Rede von
Dr.
Ernst
Schellenberg
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube nicht, daß Sie meinen, ich spreche hier als Theoretiker, sondern Sie werden mir zutrauen, daß ich von der Praxis der deutschen Sozialversicherung etwas verstehe.
Es wird Sie vielleicht interessieren, aus der Perspektive der Praxis einiges zu den Dingen zu hören.
Zunächst zu dem, was der Herr Bundesarbeitsminister gesagt hat. Der Herr Minister hat bedauert, daß ich in diesem Hause immer wieder seine Arbeit kritisiere. Herr Minister, das ergibt sich leider aus dem Tatbestand, daß Sie nun einmal Repräsentant der Sozialpolitik der Bundesregierung sind, und diese Sozialpolitik der Bundesregierung wird von meiner Partei nicht für sinnvoll gehalten. Vielleicht haben Sie persönlich in bezug . auf diese Sozialpolitik ein anderes Wollen, aber dieses Wollen konnten Sie nicht in dem vorliegenden Gesetz verwirklichen. Ich habe beispielsweise Kenntnis davon, daß Sie ursprünglich eine andere Konzeption für dieses Gesetz wollten. Jedenfalls haben Sie sich im Anfang anders über Altrenten ausgesprochen. Sie haben vielleicht ursprünglich daran gedacht, alle Rentner, auch die Invaliden, einzubeziehen, und das ist Ihnen dann von der Regierung unmöglich gemacht worden. Sie haben ursprünglich keinen Höchstbetrag, Sie haben ursprünglich keine Kürzungen gemäß den §§ 1274 bis 1279 RVO. gewollt. Aber hier in diesem Hause vertreten Sie die Sozialpolitik der Bundesregierung, und die Sozialpolitik der Bundesregierung in bezug auf dieses Gesetz ist nach meiner Auffassung unglücklich gelaufen.
Herr Minister, Sie haben wiederholt Herren zitiert, die hier im Hause nicht anwesend sind, Herrn Dr. Auerbach, Herrn Stock usw. Ich halte das für etwas bedauerlich, denn wir können die betreffenden Herren nicht befragen.
Ich habe nicht an der Sitzung des Ausschusses des Bundesrates teilgenommen und habe auch nicht mit Herrn Dr. Auerbach über dieses Gesetz gesprochen. Während dieser Sitzung habe ich eine Kollegin gebeten, mit Herrn Auerbach zu telefonieren, weil ich an den Beratungen hier teilnehmen wollte. Herr Dr. Auerbach gibt eine andere Darstellung der Verhandlungen im Bundesratsausschuß. Aber wir vermögen das jetzt hier nicht nachzuprüfen. Wir werden im Sozialpolitischen Ausschuß die Möglichkeit haben, auch die Vertreter des Bundesrats zu hören, und dann können sie uns ihre Meinung sagen, auch Herr Dr. Auerbach.
Sie haben dann Herrn Stock als Vorsitzenden des Verbandes der Rentenversicherungsträger zitiert. Dazu darf ich Ihnen sagen: ich habe auch mit Herrn Stock gesprochen — in den Ferien in aller Ruhe — und kenne seine Vorstellungen zu diesen Dingen im Positiven und im Negativen. Aber das ist hier nicht entscheidend.
Entscheidend scheint mir zu sein — und diesen Vorwurf muß ich aufrechterhalten —, daß dieses Gesetz eine überhastete Arbeit ist. Einen solchen Vorwurf muß ich begründen. Meine Damen und Herren, nehmen Sie sich doch bitte einmal die Begründung, die dem Bundesrat zugegangen ist, vor — Sie werden sie sich sicher beschafft haben -
und schauen Sie bitte einmal hinein. In der Begründung steht — um nur ein Beispiel zu nehmen — auf Seite 4 unter der Überschrift „Zu § 10", daß das Gesetz am 1. Dezember 1954 in Kraft treten soll, und das wird dann erläutert. Der tatsächliche § 10 behandelt aber die Arbeitslosenversicherung und enthält die Vorschrift, daß der Beitrag in der Arbeitslosenversicherung drei vom Hundert ist.
Das sind doch Dinge, die einfach nicht passieren dürfen.
Oder etwas anderes! Ich möchte meine Behauptung weiter belegen, damit ich nicht in den Verdacht komme, nur Kritik üben zu wollen. Lesen Sie sich bitte die Begründung durch, „Technischer Teil"! Sie sehen auf der Seite 10 eine Aufstellung: Berechnung der Angestelltenversicherung, mit Mehrbeträgen beginnend von 43 DM über 49 DM, 48 DM usw. Es wird für die einzelnen Renten berechnet, was der gesamte Mehrbetrag ausmacht. Das wird hinten übernommen, mit 12 multipliziert, 15 % zugeschlagen, ergibt den Aufwand. Das ist eine Berechnung, die für einen ganz anderen Entwurf, so vermute ich, aufgestellt worden ist, zu einem Entwurf, der noch keinen Höchstbetrag enthielt. So etwas kann man uns doch nicht vorlegen! Es ist eine interne Angelegenheit des Ministeriums, die Dinge vorher auszubügeln, bevor sie den offiziellen Weg zum Bundesrat gehen.
Oder um ein Weiteres zu nennen: die Berechnungen in der finanziellen Anlage schließen ein, daß keine Anrechnung nach den Kürzungsvorschriften der §§ 1274 bis 1279 RVO. - was das ist, wissen wir alle — erfolgt. Davon sind Sie ursprünglich ausgegangen. Nachher wurde Ihnen vielleicht in Kabinett oder irgendwo — ich weiß es nicht — eine solche Vorschrift gestrichen, und Sie mußten einen anderen Text des Gesetzentwurfs vorlegen. Aber es ist übersehen worden, die Berechnungen zu ändern. Wenn so etwas geschieht, dann bezeichne ich das als eine überhastete Arbeit.
Es handelt sich nicht um Einzelfälle. Von den Vorschriften der §§ 1274 ff. werden nach meinen Unterlagen über 380 000 Witwen usw. betroffen. Das ist doch keine Kleinigkeit, und das muß doch bei Dingen, die gesetzesreif sein sollen, berücksichtigt werden.
Noch etwas anderes, meine Herren! Ich bezweifle, daß die Vorschrift des § 10 bezüglich des Beitrags der Arbeitslosenversicherung vorher mit den Organen der Bundesanstalt besprochen worden ist. Ich vermag das nicht nachzuprüfen, weil ich nicht Mitglied der Organe bin.
Aber Sie werden das selbst feststellen können. Wir werden auch bei den Sachverständigenberatungen nachprüfen können, ob diese Stellen vorher befragt worden sind. Ich muß es bezweifeln, zumal es die Regierung verabsäumt hat, in der Begründung über diesen doch sehr wichtigen Tatbestand auch nur ein Wort zu sagen. Diese Dinge sind doch von volkswirtschaftlicher Bedeutung.
Ein Weiteres! Die Beiträge in der Rentenversicherung werden auf 11 % erhöht. Das ist doch keine Kleinigkeit! Sie sagen: dafür werden sie in der Arbeitslosenversicherung gesenkt. Aber das hat doch Auswirkungen, die in der Hast nicht voll bedacht worden sind.
Auch der Beitrag in der freiwilligen Versicherung wird erhöht. Für jeden der vielen Millionen Männer und Frauen, die freiwillig Beiträge zur Rentenversicherung kleben, muß nach der Fassung, wie ich sie verstehe — ich bitte mich nötigenfalls zu belehren —, eine Erhöhung um 10 % eintreten, ohne daß die Betreffenden eine erhöhte Leistung erhalten; denn die erhöhte Leistung wird nur für Beiträge bis 1939 gewährt und nicht für diese neuen Beiträge.
Das sind doch Tatbestände, die überlegt werden müssen. Ich kann hierzu nur erklären: diese Dinge sind vorher nicht genau überlegt worden. Wie es sich im einzelnen vollzogen hat, weiß ich nicht. Ich vermute, daß im letzten Augenblick andere Stellen außerhalb des Arbeitsministeriums gekommen sind und andere Vorstellungen durchgesetzt haben. Diese Dinge sind in letzter Minute hineingearbeitet worden, und dann ist die Begründung in der alten Fassung, die für einen ganz anderen Gesetzentwurf bestimmt war, herausgegangen. Das spricht meiner Überzeugung nach dafür, daß die Dinge übereilt in die jetzige Fassung gebracht worden sind. Das habe ich behauptet, und ich bitte, mich im Ausschuß zu belehren, wenn ich mich täusche.
Nun etwas anderes. Der Herr Minister hat uns berichtet, er habe selbst darüber Klage geführt, daß die Sozialenquete noch nicht vorliegt. Ich habe das mit Interesse zur Kenntnis genommen. Meine diesbezügliche Kritik bitte ich dann an den verantwortlichen Minister — ich glaube, es ist der Bundesminister des Innern — weiterzugeben. Da hat dieses Ministerium die Termine, die in Aussicht gestellt worden sind, nicht eingehalten.
Nun wurde sowohl von Herrn Kollegen Stingl wie von dem Herrn Bundesarbeitsminister erklärt, daß die Gesetzesvorlage der Sozialdemokratischen Partei schematisch sei. Man kann natürlich sagen, daß es eine schematische Regelung sei, wenn man jedem als Sonderzulage eine Monatsrente zahlt. Das soll aber keine endgültige Regelung sein, sondern wir haben ausdrücklich erklärt, daß es eine Sofortmaßnahme ist. Wenn wir unterstellen, daß die Renten, die jetzt laufen, einigermaßen sozial gerecht sind, dann ist die Lösung mit der 13. Monatsrente als Sofortmaßnahme geeignet. Ist dagegen eine Monatsrente als Sonderzahlung falsch, dann ist die gegenwärtige Rentengestaltung ungerecht, und wir müssen an die Regierung die Bitte richten, dieses Gefüge schleunigst zu verändern. Man muß fragen, warum nicht schon längst etwas getan wurde, wenn hier ein großer Mißstand vorhanden ist. Ich glaube aber, man kann bei einer Sofortmaßnahme, die schnellstens durchgeführt werden soll, durchaus berechtigt von dem gegenwärtigen Tatbestand ausgehen.
Aber noch etwas anderes. Sowohl der Herr Kollege Stingl wie der Herr Bundesarbeitsminister haben gesagt, durch die Regelung der Regierungsparteien würde eine bessere Gerechtigkeit geschaffen. Ich bin nicht dieser Auffassung. Für einen großen Teil der Rentner trifft das nicht zu; es mag sein, daß es vielleicht für einen anderen Teil der Fall ist. Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel an Hand der Tabelle des Entwurfes einmal darlegen. Ich nehme zwei Personen, die heute 60 Jahre alt sind, die das gleiche Arbeitsleben haben, genau die gleichen Beiträge in der gleichen Zeit entrichtet haben. Die Voraussetzungen sind bei beiden Personen völlig gleich. Der eine von diesen beiden ist im Jahre 1939 invalide geworden und bezieht seit 1939 eine Rente. Soweit ich die Tabelle übersehe, erhält er einen Mehrbetrag in Höhe von 45 % seines Steigerungsbetrages. Der andere hat bis 1939 die gleichen Beiträge gezahlt, ist dann in diesem Jahre aus der Versicherung ausgeschieden, weil er sich selbständig gemacht hat oder weil sein Verdienst über der Einkommensgrenze lag. Er beantragt jetzt, im Jahre 1954, seine Rente. Mit den gleichen Beiträgen bis 1939 erhält er, wie Sie aus der Tabelle sehen, einen Mehrbetrag von 16 % des Steigerungsbetrags, also etwa ein Drittel von dem, was der erste erhält. Das scheint mir mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit nicht vereinbar zu sein.
Es gibt aber noch viele, viele andere Unterschiede zwischen invalidenversicherten Arbeitern und Angestellten. Das werden wir im Ausschuß im einzelnen sehr eingehend erörtern. Ich gehe nur deshalb hier darauf ein, weil mir gesagt wurde, die Regelung des Regierungsentwurfes sei gerecht.
Gestatten Sie mir, daß ich zum Abschluß folgendes sage. Wir erheben auch den Vorwurf, daß dieser Gesetzentwurf als eine vorläufige Maßnahme
— er bringt keine endgültige Rentenreform — eine zu komplizierte Regelung darstellt. Ich muß diesen Einwand aufrechterhalten, weil die Feststellung des Tatbestandes, was Rentenbeginn ist, ein Problem für eine Doktorarbeit ist.
— Lassen Sie sich das mal von den Sachverständigen im Ausschuß sagen, Herr Kollege Arndgen. Wir werden sie darüber befragen, und Sie werden da manches zu hören bekommen. Bei den Vertriebenen ist meiner Überzeugung nach der Rentenbeginn gar nicht exakt festzustellen. Bisher war es nicht wichtig, wann die Rente in der Heimat begonnen hat, ich weiß nicht, in Polen, in der Tschechoslowakei oder sonstwo. Dieser unsichere Tatbestand soll hier zu einem wesentlichen Inhalt des Gesetzes erhoben werden, davon ist nämlich die Höhe des Mehrbetrags in wesentlichen Punkten abhängig.
Das gibt uns Anlaß zur Sorge. Selbstverständlich müssen wir uns darüber sehr eingehend unterhalten und überlegen, welche andere Regelung getroffen werden kann. Das ist aber nicht eine Sache, die über den Daumen gepeilt werden kann. Gerade deshalb schlägt meine Fraktion eine Sofortmaßnahme vor.
Meine Herren, insbesondere von der CDU, vergleichen Sie die Gestaltung dieses Gesetzentwurf es, bitte, mit dem, was der Parteitag der CDU in Hamburg in seinem Programm zur Wahl des Bundestags bezüglich der Rentenversicherung als Forderung aufgestellt hat. Ich möchte es Ihnen kurz vorlesen:
Dazu ist notwendig . . . Überführung des bisherigen, von der Not aufgezwungenen Zulagensystems in der Rentenversicherung in ein übersichtliches Berechnungssystem, das eine Selbstberechnung auch für die Empfänger der Altersrenten ermöglicht.
Ich glaube, daß der Gesetzentwurf mit diesem Grundsatz nicht in Einklang zu bringen ist.