mehr, aber selbstverständlich auch nicht weniger an Rechten beansprucht, als er den Mitmenschen und der Gemeinschaft einzuräumen bereit ist. Eine sittlich gefestigte Ordnung kann nur auf dieser gegenseitigen Achtung des Rechts und der Gleichberechtigung beruhen. Wenn man vergessen haben sollte, daß auch das Zusammenleben der Völker von sittlichen Normen bestimmt sein muß, dann wäre es wohl an der Zeit, sich darauf wieder zu besinnen und nach dieser Erkenntnis zu handeln.
Es scheint mir darüber hinaus ein Fortschritt zu sein, daß sowohl die Notstandsklausel wie der häufig diskutierte Art. 7 Abs. 3 des Deutschland-Vertrages nicht wiederkehren. Der Herr Kollege Ollenhauer konnte nicht umhin, die Befriedigung auszudrücken, daß die Notstandsklausel nicht mehr enthalten ist. Aber was müssen sich für böse Gedanken in seinem Gehirn bewegen, wenn er sogleich der Bundesregierung unterstellt, sie wolle den fehlenden Notstandsparagraphen durch eine noch schlimmere Bestimmung ersetzen.
Heben Sie doch Ihre Sorgen für den richtigen Zeitpunkt auf und belasten Sie sich nicht schon mit Sorgen um die Zukunft.
— Doch, wenn es so weit ist!
— Meine Damen und Herren, nicht, wenn es dem Kanzler paßt, sondern wenn es dem Deutschen Bundestag paßt;
das ist nun einmal das verfassungsmäßige Organ
für die Gesetzgebung, ob Sie es wollen oder nicht.
Auch in dieser Formulierung über die Wiederherstellung der Gleichberechtigung kommt zum Ausdruck, daß seit Abschluß des Deutschland-Vertrages die Dinge sich gewandelt haben, ebenso aber auch, daß das Vertrauen zum deutschen Volk als einem verlässigen und glaubwürdigen Partner sich in einer wirklich erfreulichen Weise gesteigert hat. Und auch das scheint mir, wenn ich mir diese Einschiebung gestatten darf, gerade kein überzeugender Beweis dafür, daß die bisherige Außenpolitik Deutschlands unrichtig gewesen sei.
Der Hinweis auf Art. 7 des Deutschland-Vertrages führt zwangsläufig zur Behandlung des Problems der Wiedervereinigung unseres deutschen Vaterlandes. Sämtliche vertragschließenden Mächte haben im Londoner Abkommen feierlich erklärt, daß die Schaffung eines völlig freien und vereinigten Deutschlands durch friedliche Mittel ein grundsätzliches Ziel ihrer Politik bleibt.
Sie haben gleichzeitig die ausdrückliche Garantie für die Stadt Berlin wiederholt.
Die Diskussion um die Einberufung einer ViererKonferenz — Herr Kollege Ollenhauer hat ja diese Forderung heute wiederholt — hat erneut die Frage der Wiedervereinigung in den Mittelpunkt gestellt. Das konnte nicht ausbleiben, und ich glaube, es ist auch gut so; denn das deutsche Volk kann die Welt nicht oft genug darauf ansprechen, daß die willkürliche Zerreißung Deutschlands eine politische und seelische Belastung darstellt, die von Tag zu Tag unerträglicher wird.
Jedes Volk hat das unbestreitbare und originäre Recht, seine eigene Ordnung im Zusammenwirken aller Kräfte des Volkes zu gestalten. Bis zur Stunde wird dieses Recht dem deutschen Volk noch vorenthalten.
Bundesregierung und Bundestag waren sich zu jeder Stunde darüber einig, daß die Wiedervereinigung ein unverzichtbares Anliegen des deutschen Volkes und ein unverrückbares Ziel der Außenpolitik sein und bleiben muß. Wenn wir diese Forderung unausgesetzt wiederholen, dann nicht nur, weil wir an die Millionen von Menschen denken, die durch Zwang daran gehindert werden, mit uns am friedlichen Wiederaufbau unseres Vaterlandes zu arbeiten, sondern ebenso, weil dieser Unrechtstatbestand den Spannungszustand in der Welt erhöht und jeden Menschen, der in der Freiheit lebt, veranlassen sollte, in den Bemühungen nicht nachzulassen, um der Erhaltung des Friedens willen diesen Millionen die Freiheit wiederzugeben.
Ich glaube keinen Widerspruch zu finden, wenn ich feststelle, daß es hier keine Meinungsverschiedenheiten zwischen Parteien und Fraktionen gibt, wenn wir Ziel und Aufgabe diskutieren. Es mag vielleicht Differenzen darüber geben, auf welchem Wege wir dieses Ziel erreichen. Diese Differenzen wurden sichtbar, als die Opposition nach der Entscheidung der Pariser Kammer die unverzügliche Einberufung einer Vier-MächteKonferenz forderte, während w i r den Zeitpunkt für eine solche Konferenz für denkbar unglücklich hielten. Ich bin auch heute noch unverändert der Überzeugung, daß eine in sich gespaltene freie Welt uns nicht, zum mindesten nicht mit den gleichen Erfolgsaussichten, in unseren Bemühungen unterstützen könnte. Wenn der Vertrag von London Gestalt angenommen hat, dann werden wir unsere Forderung gemeinsam mit denen, die sie nunmehr erneut als Ziel ihrer eigenen Politik bestätigt haben, mit mehr Aussichten auf Erfolg vertreten können.
Niemand von uns hat doch wohl die Berliner Konferenz vergessen. Den vereinten ernstlichen und wirklich redlichen Bemühungen der Außenminister der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs ist es in dieser Konferenz noch nicht einmal gelungen, von dem vierten Partner, der Sowjetunion, auch nur eine Erklärung zu erhalten, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen er bereit sein könnte, der Wieder-
vereinigung eines freien Deutschlands zuzustimmen.
Wenn ich Herrn Kollegen Ollenhauer recht verstand, glaubt er, in der heute nacht durch Radio und heute morgen in einigen Zeitungen verbreiteten Erklärung des russischen Außenministers Molotow über die Frage der Wiedervereinigung doch einen verheißungsvollen Ansatz zu sehen. Soweit ich diese Erklärung hörte und las,
— soweit ich diese Erklärung hörte und las; ich drücke mich auch sehr vorsichtig aus — enthält sie nichts, was auch nur um Millimeterbreite über das hinausginge, was man in Berlin sagte.
Wenn man sagt „freie Wahlen", ohne das Wort „frei" zu definieren, dann denkt man wohl an die Definition der Freiheit, die in Berlin diskutiert worden ist und die uns nicht zu befriedigen vermag. Und wenn man im gleichen Atemzug sagt: „Freie Wahlen und gleichzeitiger Abzug aller Besatzungstruppen" — meine Damen und Herren, ich glaube, ein solcher Vorschlag ist wirklich nicht wert, ernstlich diskutiert zu werden;
denn man spürt doch hier die Absicht und wird mit Recht verstimmt.
Meine Damen und Herren! Selbstverständlich ist es die Aufgabe der Bundesregierung — der Bundeskanzler hat es vorgestern gesagt, und ich unterstreiche es —, zu jedem Zeitpunkt die Frage der Wiedervereinigung anzusprechen, zu jedem Zeitpunkt die Bemühungen fortzusetzen, zu einer Viererkonferenz zu gelangen, von der wir alle wissen, daß sie ja die einzige Möglichkeit ist, dieses Problem zu lösen. Aber an dem Ende der Bemühungen muß ein freies Deutschland stehen.
Ich möchte mich hier auch mit Äußerungen beschäftigen, die in jüngster Zeit gefallen sind und denen ich mit Nachdruck und Schärfe entgegentreten muß. In voller Einmütigkeit hat der Bundestag wiederholt erklärt, daß freie Wahlen eine unabdingbare Voraussetzung der Wiedervereinigung sind.
Wer bereit ist, auch unfreie Wahlen zu akzeptieren, unterschreibt einen Blankowechsel, den die sowjetzonalen Machthaber auf Kosten des ganzen deutschen Volkes einlösen würden,
und er begeht ein Unrecht an den 18 Millionen Menschen, die mit uns in der Forderung einig sind, frei ihre politische Meinung zu bilden und frei ihre politische Meinung zu äußern.
— Herr Kollege Erler, nicht Sie und Ihre Freunde.
Die Freiheit ist unteilbar. Wollte man sie nur einem Teil des deutschen Volkes geben, dann brauchten wir uns nicht ernstlich um die Wiedervereinigung zu bemühen.
Oder glaubt wirklich jemand, daß wir den Aufbau einer friedlichen und freiheitlichen Ordnung gemeinsam mit solchen Menschen durchführen könnten, die ihr Mandat und ihre Legitimation aus Zwang und Terror herleiten?
Das soll nicht besagen, daß wir etwa ängstlich wären, wenn freie Wahlen auch einer Handvoll Kommunisten den Einzug in ein gesamtdeutsches Parlament ermöglichen würden. Uns mit ihnen auseinanderzusetzen und den letzten ihrer Wähler von seinem politischen Irrtum zu überzeugen, würde uns sicherlich nicht schwerer fallen als in den vergangenen Jahren der Bundesrepublik.
Herr Kollege Ollenhauer sagte, als er den Londoner Pakt und insbesondere den Brüsseler Pakt behandelte, der Wiedervereinigung stünde jede aktive Beteiligung Deutschlands an Vereinbarungen dieser Art entgegen, solange nicht vorher die letzte Verhandlungsmöglichkeit ausgenützt sei; wir dürften also einem militärischen Sicherheitssystem nur unter der Voraussetzung beitreten, daß die Verhandlungen der Viererkonferenz endgültig gescheitert seien. Meine Damen und Herren, hier ist allerdings eine Meinungsverschiedenheit, die so tiefgehend ist, daß ich glaube, allein an dieser Fragestellung müßte jedes Bemühen um eine gemeinsame Außenpolitik scheitern.
Ich bedaure das, meine Damen und Herren, aber ich halte es für vollkommen undenkbar, nun in Viererverhandlungen einzutreten und alle Entscheidungen, von deren Beantwortung Leben und Tod von uns und anderen abhängen, hinauszuschieben und den Zeitpunkt, zu dem, und die Frage, wie sie fallen sollen, in das diskretionäre Ermessen des Herrn Malenkow zu stellen.
Wer entscheidet denn, wann diese Verhandlungen endgültig gescheitert sind, und wer sagt Ihnen, meine Damen und Herren, wie lange die anderen auf uns warten wollen? Wer sagt Ihnen, daß sich die anderen dieser Prozedur auch unterziehen wollen?
Ich darf hier noch einmal den von Ihnen zitierten belgischen Außenminister Spaak nennen, der nahezu wörtlich vor zehn Tagen in Straßburg in seiner, ich glaube sagen zu können: historischen Rede erklärte:
Wer heute bereit ist, auf ein militärisches Sicherheitssystem zu. verzichten um den Preis eines politischen Akkords mit der Sowjetunion, ist in meinen Augen ein Narr oder ein Verbrecher.
Meine Damen und Herren, diese Auffassung, die Herr Spaak mit so eindringlicher Schärfe vorgetragen hat, entspricht im Grundsatz auch der meinen und der meiner Freunde, daß es nämlich unerträglich ist, alle Entscheidungen hinauszuschieben und damit auch das Vertrauen derer zu verscherzen, um deren Vertrauen wir uns jahrelang und mit Erfolg bemüht haben, um nun abzuwarten, ob und wann es der sowjetrussischen Regierung gefällt, ernste Verhandlungen aufzunehmen und ernst zu nehmende Vorschläge zu machen.
— Es gibt Termine, meine Damen und Herren; das erkenne ich völlig an. Es gibt aber Termine, die sich einfach durch Zeitablauf setzen. Wir haben nunmehr einige Jahre auf dieses Entgegenkommen, auf diese Verständigungsbereitschaft der Sowjetunion gewartet. Da scheint es mir doch müßig zu sein, nun zu sagen: Setzen wir dem Kreml noch einen Termin von drei Monaten! Ich glaube, das würde nur ein höfliches Lächeln auslösen.
Es ist dann auch das Problem der Saar behandelt worden, und ich halte es für nötig, ein Wort dazu zu sagen. Ich habe in der Erwiderung auf die Regierungserklärung am 28. Oktober 1953 hierzu einiges gesagt und möchte das Wesentliche kurz wiederholen. Ich habe damals erklärt:
Wir wissen natürlich, daß im Laufe der letzten Jahre im Saargebiet Tatsachen geschaffen wurden, die wir in ihrer faktischen Bedeutung auch dann nicht leugnen können, wenn wir sie bedauern. Niemand erwartet oder verlangt aber doch von uns, daß die Lösung des so bedeutungsvollen Problems etwa darin bestehen sollte, daß wir uns der empirischen Kraft des Faktischen beugen und die Rechtsgültigkeit dessen anerkennen, was ohne unsere Mitwirkung geschehen ist. Dazu bedürfte es doch keiner Verhandlungen! Und es ist auch wahrhaftig kein Ausdruck einer mangelnden Verständigungsbereitschaft, wenn wir daran erinnern, daß das Saargebiet innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 liegt, wenn wir aussprechen, was alle Welt weiß, daß die Einwohner des Saargebiets Deutsche sind, und wenn wir darauf hinweisen, daß die Praxis der Behörden im Saargebiet unserer Überzeugung nach nicht mit Art. 10 der Konvention über die Menschenrechte in Einklang steht und daß wir darum eine freie Willensentscheidung des Volkes an der Saar erwarten, damit dieses Volk dann mit Frankreich und mit uns über diese Frage entscheiden kann, von deren Beantwortung doch unser gemeinsames Schicksal abhängt.
Meine Damen und Herren! Ich wiederhole diese Erklärung gerade jetzt, wo vielleicht neue Gespräche mit der französischen Regierung notwendig werden. Der Gedanke, etwa eine Lösung im Sinne des Planes des holländischen Abgeordneten van der Goes van Naters in der in Straßburg entwickelten Form zu finden, muß der Vergangenheit angehören oder muß in die Zukunft verlegt werden; denn die Voraussetzung für eine, wie wir glaubten, echte europäische Lösung ist ja weggefallen und wird erst dann wieder entstehen, wenn im Zuge der von mir erhofften und erwünschten Entwicklung auch die europäische Integration in neuen Formen sich verwirklichen läßt.
Im übrigen sagt das Londoner Protokoll ausdrücklich, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zum Abschluß einer friedensvertraglichen Regelung für Gesamtdeutschland zurückgestellt werden muß. Diese Erklärung stimmt ja auch überein mit dem Briefwechsel zwischen der französischen und der deutschen Regierung anläßlich der Unterzeichnung des Vertrags über die Montan-Union, so daß hierzu kein Kommentar mehr nötig ist.
Das schließt nicht aus, daß wir uns bemühen sollten, das Problem der Saar in freundschaftlichem und aufrichtigem Gespräch zu diskutieren und wenigstens eine vorläufige gute Regelung anzustreben. Die uneingeschränkte Einräumung der staatsbürgerlichen Freiheitsrechte für die Deutschen an der Saar wäre ein hoffnungsvoller Ausgangspunkt.
Die wirtschaftlichen Interessen und Bindungen Frankreichs an der Saar zu respektieren und zu garantieren, wird, so glaube ich, Deutschland sicherlich jederzeit bereit sein. Selbstverständlich sollten wir bei allen solchen Erwägungen Rücksicht nehmen auf die Wünsche und auf die Vorschläge der deutschen Bevölkerung an der Saar, über deren Kopf hinweg zu entscheiden auch nicht demokratisch wäre.
In dem zweiten Teil des Vertragswerks sehe ich im Gegensatz zu dem Herrn Kollegen Ollenhauer einen guten Ansatzpunkt dafür, das System einer weitgespannten europäischen Sicherheit zu errichten. Die Anwendung des Brüsseler Pakts bedeutet die Einbeziehung des Vereinigten Königreichs, und das hat auch Herr Kollege Ollenhauer begrüßt. Es war immer der Wunsch aller Vertragspartner der Verteidigungsgemeinschaft, andere europäische Staaten und an der Spitze England in diese Gemeinschaft einzubeziehen. Die engste Form der Assoziierung schien uns die wünschenswerteste und die volle Mitwirkung an 'der Integration das äußerste Ziel. Ich stehe nicht an, die Entscheidung der englischen Regierung auf das wärmste zu begrüßen und der englischen Regierung zu danken, daß sie durch ihre aktive Teilnahme an der Organisation des Brüsseler Pakts einen, wie ich glaube, entscheidenden Beitrag zum Erfolg der Londoner Konferenz geleistet hat.
Im übrigen aber scheint mir der Brüsseler Pakt, so wie er nunmehr in London ergänzt worden ist, auch echte und ausbaufähige Ansätze für eine Weiterentwicklung zu bieten. Die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf den bisher nur als Konsultativrat tätigen Ausschuß der Regierungen kann im Rahmen des Brüsseler Pakts einem echten Exekutivorgan zur Entstehung verhelfen. Die Vorschrift, daß der Brüsseler Rat den Delegierten der Brüsseler Vertragsmächte bei der Beratenden Versammlung des Europarats einen Jahresbericht über seine Tätigkeit im Hinblick auf die Rüstungskontrolle erstatten soll, halte ich ebenfalls für glücklich. Sie wird der Beratenden Versammlung des Europarates eine neue, zusätzliche Bedeutung verleihen, und die Unterversammlung der Delegierten des Brüsseler Pakts kann durch ihre Tätigkeit selbst in die Aufgaben eines echten parlamentarischen Kontrollorgans hineinwachsen.
Diese Berichterstattung gegenüber dem Europarat gilt ja auch für die Montan-Union. Sie war für die Verteidigungsgemeinschaft ebenso wie im Statut über die Politische Gemeinschaft vorgesehen. Darüber hinaus wird der Brüsseler Pakt auch die Möglichkeit geben, daß andere Staaten ihren Beitritt erklären; ich erinnere an die Äußerung des norwegischen Außenministers, die er vor einigen Tagen in New York gemacht hat. Jede solche Ausweitung ides Brüsseler Pakts wird unsere volle Zustimmung und unsere Unterstützung erfahren.
Aber wie ich schon sagte und wie ich auch wiederholen möchte, werden wir alle Anstrengungen unternehmen, um auf den gegebenen Ansatzpunkten die Politik der Integration fortzuführen. Man sollte nicht meinen, daß das der Ausdruck einer Rechthaberei sei; sie wäre fehl am Platze. Aber ich möchte daran erinnern, daß die politischen Ziele, die in der Montan-Union im ersten Ansatz verwirklicht worden sind und die in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft fortschreitend verwirklicht werden sollten, tatsächlich unverändert geblieben sind. Es kam uns doch nicht in erster Linie darauf an, im Rahmen der Montan-Union die Produktion von Kohle und Stahl zusammenzuführen, und es kann nicht oft genug vor der deutschen und vor der Weltöffentlichkeit gesagt werden, daß das politische Ziel der europäischen Verteidigungsgemeinschaft ein größeres und bedeutungsvolleres war als der Beitrag deutscher Divisionen zu der leider notwendigen Verteidigung.
Das scheint mir hier ganz klar gesagt werden zu müssen. Denn ich habe zwei Äußerungen des Herrn Kollegen Ollenhauer auf das tiefste bedauert. Er hat davon gesprochen, daß für weite Kreise des deutschen Volkes die Aussichten auf die Rüstungskonjunktur ihre Zustimmung zur Politik bedingen würden.
Meine Damen und Herren, daß es irgendwelche charakterlosen Lumpen dort und dort und dort gibt, wissen wir alle. Aber wir sollten sie nicht hier nennen und im Ausland den Eindruck erwecken, als stellten sie die Mehrheit des deutschen Volkes dar.
Und noch mehr, meine Damen und Herren, —