Rede von
Erich
Ollenhauer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Stellungnahme zu den Londoner Vereinbarungen und zu der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers vom Dienstag kann sich nicht auf eine kritische Untersuchung des Inhalts der Londoner Vereinbarungen beschränken. Das Scheitern des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft hat eine neue Lage für die Außen- politik der Bundesrepublik geschaffen. Diese Überzeugung hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion veranlaßt, auf eine außenpolitische Debatte im Bundestag vor Beginn der Londoner Konferenz zu drängen. Wir bedauern auch heute noch, daß die Regierung und die Koalitions-Mehrheit diesem Verlangen der Opposition nicht. nachgekommen sind.
Der Herr Bundeskanzler hat vorgestern in seiner Regierungserklärung die Auffassung vertreten, daß die Londoner Vereinbarungen die folgerichtige Fortsetzung der bisherigen Außenpolitik der Bundesregierung seien und daß der Erfolg der Londoner Konferenz deshalb die Richtigkeit dieser Politik erneut bestätigt habe. Dieser Versuch, das Scheitern der bisherigen Außenpolitik der Regierung zu verschleiern, ist verständlich. Aber im Interesse der historischen Wahrheit muß festgestellt werden, daß die jetzt in London vereinbarte Aufrüstung der Bundesrepublik im Rahmen des Brüsseler Pakts und der Nordatlantik-Organisation etwas völlig anderes ist als die bisher von der Regierung und den Regierungsparteien vertretene Europapolitik.
Bis zum Scheitern des EVG-Vertrages haben wir hier im Hause und in aller Öffentlichkeit bis zum Überdruß die These vertreten hören, daß es nur einen Weg zur europäischen Einheit gebe, näm-
lich den Weg der sogenannten Integration, wie der EVG-Vertrag ihn vorgesehen hatte. Alle Versuche der Sozialdemokratie, andere und nach unserer Auffassung bessere Wege und Methoden für die europäische Zusammenarbeit zur Diskussion zu stellen, wurden als illusionär und weltfremd abgelehnt.
Alle Zweifel der Sozialdemokratie an der Möglichkeit des Zustandekommens und an der Wirksamkeit der EVG-Lösung wurden als Ausdruck einer uneuropäischen Einstellung und als reine Verneinungspolitik beiseite geschoben.
Heute stehen wir vor zwei Tatsachen. Erstens: Die sozialdemokratische Beurteilung der Aussichten für die Durchsetzung der Integrationspolitik hat sich als weit realistischer erwiesen als die Vorstellungen der Regierung und der Regierungsparteien.
Zweitens: Wenn heute der Herr Bundeskanzler die Londoner Vereinbarungen als die logische Fortsetzung seiner Integrationspolitik bezeichnet, so ist demgegenüber festzustellen, daß die Form der Zusammenarbeit, die in London beschlossen wurde, unter völligem Verzicht auf den supranationalen Integrationscharakter der EVG den sozialdemokratischen Vorstellungen näher kommt als der bisherigen Integrationspolitik der Mehrheit in diesem Hause.
Wir würden auf diese Feststellung keinen besonderen Wert legen, wenn die Integrationspolitik der
EVG bis zum Scheitern des Vertrages nicht als eine
Art von Weltanschauung hingestellt worden wäre
und wenn der Herr Bundeskanzler nicht am Dienstag den Versuch gemacht hätte, den klaren Bruch in der Konzeption seiner Europapolitik einfach zu leugnen.
Wesentlicher ist für uns die Feststellung, daß sich durch das Scheitern der EVG auch eine neue Situation für die Außenpolitik der Bundesrepublik ergeben hat. Die Grundfrage ist deshalb, ob die Bundesregierung mit den Beschlüssen auf der Bühler Höhe und mit ihrem Verhalten auf der Londoner Konferenz dieser neuen Situation gerecht geworden ist oder nicht. Wir Sozialdemokraten sehen den entscheidenden Mangel in der neuen Europapolitik der Regierung darin, daß sie nichts anderes darstellt als den Versuch, so schnell als möglich eine Ersatzlösung für die EVG, also für einen militärischen Beitrag der Bundesrepublik zu finden. Wir halten diese Taktik für falsch. Nach unserer Überzeugung gab das Scheitern der EVG-Politik der Bundesrepublik die Chance für einen neuen Start in ihrer Außenpolitik.
Dieser neue Abschnitt in der Außenpolitik mußte nach unserer Meinung mit der Fragestellung beginnen, ob und wie wir der Lösung der vordringlichsten Aufgabe der deutschen Politik, nämlich der Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit, näherkommen können.
Außerdem hätte die veränderte Situation eine
gründliche Überprüfung der internationalen Lage
unter dem Gesichtspunkt erfordert, ob heute die Voraussetzungen und die Notwendigkeiten, die 1950 die Bundesregierung zu ihrer jetzt gescheiterten Integrationspolitik veranlaßt haben, überhaupt noch bestehen oder in vollem Umfang bestehen. Bevor überhaupt eine Prüfung der Ergebnisse der Londoner Konferenz im einzelnen möglich ist, müssen diese beiden Fragen untersucht werden.
Was die heutige internationale Lage betrifft, so kann nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, daß sie sich wesentlich von der unterscheidet, die bei Beginn des Korea-Konfliktes bestand. Die Gefahr eines bewaffneten Konfliktes zwischen den beiden Hauptlagern in der Welt ist heute wesentlich geringer. Ich nehme an, daß diese Feststellung von niemandem in diesem Hause ernsthaft bestritten wird. Die bemerkenswerteste Feststellung in dieser Richtung aus der jüngsten Zeit stammt von dem jetzigen belgischen Außenminister Paul Henri Spaak, der in seiner Rede vor der Beratenden Versammlung des Europarates in Straßburg am 18. September erklärte:
Ich glaube nicht, selbst wenn wir morgen von den Amerikanern verlassen würden, daß die russischen Streitkräfte sich auf Europa stürzen und sich unserer Länder bemächtigen würden.
Diese Auffassung über eine Entspannung der internationalen Lage stützt sich ja tatsächlich auf eine Reihe von Ereignissen. Der Krieg in Korea ist zu Ende. Die Genfer Konferenz hat den Indochina
Konflikt mit einem Kompromiß beendet. Die Sowjetunion hat nach der Berliner Konferenz ihre Vorschläge -für ein europäisches Sicherheitssystem revidiert, nachdem sie in der Berliner Fassung von vornherein für alle Beteiligten unannehmbar waren. Auch die heutige Fassung löst das Problem sicher nicht; aber die Veränderungen in den Vorschlägen lassen das Interesse der Sowjetunion an den Verhandlungen über ein europäisches Sicherheitssystem deutlich erkennen. In den letzten Tagen hat die Sowjetunion ferner durch ihren Vertreter in den Vereinten Nationen ihre bisherige Haltung gegenüber einer internationalen Rüstungskontrolle so wesentlich revidiert, daß sie nach der Meinung der amerikanischen und britischen Vertreter in den Vereinten Nationen erwägenswert ist.
In diesem Zusammenhang sind auch die gestrigen Ausführungen des sowjetischen Außenministers Molotow in Karlshorst von Interesse. Kein Zweifel: auch hier ist die Andeutung einer wesentlichen Änderung der Sowjethaltung gegenüber der Haltung der Sowjetdelegation auf der Berliner Konferenz. Ich knüpfe an die Bemerkungen, soweit sie uns bekannt sind, in diesem Augenblick keinen einzigen Kommentar, weil ich glaube, daß eine ernsthafte Diskussion über den für uns so entscheidenden Fragenkomplex erst möglich ist, wenn die angekündigte Note der Sowjetunion an die drei Westmächte überreicht worden ist und wir den Wortlaut der Vorschläge in aller Ruhe und Gründlichkeit diskutieren können. Was ich aber hier feststellen möchte und was sicher von niemandem hier in diesem Hause bestritten werden kann, ist, daß auch diese neue Initiative in der Richtung der Politik der Sowjetunion liegt, den Versuch einer internationalen Entspannung fortzusetzen.
Es kommt hinzu, daß auf der andern Seite die amerikanische Regierung in der letzten Zeit meh-
rege Schritte planmäßig unternommen hat, um die internationale Entspannung zu fördern und das Nebeneinanderleben der beiden großen Mächtegruppen zu erleichtern. Ich möchte hier nur an die Initiative des Präsidenten Eisenhower zur Schaffung einer internationalen Behörde für Atomenergie erinnern. Und, meine Damen und Herren, selbst bei vorsichtigster Bewertung aller dieser Entwicklungen ist der Schluß unbestreitbar, daß die Tendenzen zur Entspannung heute bei weitem die Gefahren eines gewaltsamen Zusammenstoßes zwischen den beiden großen Mächtegruppen überwiegen.
Die erste Schlußfolgerung, die das deutsche Volk aus einer solchen Feststellung ziehen sollte, wäre ein eindeutiges, positives Bekenntnis zu dieser Politik der Entspannung.
Die Erhaltung und die Festigung des Friedens durch eine friedliche Austragung der Gegensätze und durch eine international kontrollierte Abrüstung ist das höchste Ziel, dessen Verwirklichung wir immer von neuem wünschen und anstreben müssen.
In dieser Lage, meine Damen und Herren, erscheint aber auch die Notwendigkeit eines militärischen Beitrages der Bundesrepublik zur Verteidigung der freien Welt in einem anderen Licht. Wir sind der Meinung, daß die Entscheidung über einen solchen deutschen Verteidigungsbeitrag vor allem unter dem Gesichtspunkt gefällt werden muß, ob er mit einer Politik der Wiedervereinigung Deutschlands vereinbar ist. Hier lag ja einer der wesentlichen Gründe für unsere Ablehnung der EVG. Aber abgesehen von dieser Einschränkung, die sich aus der besonderen Situation der Spaltung Deutschlands ergibt, kann nicht ernsthaft bestritten werden, daß heute ein deutscher Verteidigungsbeitrag nicht mehr von der gleichen Dringlichkeit ist, wie es vielleicht in der Vergangenheit angenommen werden konnte.
Jedenfalls gibt es kein Argument, das die Bundesrepublik veranlassen könnte, eine Chance für Verhandlungen über die Wiedervereinigung zugunsten einer schnellen Aufrüstung der Bundesrepublik auszulassen.
Das militärische Gewicht eines deutschen Verteidigungsbeitrages in dem Ausmaß, in dem er im EVG-Vertrag vorgesehen war und jetzt auch in den Londoner Vereinbarungen in Aussicht genommen worden ist — ich möchte nicht von den Zahlen ausgehen, die mit Augenzwinkern über die wirkliche Stärke einer künftigen deutschen Armee immer wieder verbreitet werden,
sondern ich unterstelle, daß hier im Hause niemand ist, der in dieser Beziehung nicht zu absoluter Loyalität gegenüber dem Text der Verträge bereit wäre —,
dieser Beitrag von 12 Divisionen ist für das Kräfteverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und
der Sowjetunion, die die beiden entscheidenden
Mächte in der Welt repräsentieren, von keiner entscheidenden Bedeutung, zumal sie vor Ablauf von drei Jahren überhaupt nicht aktionsfähig sein könnten.
Die Konsequenzen der Entwicklung in der internationalen Politik gehen aber noch viel weiter. Die Frage der militärischen Kräfteverteilung wird heute bei weitem von der Frage überschattet, ob es möglich ist, in globaler Weise den Kalten Krieg zwischen Ost und West durch umfassende Vereinbarungen zu beenden. Denn eine aussichtsreiche Diskussion über die Aufgabe dieser oder jener Machtposition der einen oder anderen Seite wird sich erst dann positiv führen lassen, wenn es zu einer solchen globalen Verständigung zwischen den Hauptbeteiligten kommt. Die Frage eines deutschen militärischen Beitrages ist deshalb vom Standpunkt der internationalen Politik heute von nachgeordneter Bedeutung, — in größerem Maße als zu früheren Zeiten.
Die Schlußfolgerung, die sich daraus für die Politik der Bundesrepublik ergibt, ist deshalb die Notwendigkeit, eine aktive Politik für die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit mit Vorrang vor allen anderen Überlegungen über den militärischen Status der Bundesrepublik zu betreiben.
Eine friedliche und für alle Beteiligten in Ost und West und für das deutsche Volk akzeptierbare Lösung der deutschen Frage wäre zugleich ein entscheidender Beitrag zur Beendigung des Kalten Krieges in der Welt.
Wir Sozialdemokraten sind deshalb aus allen diesen Gründen der Überzeugung, daß auf dem Verhandlungsprogramm der Bundesregierung für die Londoner Konferenz als erster Punkt die Frage einer neuen Initiative für Vier-Mächte-Verhandlungen über das Problem der deutschen Einheit und der Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems hätte stehen müssen.
Wenn die deutsche Regierung eine solche Forderung erhoben und durchgesetzt hätte, wäre in London die Möglichkeit gewesen, die Vorbereitung für eine derartige Konferenz gemeinsam zwischen den Vertretern der drei Westmächte und der Bundesrepublik zu treffen. Das ist nicht geschehen, und das bedauerlichste ist, daß die Bundesregierung nicht einmal den Versuch gemacht hat, die Tagesordnung der Londoner Konferenz in diesem Sinne zu gestalten. Wir sehen in diesem Fall nicht nur ein bedauerliches Versäumnis der Bundesregierung in einer bestimmten taktischen Situation. Die Folgen der Vermeidung der Behandlung dieses Themas können viel weitreichender sein; denn wir können nicht erwarten, meine Damen und Herren, daß die Westmächte über ihre erneuten feierlichen Erklärungen für die Wiedervereinigung Deutschlands hinaus in dieser Frage von sich aus aktiv werden, wenn nicht immer von neuem durch die Deutschen selbst in der Richtung einer aktiven Wiedervereinigungspolitik gedrängt wird.
Was uns veranlaßt, hier in diesem Punkte und schon an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt unsere große Besorgnis zu äußern, ist die Tatsache, daß wir in den Vereinbarungen von London, so-
weit sie sich mit dem zukünftigen Status der Bundesrepublik nach der Aufhebung des Besatzungsstatuts beschäftigen, sehr bemerkenswerte Formulierungen finden. Diese Formulierungen erwecken den Anschein, daß hier nicht nur ein System der freien inneren Selbstverwaltung des westdeutschen Teiles unseres Landes angestrebt wird, sondern daß sich auch die Tendenzen verstärken, die Bundesrepublik als ein abgeschlossenes staatliches Gebilde sowohl in völkerrechtlichem Sinne als auch im Verhältnis zum sowjetisch besetzten Teil Deutschlands zu etablieren. Wenn das richtig ist — und wir werden diese Frage sehr ernsthaft untersuchen, sobald wir die Texte der Verträge und Vereinbarungen im Wortlaut vorliegen haben —, dann müssen sich daraus sehr ernsthafte und weitgehende Konsequenzen im Verhältnis der Bundesrepublik zu dem Status eines wiedervereinigten Deutschlands ergeben. Und wir wären dem Herrn Bundeskanzler sehr dankbar für eine Erklärung, daß eine solche Entwicklung nicht den Vorstellungen der Bundesregierung entspricht.
In jedem Falle wird die sozialdemokratische Bundestagsfraktion jeden weiteren außenpolitischen Schritt der Bundesregierung und jede außenpolitische Verpflichtung, die sie eingeht, unter dem Gesichtspunkt prüfen, ob sie mit einer aktiven Wiedervereinigungspolitik der Bundesrepublik vereinbar ist oder nicht. Unser grundsätzlicher Einwand gegen die Londoner Konferenz ist daher, daß sie die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands, auch unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung dieser Frage für eine ernsthafte Entspannung und Befriedung in Europa und in der Welt, nicht zum wesentlichen Bestandteil ihrer Verhandlungen gemacht hat und daß die Bundesregierung dadurch eine ihr durch wiederholte einstimmige Bundestagsbeschlüsse aufgetragene Verpflichtung nicht erfüllt hat.
Der Herr Bundeskanzler hat nun am Dienstag den Inhalt der Londoner Vereinbarungen bekanntgegeben und erläutert. Wir sind ja auch glücklicherweise noch eine Stunde vor Beginn der Plenarsitzung in den Besitz des deutschen Textes der Vereinbarung von London gekommen. Wir betrachten die heutige Debatte, soweit sie sich mit den Londoner Vereinbarungen im einzelnen beschäftigt, als Generaldiskussion, der eingehende Beratungen bei der Vorlage der noch auszuarbeitenden Verträge und Vereinbarungen folgen müssen. Wir erwarten dabei, daß in diesem Fall entgegen der Praxis bei der parlamentarischen Beratung des EVG-Vertrages und des Generalvertrages mehr Wert auf genügend Zeit für eingehende Beratung gelegt wird als auf die Schnelligkeit der Ratifizierung.
Ich glaube, es besteht kein Grund, daß wir auch dieses Mal darauf aus sind, in bezug auf Fixigkeit die Fleißnummer eins zu bekommen.
Zur allgemeinen Beurteilung der Londoner Vereinbarung möchte ich hier im Namen meiner Fraktion zunächst einige erste Feststellungen treffen.
Ich habe die britische Initiative zur Einberufung der Londoner Konferenz auf meiner Pressekonferenz am 24. September ausdrücklich begrüßt. Es war selbstverständlich, daß nach dem Scheitern der Integrationspolitik ein neuer Versuch für die europäische Zusammenarbeit auf anderer Basis gemacht werden mußte, weil die Zusammenarbeit der europäischen Völker einfach eine Notwendigkeit ist. Der Herr Bundeskanzler hat mit sichtlicher Befriedigung festgestellt, daß durch die Londoner Vereinbarungen eine ernste Krise in Westeuropa überwunden worden sei. Er hat vergessen, hinzuzufügen, daß diese Krise vermeidbar gewesen wäre, wenn man bereits früher die Konsequenzen aus der offensichtlichen Unmöglichkeit der Durchführung der Integrationspolitik gezogen hätte.
Wie oft, meine Damen und Herren, haben wir hier in diesem Hause gehört, daß die Einigung Europas mit der Integrationspolitik der Bundesregierung stehe und falle und daß das Scheitern dieser Politik zu einer Katastrophe führen müsse! Mit welcher Leidenschaft hat man sich hier gewehrt auch nur gegen jede Diskussion über alternative Lösungen! Und diese Weigerung hat die Bundesregierung noch bis nach der Brüsseler Konferenz mit der Behauptung aufrechterhalten, es gebe keine Alternative zur EVG.
Als dann aber das Fiasko in dieser eingleisigen Politik offenkundig war, war es der Herr Staatssekretär Professor Hallstein, der sich unmittelbar vor Beginn der Londoner Konferenz in der „Welt" öffentlich rühmte, das Auswärtige Amt habe nicht weniger als elf verschiedene Alternativlösungen ausgearbeitet.
Meine Damen und Herren, es ist bezeichnend für das Verhältnis der Regierung zum Parlament, daß selbst die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses erst durch die Veröffentlichung des Herrn Staatssekretärs von dieser erstaunlichen Aktivität unseres Auswärtigen Amtes erfahren haben,
und es ist ja doch wohl auch kein Zweifel darüber, daß diese Methode in hohem Maße geeignet ist, das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit amtlicher Äußerungen beim Volke zu erschüttern.
Die Tatsache, daß es der Londoner Konferenz gelungen ist, in fünf Tagen eine andere Lösung als die EVG auszuarbeiten, ist jedenfalls eine Rechtfertigung der Auffassung der Sozialdemokratie von den Möglichkeiten alternativer Lösungen,
und soweit die Londoner Vereinbarungen eine europäische Zusammenarbeit weiter zu entfalten versuchen, sehen wir mindestens in zwei Punkten einen Fortschritt gegenüber der EVG-Lösung.
Der erste und der wichtigste Punkt ist zweifellos die Entscheidung der britischen Regierung, weitgehende dauernde Verpflichtungen auf dem europäischen Kontinent zu übernehmen, weitergehende Verpflichtungen, als je eine britische Regierung, außer in Kriegszeiten, übernommen hat. Auch wir möchten der britischen Regierung für ihre Initiative in bezug auf die Einberufung der Konferenz und für ihren Beitrag in der Richtung der europäischen Zusammenarbeit unseren Dank aussprechen.
Diese Entscheidung der britischen Regierung bedeutet in der Tat eine Hoffnung für alle, die eine möglichst umfassende europäische Zusammenarbeit wünschen.
Wir sind weiter der Meinung, daß die Aufgabe des Prinzips der Integration als der allein möglichen Basis einer europäischen Einheit ein Fortschritt ist. Denn damit ist die Gefahr, die wir immer gefürchtet haben, daß sich das freie Europa noch einmal in sich spalten könnte, wesentlich gemindert.
Was wir bedauern, meine Damen und Herren, ist die Tatsache, daß die Londoner Vereinbarungen, soweit sie sich auf die europäische Zusammenarbeit beziehen, nur die militärische Seite dieser Zusammenarbeit behandeln.
In dieser Beziehung wird leider .der Fehler der EVG-Konstruktion fortgesetzt,
die europäische Zusammenarbeit mit dem Schwergewicht auf militärischem Gebiet zu beginnen. Die Frage der Einheit Europas ist aber nicht nur und nicht in erster Linie die Frage seiner militärischen Organisation.
Meine Damen und Herren, hätten wir nur mit einem Teil der Energie, mit der hier für die deutsche Aufrüstung im europäischen Rahmen in den letzten Jahren gearbeitet worden ist, die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit der europäischen Völker gefördert, so hätten wir mehr für die Schaffung
einer wirklichen europäischen Gemeinschaft getan, als es heute der Fall ist.
Und um wieviel besser, meine Damen. und Herren, stünde es um das freie Europa, wenn es uns in den letzten Jahren auf dem Kontinent wenigstens gelungen wäre, das Maß von praktischer Zusammenarbeit zu verwirklichen, das z. B. die skandinavischen Länder mit dem Resultat erreicht haben, daß sie heute die volle Freizügigkeit ihrer Staatsbürger, den einheitlichen Arbeitsmarkt und die einheitliche Sozialordnung verwirklicht haben.
In der Zeit des Kalten Krieges würde eine solche Gemeinsamkeit der freien europäischen Völker die Position dieser Völker gegenüber den Gefahren der totalen Infiltration wesentlich verstärkt haben.
Nun, nachdem die Londoner Konferenz diesen Aufgabenkomplex völlig außer Betracht gelassen hat, erwarten wir eine Stärkung derjenigen europäischen Einrichtungen, die die Voraussetzungen für den Ausbau der europäischen Zusammenarbeit auf den anderen als den militärischen Gebieten schaffen können.
Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Rede die Fortschritte hervorgehoben, die auf der Londoner Konferenz in bezug auf die Gleichberechtigung und auf die Ausschaltung von Diskriminationen gegenüber den im EVG-Vertrag und im Generalvertrag vorgesehenen Regelungen erzielt worden sind. Wir freuen uns, daß das Scheitern des EVG-Vertrages die Londoner Konferenz mit solchen Erfolgen auf diesem Gebiete möglich gemacht hat;
denn sonst wäre j a die Bundesrepublik nach Ihrem Willen für 50 Jahre an die schlechteren Bedingungen des EVG-Vertrages und des Generalvertrages gebunden gewesen.
Die Feststellung dieser Fortschritte auf der Londoner Konferenz gegenüber der EVG-Lösung ist ja auch eine nachträgliche indirekte Anerkennung der Berechtigung der sozialdemokratischen Opposition gegen die Verträge von Paris und Bonn.
— Ich weiß, wie schwer Ihnen das fällt, aber, meine Damen und Herren, das hilft nichts.
Wir nehmen das zur Kenntnis.
Darüber hinaus sind wir sicher darin einig, daß wir uns die gründliche Untersuchung der Vereinbarung und ihrer Konsequenzen vorbehalten. Wir haben eine Fülle von Fragen, die weder durch den Text der Vereinbarung noch durch die knappen Erläuterungen des Herrn Bundeskanzlers beantwortet sind. Die Position der Bundesrepublik nach der Aufhebung des Besatzungsstatuts scheint uns keineswegs so klargestellt, wie es der Herr Bundeskanzler hier behauptet hat. Die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, daß die Notstandsklausel des Generalvertrages gefallen sei, befriedigt uns nicht. In den Vereinbarungen über das Verhältnis zwischen den Hohen Kommissaren auf ,der einen Seite und der Bundesregierung auf der andern Seite in der Zeit bis zur Aufhebung des Besatzungsstatuts ist ausdrücklich festgestellt, daß in dieser Zeit die Ausübung des Notstandsrechts in den Händen der drei westlichen Besatzungsmächte bleibt,
und zweitens soll der Verzicht auf das Notstandsrecht erst in Kraft treten, wenn die Bundesrepublik die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dieses Recht selbst auszuüben.
Herr Bundeskanzler, bedeutet das, daß die Bundesregierung die Absicht hat, nach dem Muster der Ausnahmezustandsbestimmungen der Weimarer Verfassung die Schaffung eines neuen Art. 48 im Grundgesetz vorzubereiten? Wir möchten darauf eine klare und eindeutige Antwort haben.
Soweit die militärischen Vereinbarungen in Frage kommen, wird z. B. auch zu untersuchen sein, in welcher Weise die doppelte Kontrolle, die durch das Rüstungskontrollamt des Brüsseler Vertrages und durch NATO ausgeübt werden soll, praktisch funktioniert. Wir sind in Übereinstimmung mit unserer allgemeinen Politik für die internationale Abrüstung. Wir sind dagegen, daß das Ruhrgebiet wieder zur Waffenschmiede wird, und wir bedauern und beklagen, daß heute schon gewisse Kreise in Deutschland die Frage eines militärischen Beitrags der Bun-
desrepublik in erster Linie unter dem Gesichtspunkt sehen, welchen Anteil sie an den Gewinnen einer neuen Rüstungskonjunktur in Deutschland ergattern können.
Wir wünschen im Zusammenhang mit der Frage der Kontrolle, daß die Arbeitsplätze der deutschen Arbeiter im Rahmen einer Friedensproduktion uneingeschränkt erhalten bleiben und nicht einem neuen verstärkten Sog nach dem Westen zum Opfer fallen.
Das ist nicht nur eine sozialpolitische Frage, das ist eine nationalpolitische Frage allererster Ordnung.
Wir werden im Laufe der weiteren Beratungen die Bundesregierung um konkrete Aufklärung darüber bitten, ob bei der Aufstellung von deutschen Divisionen tatsächlich ein höheres Maß von Sicherheit für die Bundesrepublik erreicht wird. Denn es wäre unverantwortlich, dem deutschen Volk und vor allem der deutschen Jugend das schwere persönliche und materielle Opfer einer Aufrüstung zuzumuten, wenn der Effekt für die Erhöhung der Sicherheit der Bundesrepublik gleich Null bliebe.
Die Bundesregierung wird bei der Einzelberatung auch darüber Auskunft geben müssen, mit welchen finanziellen Belastungen die Durchführung der Londoner Vereinbarungen für das 'deutsche Volk in der Bundesrepublik verbunden sein wird. Der Aufwand von 40 Milliarden DM als Grundlage für die Durchführung 'der Aufrüstung ist von keiner Seite ernsthaft bestritten worden. Unsere Auffassung ist, daß ein solcher Betrag von 40 Milliarden DM angesichts der weitgehenden unerfüllten sozialen Verpflichtungen gegenüber Millionen von Menschen unverantwortlich ist.
Im Kalten Krieg ist eine umfassende Politik der sozialen Sicherheit von größerer Bedeutung für die Stärkung der freien Welt als die Aufstellung von neuen Divisionen.
Ich möchte schließlich an den Herrn Bundeskanzler die Frage richten, was von deutscher Seite noch geschehen muß, um die Vereinbarungen von London vor allem in Frankreich in Kraft zu setzen. Herr Mendès-France hat nach seiner Rückkehr aus London in Paris erklärt, daß er die Vorschläge von London nur gemeinsam mit einer Grundsatzeinigung über die Saarfrage dem französischen Parlament vorlegen wird, und er hat gestern abend im Auswärtigen Ausschuß des französischen Parlaments angekündigt, daß er am 20. Oktober über die Saarfrage mit dem Herrn Bundeskanzler verhandeln möchte. Der Herr Bundeskanzler hat diese Frage in seiner Regierungserklärung merkwürdigerweise mit keinem Wort erwähnt. Ist es richtig, Herr Bundeskanzler, daß solche Verhandlungen zwischen der französischen Regierung und Ihnen im Sinne der Mitteilung von Herrn Mendès-France bevorstehen, und welche Haltung, Herr Bundeskanzler, werden Sie bei diesen Verhandlungen einnehmen?
Es ist wiederum die Rede von einer sogenannten Europäisierung der Saar unter der Kontrolle der Montan-Union. Die Sozialdemokratische Partei ist der Meinung, daß im Interesse der freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem französischen und dem deutschen Volk auch eine Lösung der Saarfrage gefunden werden muß.
Sie kann aber nicht den Verzicht auf das Saargebiet als einen Teil deutschen Staatsgebietes umfassen, und sie muß in jedem Falle die Bevölkerung des Saargebiets unverzüglich in den Genuß aller demokratischen Grundrechte und Freiheiten bringen.
Wir erwarten vom Herrn Bundeskanzler, daß er seine Vorstellungen von der Verhandlungsführung in dieser Frage im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages darlegt, und wir Sozialdemokraten sind bereit, im Rahmen der obengenannten Grundsätze an einer positiven Lösung dieses Problems mitzuarbeiten.
Meine Damen und Herren, das entscheidende Problem, das für uns im Zusammenhang mit den Londoner Vereinbarungen aufgeworfen worden ist, ist die Frage, wie die Londoner Vereinbarungen in Beziehung gesetzt werden sollen zu einer aktiven Politik für die Wiedervereinigung Deutschlands.
Der Herr Bundeskanzler hat in den letzten Wochen wiederholt zu der Frage der Wiedervereinigung und der Eingliederung der Bundesrepublik in ein westliches Verteidigungssystem in einem Sinne Stellung genommen, der uns zu den ernstesten Befürchtungen Anlaß gibt.
Ich muß in diesem Zusammenhang zurückkommen auf das Interview des Herrn Bundeskanzlers in der Londoner „Times" vom 4. September. Dort sagte der Bundeskanzler im Zusammenhang mit den Verhandlungen der Brüsseler Konferenz:
Ich gab mir Mühe, keine unnötigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Mendès-France und mir aufkommen zu lassen, aber ich erhob natürlich die stärkste Einwendung, als er forderte, daß jeder Teilnehmer an dem Vertrag das Recht haben sollte, die Mitgliedschaft in der Verteidigungsgemeinschaft im Falle einer Wiedervereingung Deutschlands zu kündigen. Nach meiner Auffassung
— nach der Auffassung des Herrn Bundeskanzlers —und nach der Auffassung anderer auch war dies eine Einladung an Rußland, die Wiedervereinigung Deutschlands durch jedes Mittel zu versuchen und so die EVG zu Ende zu bringen.
Meine Damen und Herren, das ist eine wörtliche Äußerung des Herrn Bundeskanzlers. Was er hier über das Verhältnis zwischen EVG und Wiedervereinigung sagt, ist das strikte Gegenteil der politischen Linie, die die Wiedervereinigung Deutschlands als die vordringlichste Aufgabe der deutschen Politik betrachtet.
Ein solcher Standpunkt macht die Wiedervereinigung schon durch das Verhalten der Bundesregierung unmöglich.
Da diese Frage an keinem Punkt des konkreten Inhalts der Londoner Vereinbarungen behandelt ist, muß dieser wesentliche Gesichtspunkt hier mit aller Klarheit und Entschiedenheit noch einmal herausgestellt werden.
Es kommt nicht nur darauf an, daß die Bundesrepublik keine Verpflichtungen für eine zukünftige frei gewählte gesamtdeutsche Regierung übernehmen kann, nein, die Bundesrepublik muß auch aus eigenem Willen bereit sein, jede vertragliche Vereinbarung zu lösen, wenn sie die Wiedervereinigung hindert.
Und über die feierlichen Erklärungen der westlichen Außenminister auf der Berliner Konferenz hinaus —die ja der Herr Bundeskanzler durch seine in dem „Times"-Interview kundgetane Auffassung auch beiseite geschoben hat —, daß eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung an vertragliche Verpflichtungen der Bundesrepublik nicht gebunden sein werde, muß sich die Bundesrepublik auch selbst die Freiheit der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung durch die Aufnahme einer Kündbarkeitsklausel für den Fall ernsthafter Möglichkeiten für eine Wiedervereinigung sichern, einer Kündbarkeitsklausel in allen internationalen Verträgen und Vereinbarungen, die die Bundesrepublik abschließt.
Es kommt darauf an, auf diese Weise das Initiativrecht der Bundesregierung in der Frage der Verhandlungen über die Wiedervereinigung zu sichern.
Hier stehen wir nach unserer Auffassung an dem entscheidenden Punkt. Vereinbarungen wie die von London, die die Wiedervereinigung als prinzipielles Ziel erklären, aber nicht zum Gegenstand der Vertragsgestaltung und der praktischen Politik machen, sind für das deutsche Volk in dieser Situation nicht akzeptabel.
Heute bedeutet die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik im Rahmen der NATO und die ausschließliche Konzentration der Außenpolitik der Bundesrepublik auf ihre Eingliederung in das westliche Verteidigungssystem den Verzicht auf eine aktive Politik für die Wiedervereinigung Deutschlands.
Die Sozialdemokratische Partei muß eine solche Lösung ablehnen.
Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß die Bundesrepublik keine neuen Verpflichtungen im Zusammenhang mit ,dem westlichen Verteidigungssystem und an Stelle der EVG übernehmen sollte, ehe nicht ein neuer ernsthafter Versuch gemacht worden ist, durch Verhandlungen mit der Sowjetunion zu klären, ob es möglich ist, die Frage der deutschen Wiedervereinigung auf der Basis von freien Wahlen in allen vier Zonen und in Berlin und der Eingliederung des geeinten Deutschlands in ein System der kollektiven Sicherheit zu lösen.
Wir haben bereits früher an dieser Stelle eine Reihe von konkreten Vorschlägen in dieser Richtung gemacht. Wir haben damals auch auf die Möglichkeiten hingewiesen, die sich durch den Aufbau eines solchen Sicherheitssystems im Rahmen der Vereinten Nationen bieten.
Ich erinnere mich noch sehr deutlich an die sehr unfreundlichen Belehrungen über den angeblich fragwürdigen Wert der Vereinten Nationen für die Sicherheit, die wir damals von dieser Stelle entgegennehmen mußten.
In diesem Punkte dürfte heute vielleicht eine sachlichere Diskussion möglich sein, nachdem der Herr Bundeskanzler mit solchem Nachdruck und mit einer so starken positiven Betonung auf die Londoner Vereinbarungen hingewiesen hat, die die Anerkennung der Satzungen und der Grundsätze der Vereinten Nationen zum Gegenstand haben.
Wir sind der Auffassung, daß die Schaffung eines solchen europäischen Sicherheitssystems im Rahmen der Vereinten Nationen möglich ist. Selbstverständlich wird ein wesentlicher Punkt der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung und die Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems die Frage des zukünftigen Status des wiedervereinigten Deutschlands sein. Wir sind der Auffassung, daß eine Lösung gefunden werden kann, die eine gesamtdeutsche frei gewählte Regierung akzeptiert und die weder von den östlichen noch von den westlichen Partnern eines wiedervereinigten Deutschlands als eine gegen sie gerichtete Bedrohung empfunden wird.
Der Beitrag, den das wiedervereinigte Deutschland in einem solchen Sicherheitssystem zu leisten hat, muß zwischen den beteiligten Mächten und der gesamtdeutschen Regierung vereinbart werden. Es gibt dafür, wie die Erfahrung zeigt, viele praktische Möglichkeiten. Allerdings würde eine solche Regelung die einseitige Bindung Gesamtdeutschlands an eine Militärallianz mit der einen oder anderen Seite ausschließen.
Wir sind überzeugt, daß die Frage neuer internationaler Konferenzen auch über das deutsche Problem und die europäische Sicherheit unter .Beteiligung der Sowjetunion auf der Tagesordnung bleibt, daß diese neuen Konferenzen kommen werden und daß wir deshalb die hier gegebene Chance für eine friedliche und freiheitliche Lösung des deutschen Problems nicht jetzt durch die in den Londoner Vereinbarungen vorgesehene militärische Aufrüstung der Bundesrepublik im Rahmen des Brüsseler Paktes und der NATO belasten dürfen.
Meine Damen und Herren, niemand kann den Erfolg solcher neuen Verhandlungen über das deutsche Problem und über eine europäische Entspannung voraussagen. Aber niemand, vor allem im deutschen Volke, kann es auch verantworten, auf einen solchen Versuch zu verzichten, ehe wir uns für lange Zeit unwiderruflich an eine Politik binden, die auf der Annahme basiert, daß die Spaltung der Welt in zwei Blöcke und damit auch die Spaltung Deutschlands für lange Zeit eine unabänderliche Tatsache sind.
Das ist eine sehr ernste Situation. Ich möchte deshalb auch ausdrücklich hinzufügen: Sollte ein solcher neuer, ernsthafter Versuch scheitern, sollte es nicht gelingen, die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und die Schafung eines europäischen Sicherheitssystems positiv zu lösen,
dann stehen wir Sozialdemokraten in vollem Umfang zu den Erklärungen, die wir auf unserem Berliner Parteitag über die Bereitschaft der Sozialdemokratie zu einer Mitwirkung an einer gemeinsamen Verteidigung der freien Welt beschlossen haben.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist der Auffassung, daß vor der Ratifizierung der Londoner Vereinbarungen von der Bundesrepublik eine neue ernsthafte Anstrengung gemacht werden muß, um die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit auf dem Wege von Verhandlungen zu fördern.
Wir stellen daher folgenden Antrag: Der Bundestag wolle beschließen: Die Bundesregierung wird ersucht,
1. in Besprechungen mit den drei westlichen Besatzungsmächten die Grundlagen einer gemeinsamen Politik zu klären, die in kommenden Vier-Mächte-Verhandlungen die Wiedervereinigung Deutschlands herbeiführen soll; daher
2. zu den in der Londoner Akte vorgesehenen speziellen Verhandlungskommissionen die Bildung einer weiteren Kommission zu betreiben, deren Aufgabe es sein soll, für das in Nr. 4 der Erklärungen der drei Westmächte in Abschnitt V der Akte aufgestellte Ziel gemeinsame Richtlinien festzustellen und eine einheitliche Politik zu ermöglichen; dabei
3. bei den westlichen Besatzungsmächten darauf hinzuwirken, daß mit der sowjetischen Besatzungsmacht so bald wie möglich Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und die Eingliederung Deutschlands in ein europäisches Sicherheitssystem im Rahmen der Vereinten Nationen aufgenommen werden; weiter
4. in den Abkommen, die in Ausführung der Schlußakte der Londoner Konferenz vorgesehen sind, nur solche Verpflichtungen und Bindungen der Bundesrepublik einzugehen, die ihrer Grundaufgabe gerecht werden, ihre vordringlichste politische Verpflichtung zu erfüllen: die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit mit friedlichen Mitteln herbeizuführen.