Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Da die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei ihren Antrag Umdruck 18 als erledigt erklärt hat, kann ich diesen Punkt der Tagesordnung abschließen.
Ich rufe auf Punkt 3 der Tagesordnung: Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Sozialreform .
Wer soll den Antrag begründen? — Herr Abgeordneter Preller!
Dr. Preller , Anfragender: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, die Große Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion über den Stand der Sozialreform zu begründen, die wir am 10. März 1954 eingebracht haben. Die sozialdemokratische Fraktion ist sich dabei bewußt, daß auf die Debatte, die nun zu folgen hat, draußen die Alten und die Gebrechlichen, die Witwen und die Waisen, die Invaliden, Kranken, Kriegsopfer und Vertriebenen hören, d. h. jene, die einen so überaus großen Teil unseres Volkes ausmachen, einen Teil, der in einer viel tieferen Weise von dem betroffen worden ist, was sich in den letzten acht Jahren ergeben hat, als etwa die Beschäftigten oder auch die kleine Schicht derer, die recht eigentlich die Früchte des Wiederaufbaus davongetragen haben. Aber wir wissen auch, daß weit über die Kreise der SPD hinaus eine sozialpolitisch interessierte Öffentlichkeit — ich meine damit jene, die aktiv an einer positiven Sozialpolitik arbeiten — nach diesem Plenarsaale sieht, eine Öffentlichkeit, die ich nicht allein aus Wissenschaft oder Verwaltung, Zeitungen und Zeitschriften und der Presse, sondern aus Sozialpolitikern aller Parteien, einschließlich der Regierungsparteien, zusammengesetzt sehe; denn bis in die Regierungsparteien hinein ist, wenn ich recht sehe, das Wort des Bundeskanzlers in der Regierungserklärung von der notwendigen umfassenden Sozialreform so verstanden worden, daß mindestens nunmehr im 2. Bundestag die bisher notwendig im Vorrang stehende Außenpolitik durch eine aktive Innenpolitik ergänzt werden solle, eine Innenpolitik, die dem tiefen Einbruch in das soziale Gefüge, den Nazismus und Krieg bewirkt haben, eine positive Sozialpolitik gegenüberstellen soll, die die Wunden heilt und darüber hinaus eine neue soziale Ordnung herbeiführt. Nicht umsonst, glauben wir, hat der Herr Bundeskanzler am 20. Oktober das Wort „umfassend" vor die Sozialreform gestellt. Als er dieses Beiwort verwandte, hat er zweifellos nicht allein an eine Reform der bestehenden Sozialversicherung gedacht. Ich mache diese Feststellung, und wir werden zu der damit zusammenhängenden Frage, der Frage nach der Art der gedachten Sozialreform durch gewisse Äußerungen des zuständigen Ressortministers und des Ministers Storch genötigt, wie er sie z. B. kürzlich in der Haushaltsdebatte getan hat, die darauf schließen lassen, daß er offenbar die Reform der Sozialversicherung vor den Beginn einer allgemeinen Sozialreform gesetzt sehen möchte.
Unsere erste grundsätzliche Frage auf Grund unserer Anfrage lautet deshalb: Wie soll die Sozialreform aussehen und welchen Umfang soll sie haben? Soll sie sich auf die gegenwärtig in der Sozialversicherung Betreuten beziehen oder beschränken? Soll sie in ihren Problemkreis die Selbständigen einbeziehen, von denen wir ja wissen, daß sie heute insbesondere nach einer Altersversorgung allenthalben rufen? Wird sie die Krankenversicherung und das Arztproblem erfassen? Wird die Sozialreform sich auch auf die Kriegsopfer und eventuell auf die Vertriebenen erstrecken? Wie ist das Verhältnis einer Sozialreform dieser Art zur Fürsorge gedacht? Endlich: Wie steht sie zu dem großen Problem der Vorbeugung und Vorsorge gegen gesundheitliche Schädigung, d. h. zu der Verwirklichung jener großartigen Idee, die insbesondere die Weltgesundheitsorganisation immer wieder in den Vordergrund gestellt hat, nämlich daß Gesundheit ein Gut sei, auf dessen Erhaltung und Förderung nicht erst Bedacht genommen werden sollte, wenn der Mensch von Krankheit befallen ist, wenn er Schaden an Leib und Seele nehmen muß?
Meine Damen und Herren, Sozialreform ist ein großes Wort, das wissen wir alle. Sie mögen es uns nicht übelnehmen, wenn wir ein wenig Skepsis in oder gegen dieses Wort des Herrn Bundeskanzlers einfließen lassen, nachdem wir doch erleben mußten, daß die Parole des Bundeskanzlers im 1. Bundestag, er wolle „so sozial wie möglich" sein, mindestens oder überhaupt von der Regierungskoalition offensichtlich mehr im einschränkenden Teile verstanden worden ist.
— Das kann ich Ihnen sehr leicht beweisen, Herr Kollege Horn.
— Ich denke etwa daran, daß Sie die 25%ige Rentenzulage gefordert haben, daß aber entgegen Ihrem Beschluß nur die Hälfte all derer, die in Betracht kommen, eine 25%ige Rentenzulage bekommen haben. Oder ich denke an das unglückselige Dreimarkgesetz, das wir selbst alle bedauern.
- Nein, da sind wir damals an jenem Nachmittag
unter Druck gesetzt worden, Herr Winkelheide.
Ich glaube, Sie waren noch gar nicht im Bundestag,
Sie sind ja erst später eingetreten, als wir damals sozusagen binnen fünf Minuten ein solches Gesetz beschließen sollten. Oder ich denke an die Erhöhung der Grundrenten, wo ja auch von Ihnen zunächst einmal diese Frage aufgegriffen wurde. Was herauskam, waren die fünf Mark, die der Herr Bundesfinanzminister dann trotz der Weihnachtszeit nicht einmal ohne weiteres auszahlen wollte. Wir haben Beispiele genug.
Die Zurückhaltung gegenüber diesem Bundeskanzlerwort beruht im übrigen auf mehreren Feststellungen. Einmal hat der Bundeskanzler selbst in der Regierungserklärung eine Beschränkung des Sozialhaushalts auf den gegenwärtigen Anteil am Sozialprodukt vorgenommen, d. h. er erklärte, daß eine Ausweitung des Sozialhaushalts an das Ansteigen des Sozialprodukts gebunden sei. Das ist ganz offenbar die These des Finanzministers, der in seinem Bundeshaushalt, obwohl doch die Notstände der Versicherten und Versorgten von uns allen anerkannt sind, keinerlei Vorsorge für irgendwelche Leistungserhöhungen getroffen hat, im Gegenteil, wie wir wissen, diese halbe Milliarde noch aus den Versicherungsträgern herausgeholt hat. Draußen sind Millionen von Menschen auf das angewiesen, was sie von den Schaffenden aus dem Sozialprodukt erhalten werden. Die Bundesregierung hat darin offenbar bisher mehr ein fiskalisch es Problem gesehen. Wir müssen Ihnen dazu sagen, daß das kein fiskalisches Problem ist. Es ist einmal eine volkswirtschaftliche Frage und zum andern — darauf legen wir besonderen Wert — eine Frage menschlicher Gesinnung in einer Zeit, in der wir doch in Deutschland alle zusammenstehen sollten.
Zum zweiten. Der Bundeskanzler sprach von einer Umschichtung innerhalb des Sozialhaushalts. Dieses reichlich undurchsichtige Wort mußte jeden Sozialpolitiker aufhorchen lassen. ,Man kann sich natürlich vorstellen, daß in erster Linie die niedrigsten Renten aufgebessert werden; aber das wäre eine Art Phasenverschiebung, keine Umschichtung. Umschichtung heißt doch offenbar, um hier gewisse Presseäußerungen unter die Lupe zu nehmen, daß dem einen etwas genommen werden
soll, um es dem andern zu geben. Das müßte man darunter verstehen, wenn dieses Wort überhaupt einen Sinn haben soll.
Ich möchte mich hier auf die „Hannoversche Allgemeine Zeitung" beziehen, die am 14. April schrieb, daß derjenige, der eine Rente aus der Sozialversicherung bekomme, künftig Nebenrenten aller Art nicht mehr erhalten solle, so daß, wie die „Hannoversche Allgemeine Zeitung" weiter schreibt, wahrscheinlich Hunderte von Millionen Mark eingespart werden könnten.
Entspricht das Ihren Absichten, Herr Minister?
Das möchte ich in diesem Zusammenhang fragen.
Weiter ist zu fragen: Wo soll gekürzt werden, um anderweit aufstocken zu können? Sind es etwa die Mindestrenten, denen man zu Leibe rücken will? Sollen die unglückseligen Anrechnungsbestimmungen erneut vermehrt werden? Ist es der in diesem Hause von dem Herrn Kollegen Atzenroth, der von der FDP vorgetragene Gedanke einer Umschichtung von der Arbeitslosenversicherung auf die Rentenversicherung? Steckt das etwa hinter diesen Worten des Bundeskanzlers? Oder will man, worauf das Finanzministerium offenbar abzielt, die Bedürftigkeitsprüfung ganz oder teilweise an die Stelle des heutigen Rechtsanspruchs setzen?
Wir haben den Eindruck, daß in dieser doch wohl entscheidenden Frage außerordentliche Unklarheit, ja, ich glaube, sogar Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierung und der Koalitionsparteien bestehen. Aber die Menschen draußen, die es angeht, wollen ja schließlich wissen, wohin diese sozialpolitische Reise gehen soll.
Ein Drittes, was uns Sorge macht, das ist — gestatten Sie, daß ich es so ausdrücke — die durchsichtige Undurchsichtigkeit der Äußerungen des Arbeitsministers über die Arbeiten an der Sozialreform. Wir wissen alle, daß unser Kollege Storch nicht unberedt ist. Wir werden heute wohl noch einige Proben davon bekommen. Bezüglich der Sozialreform haben wir aber seit Monaten nur Worte, nur Redewendungen gehört. Ich habe niemanden gefunden, auch nicht bei der Koalition, der sich den rechten Vers aus diesen vielen Worten hätte machen können. Acht Tage nach der Regierungserklärung, am 22. Oktober, hat Herr Minister Storch vor Pressevertretern erklärt, daß sein Plan der Altrentenerhöhung die erste Maßnahme zur Sozialreform darstellte. Es folgten in fast regelmäßigen Abständen weitere Aussagen über die Altrentenerhöhung. Unterdessen konnte der Eindruck entstehen, daß nach der Auffassung unseres Kollegen Storch die umfassende Sozialreform, die der Bundeskanzler angekündigt hatte, sich in der Altrentenerhöhung, in Maßnahmen auf dem Gebiet des Arztrechts und vielleicht noch der Rentenkrankenversicherung erschöpfen könne. Gewisse Äußerungen von Ministerialdirektor Eckert lassen darauf schließen — er ist ja der zuständige Ressortdirektor —, daß diese drei Dinge gemeint sind, wenn von Sozialreform gesprochen wird.
Der Minister hat schließlich bei der Haushaltsdebatte erklärt, daß die Sozialreform seit langem angesagt sei. Ja, meine Damen und Herren, angesagt ist sie, weiß Gott, schon sehr lange. Aber wir fragen, was über dieses Ansagen hinaus geschehen ist, und ich glaube, da ist die andere Äußerung von Ihnen, Herr Minister, bei dieser Haushaltsdebatte aufschlußreicher, wo Sie präzis sagten, zunächst müßten die „größten Notstände" in der Sozialversicherung beseitigt werden, und erst dann, so sagten Sie, könne man an grundsätzlichere Fragen herangehen.
Soll das bedeuten, Herr Minister — und das möchten wir hier wiederum fragen —, daß Sie zunächst eine Reform der Sozialversicherung durchführen und erst dann das Problem der Sozialreform in Angriff nehmen wollen? Wenn dies Ihre Absicht sein sollte, so trennen sich nicht nur Ihre und unsere Auffassungen, sondern ich fürchte, daß Sie sich auch in einem grundlegenden Widerspruch zu den seit langem geäußerten Auffassungen in der sozialpolitischen Wissenschaft und auch in der sozialpolitischen Publizistik befinden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang mit Genehmigung des Herrn Präsidenten den „Arbeitgeber", die Zeitschrift der Arbeitgeberverbände, vom April dieses Jahres zitieren, wo ausgeführt wurde, daß der Herr Minister offenkundig — so heißt es dort — sein Interesse an der Sozialreform hartnäckig auf die Sozialversicherung begrenze. Schon sagt dieses Blatt — die Kriegsopferversorgung liege ihm fern, und mit Dingen der Fürsorge wolle er gleich gar nichts zu tun haben. Und das Blatt fährt unter Hinweis auf die Mackenrodtschen Untersuchungen über die Rentenkumulation fort:
Soweit diese Verflechtungen von Sozialrenten mit Sozialleistungen anderer Art nicht
zur Kenntnis genommen werden, wird die
große Aufgabe der Sozialreform nicht erkannt.
Wir können uns dem weitgehend anschließen.
Ich verkenne im übrigen nicht, daß der Herr Arbeitsminister mindestens einen Zusammenhang zwischen der Reform der Sozialversicherung und dem, was er in jener Debatte im Zusammenhang mit dem Problem der Invalidität Gesundheitsdienst — wahrscheinlich nach dem englischen Vorbild — genannt hat, gesehen hat. Aber, Herr Minister, läßt sich die Frage der gesundheitlichen Vorbeugung überhaupt noch innerhalb der Sozialversicherung lösen? Müssen dann nicht auch die vorbeugenden Maßnahmen der Kriegsopferversorgung, der Fürsorge, des öffentlichen Gesundheitswesens mit in diese Betrachtung einbezogen werden?
Ich möchte hier erinnern an die Bestrebungen der Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitswesen unter Prof. Coerper in Frankfurt, die doch ganz deutlich gemacht haben, daß eine Verflechtung der Fragen der sozialen Sicherung, im engeren Sinne, mit den Fragen der Gesundheitsförderung im weiteren Sinne besteht.
Wir fragen also den Herrn Bundesarbeitsminister, welche Vorarbeiten zur Sozialreform er bereits geleistet hat. Es ist uns durchaus bekannt, daß seit dem Tage unserer Großen Anfrage im Hause Storch fieberhaft gearbeitet wird. Aber uns kommt es darauf an, was der Herr Bundesarbeitsminister aus eigener Initiative — nicht erst weil die SPD eine Initiative ergriffen hat —, also vor dem 10. März 1954, vorbereitet hatte, und zwar zur Sozialreform und nicht nur zur Reform der Sozialversicherung. Ich möchte gar keinen Zweifel daran lassen, daß wir Sozialdemokraten, wie ich sagte, zusammen mit einer weiten sozialpolitischen Öffentlichkeit eine Trennung der Arbeiten an der Reform der Sozialversicherung und der Arbeiten an der Sozialreform für verhängnisvoll halten würden. Wir glauben, daß damit der Weg zu der vom Bundeskanzler angekündigten umfassenden Sozialreform praktisch verbaut würde.
Wir möchten aber vor allem und entscheidend zum Ausdruck bringen, daß sofort jetzt mit der Durchleuchtung des gesamten schwierigen Stoffes begonnen werden müßte, daß über die zweifellos verdienstvolle sogenannte L-Enquete des Statistischen Bundesamtes dabei noch hinausgegangen werden muß und daß aus einer solchen freien, wir betonen: freien Untersuchung eine Durchforstung dieses üppigen Gestrüpps von Paragraphen und Systemen der gegenwärtigen sozialen Sicherung in Deutschland herauskommen müßte, damit die Leute draußen endlich einmal ein übersichtliches System vorfinden, etwas, wonach sie sich ihre Rente berechnen können, damit sie nicht auf die Beamten irgendwelcher Ämter angewiesen sind, sondern damit sie wissen, woran sie sind.
Das fordert man. Sie wissen, daß wir Sozialdemokraten eine eigene Vorstellung über ein solches Sozialprogramm erarbeitet haben; aber davon wollen wir hier und heute nicht sprechen. Uns kommt es heute darauf an, festzustellen, welche Vorarbeiten geleistet worden sind und wie wir beschleunigt zu der Sozialreform, die dringend erforderlich ist, kommen.
In diesem Zusammenhang zwei Worte über die Altrentenerhöhung. Ich darf vorweg bemerken, daß meine Fraktion diesen Gedanken absolut bejaht, weil er ja im Grunde eine Wiedergutmachung des Unrechts an älteren Renten bedeutet oder bedeuten soll. Wir möchten mit unserer Großen Anfrage eine genaue — ich betone: eine genaue — Antwort des Herrn Bundesarbeitsministers erbitten, wie er sich diese Altrentenerhöhung vorstellt und, vor allen Dingen, wann er mit dem entsprechenden Gesetzentwurf vor dieses Haus treten will. Der Herr Bundesarbeitsminister hat in der Haushaltsdebatte erwähnt — es ist kürzlich auch noch einmal durch das Bulletin und die Presse wiederholt worden —, er habe der zuständigen Abteilung seines Hauses, wie er sagte, Sperre für jede andere Arbeit auferlegt. Das bestärkt allerdings unsere Befürchtung, daß der Herr Minister über diese Sache vorerst nur geredet, sich aber damals noch keine konkreten Vorstellungen über die Verwirklichung erarbeitet hatte. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal den „Arbeitgeber", die Zeitschrift der Verbände der Arbeitgeber, zitieren, die ausführte, daß „der Herr Bundesarbeitsminister unausgesetzt von der Altrentenerhöhung spricht, obwohl, wie er zugibt, auch dafür die versicherungsmathematischen Grundlagen und alle davon abhängenden Details der Anspruchsberechtigung noch nicht erarbeitet sind." Wir glauben, daß diese Aussage auch heute noch zu Recht besteht. Aber, Herr Minister, sicher haben Sie genau so wie wir Abgeordneten alle die Briefe von den alten Leuten bekommen, die nun fragen, wann sie denn die 30 Mark erhalten, die seinerzeit nach einer Rede von Ihnen als die Rentenerhöhung durch die Presse gegangen sind. Wir wären selbstverständlich erfreut, wenn es zu diesen 30 Mark monatlich käme; aber Sie erlauben, daß wir nach den vorhin genannten Erfahrungen mit dem Rentenzulagengesetz es für außerordentlich bedenklich halten, daß Hoffnungen mit konkreten Zahlenangaben in einer Zeit erweckt worden sind, zu der Sie — notorisch — die erforderlichen Unterlagen noch gar nicht in der Hand gehalten haben. Uns sind die alten Leute jedenfalls zu gut dazu, um ihre Angelegenheiten zum Spielball politischer Reden zu machen.
Ferner: wie steht es denn mit den entsprechenden Aufwertungsklauseln für die Renten derjenigen, die nach 1945 ihre Rente bekommen haben? Wie steht es mit der so lange schon fälligen Gleichstellung der sogenannten älteren Witwen, jenen, die also vor dem Juni 1949 verwitwet sind, mit den jüngeren Witwen? Wie steht es mit der Vermehrung der Mittel für die Gesundheitsvorsorge, die Sie, Herr Minister, erfreulicherweise ebenfalls für erforderlich halten? Wie steht es mit der Angleichung von Grundbetrag und Steigerungsbeträgen in der Arbeiter- und Angestelltenversicherung, also mit der Erfüllung des Grundsatzes, daß für gleichen Beitrag auch eine gleiche Leistung gegeben werden soll?
Wenn man in der Art, wie es bisher den Anschein hat, Stück für Stück und ohne eine rechte Vorstellung von der Gesamtordnung vorgeht, hier mal etwas gibt, dort etwas gibt, dann wird es allerdings nicht ausbleiben, daß weitere Mittel im Haushalt benötigt werden. Gerade darum halten wir eine organische Sozialreform für so dringend notwendig, weil nur durch eine solche Reform festgestellt werden kann, was an Mitteln tatsächlich gebraucht
wird und wie sie sinnvoll verteilt werden können. Es geht uns, um ein Wort von Professor Nell-Breuning, der auch von uns hoch verehrt wird, zu gebrauchen, darum, daß eine soziale Strukturpolitik betrieben wird und nicht eine Politik des Denkens in Stückchen und in Flicken.
Will man aber eine solche umfassende Sozialreform, wie der Bundeskanzler sie angekündigt hat, so wird auch der Weg ungangbar, den die Bundestagsmehrheit seinerzeit mit der Schaffung des sogenannten „Beirates für die Neuordnung der sozialen Leistungen" im Februar 1952 gehen wollte. Wir werden j a die Antwort des Herrn Bundesarbeitsministers auf unsere Fragen hören. Herr Bundesarbeitsminister, wenn Sie diese Antwort mit einer letzten Aufrichtigkeit, und um die bitten wir Sie, geben, dann müßten Sie das Versagen dieser Institution, dieses Beirates feststellen, ein Versagen — das möchte ich gleich sagen, und das wissen wir alle —, das nicht etwa auf die unglückseligen Mitglieder dieses Beirates zurückzuführen ist, sondern auf den Deckel, der auf diese Medizinflasche aufgepfropft worden ist durch die Bestimmung, daß der Minister oder sein Stellvertreter den Beirat leiten sollen.
Wenn Sie wollen, kann ich das vielleicht auch in etwas freundlicherer Weise sagen. Mir kommt dieser Beirat vor wie ein Frühlingsbeet aus Blumenzwiebeln, deren Keime durch einen Stein gehindert werden, nach oben zu kommen, nämlich durch den Stein des Anstoßes, den die Bürokratie des Ministeriums diesem Beirat bedeutet hat.
Es ist uns bekannt — das möchte ich gleich bemerken, Herr Minister —, daß Verhandlungen im Gange sind, wenigstens die Unterausschüsse dieses Beirats, die jetzt vor wenigen Wochen nach unserer Anfrage eingerichtet worden sind, ein wenig unabhängiger vom Ministerium zu machen. Aber, Herr Minister, wir wissen auch, welcher Kraftanstrengungen der Beiratsmitglieder, aber auch zum Teil der Mitglieder der Koalitionsparteien es bedurfte, um die Bürokratie Ihres Ministeriums auf diesem Gebiet zu Zugeständnissen zu bewegen. Wir wissen, daß erst die Sitzung vom 3. Juni, die folgen wird, auf diesem Gebiet wirkliche Entscheidungen bringen kann. Wir möchten Sie also bitten, Herr Minister, uns nicht etwa hier vorzutragen, daß bereits alle Schwierigkeiten überwunden seien, geschweige denn, daß die Unterausschüsse, wie das Bulletin vom 30. April behauptete, ihre Aufgaben bereits aufgenommen hätten. Nein, nein, sie sind erst am Anfang ihres Beginns.
Das andere große Hemmnis dieses Beirats ist die Marschroute, die ihm bezüglich des Systems mit auf den Weg gegeben worden ist. Professor Mackenroth hat in seiner unterdessen ja bekanntgewordenen Untersuchung festgestellt, daß höchstens die Hälfte aller Sozialleistungsempfänger nur eine Rente beziehen, daß aber alle anderen mehrere solcher Leistungen aus Versicherung, Versorgung oder Fürsorge erhalten. An Hand des begrenzten Materials, das er in Kiel hatte, mußte er bereits feststellen, daß es 171 Möglichkeiten der Kombination von zwei Renten gibt
und daß es 83 Kombinationsmöglichkeiten von drei Renten gibt, ferner, daß im Höchstfall für eine Familie zwölf Renten nebeneinander legal gewährt und bezogen werden können. Diese Untersuchungen von Mackenroth sowie von den Professoren Achinger, Neundörfer und anderen haben doch mit Deutlichkeit gezeigt, daß wir auf dem Weg dieser Systeme, die zu solchen Zuständen geführt haben, nicht weiterkommen. Diese Marschroute ist eben keine Konzeption, sondern sie ist praktisch ein Hindernis für eine unbefangene Erkenntnis des Notwendigen und des Möglichen.
Ganz offenbar sind auch andere Stellen als wir dafür, daß den untersuchenden Stellen eine solche Bewegungsfreiheit gegeben werden müsse. Ich brauche hier nur an die Beschlüsse des Bundesausschusses der CDU vom März dieses Jahres zu erinnern, die nach eingehender Sitzung und, wie man gelesen hat, auf Grund eines Referats des Herrn Kollegen Horn wenigstens die Unabhängigkeit des Beirats vom Bundesarbeitsminister gefordert haben, ein Wunsch, dem sich, soviel ich weiß, auch der Sozialpolitische Arbeitskreis der CDU-Fraktion angeschlossen hat, der aber offensichtlich auf Einspruch des Bundesarbeitsministers Storch bisher nicht verwirklicht worden ist.
Die sozialpolitische Publizistik ist noch viel weiter gegangen, als es begreiflicherweise der Sozialpolitische Ausschuß der CDU tun konnte. Professor Achinger schrieb in der „Wirtschaftszeitung" vom 12. Dezember 1953:
Als der Bundestag den Antrag der SPD auf Schaffung einer sozialen Studienkommission verwarf, um diesen Beirat an ihre Stelle zu setzen, erschien dies vielen als ein Sieg der Bürokratie des Bundesarbeitsministeriums, die ungestört zu bleiben wünschte.
Professor Achinger fährt in der „Wirtschaftszeitung" fort:
Dieser Erfolg scheint nach dem bisherigen Verlauf gesichert. Zwischen der Sozialverwaltung und der Wirklichkeit
— sagt Achinger —
ist eine Wand aus Milchglas errichtet.
Aus der Fülle der überaus heftigen Kritik, die
die faktische Lähmung dieses Beirats gefunden hat,
möchte ich nur noch das „Handelsblatt" vom
22. März dieses Jahres zitieren. Dort heißt es:
Dem beim Bundesarbeitsminister gebildeten Beirat haben wir auf Grund seiner Konstruktion eine große Chance nie gegeben. Was dieser Beirat aber bisher an tatsächlicher Arbeit geleistet hat, ist erschütternd. Das ist nicht die Schuld seiner Mitglieder, vielmehr
— sagt das „Handelsblatt" —
hat der Bundesarbeitsminister offensichtlich nichts getan, um ihm Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Wenn
— so fährt das Blatt fort —
schon heute einige seiner Mitglieder die dem Beirat gewidmeten Stunden zu den verlorenen ihres Lebens zählen
und sich ernsthaft überlegen, ob sie sich als Aushängeschild des Bundesarbeitsministers
— das Blatt sagt: „man verzeihe diesen Ausdruck" —
verschleißen lassen wollen, — —
So das „Handelsblatt", das ja wohl nicht im Geruch steht, sozialdemokratisch zu sein.
Diese Lähmung, die seitens des Arbeitsministeriums über den Beirat gelegt worden ist
und die nun auch nicht etwa durch die Galvanisierungsversuche des Herrn Arbeitsministers in den letzten Wochen beseitigt werden kann, hat praktisch bereits dazu geführt, daß andere Ministerien dieses Kabinetts sich unterdessen mit der Sozialreform befaßt haben. Der von mir schon mehrfach zitierte Referent des Bundesfinanzministeriums hat in seinem bekannten Artikel in der „Welt" im November am Schluß die Forderung erhoben nach der sofortigen Einsetzung einer Regierungskommission für die Reform der sozialen Hilfe nach Art einer Royal Commission, und zwar beim Bundeskanzleramt. Ich möchte dies als einen Ausweg aus der Verzweiflung über das Nichtfunktionieren des Bundesarbeitsministers bezeichnen.
Dieser Weg wurde wiederum vom „Arbeitgeber" dahin interpretiert, daß der Gedanke einer Studienkommission, den der „Arbeitgeber" ausdrücklich als den Gedanken der sozialdemokratischen Fraktion Anfang 1952 bezeichnet, inzwischen
— wörtlich zitiert —
auch die Zustimmung besonders des Bundeskanzleramtes, des Innen-, des Vertriebenen-und des Wohnungsbauministeriums gefunden hat. Hier
— sagt das Arbeitgeberblatt —
bekommt der Arbeitsminister den Weg vorgetreten.
Wir wissen, daß das stimmt, auch aus anderen Quellen. Sie besagen im Grunde nichts anderes, und das ist das überaus Bedauerliche, als daß der zuständige Ressortminister sich die ihm zukommende Initiative hat aus der Hand nehmen lassen.
In diesem entscheidenden Augenblick, wo er seit zwei Jahren bereits diesem Hause Vorschläge sollte unterbreiten können, steht er quasi mit ,leeren Händen vor Volk und Parlament. Und selbst, Herr Minister, wenn Sie sich, wie wir glauben, unterdessen eines Besseren besonnen haben, kann Sie doch niemand — und ich bedauere das als erster — von der Schuld dieser verlorenen zwei Jahre freisprechen, zweier Jahre, die die Alten und die Gebrechlichen ohne Notwendigkeit in Not gelassen haben.
Herr Minister, ich möchte noch einmal — bei aller Sympathie — betonen: wir sind die ersten, die eine solche Entwicklung bedauern, weil wir glauben, daß damit die notwendige Autorität eines Bundesarbeitsministers in einem Kabinett geschmälert wird. Aber, Herr Minister, Sie selbst haben der SPD die neutrale Studienkommission, die wir im Februar 1952 gefordert haben, damals mit folgenden Worten verweigert:
Ich bin der Meinung, daß die Zusammenarbeit zwischen diesem Beirat und dem zuständigen Ministerium viel schneller zu positiven Ergebnissen führt, als wenn man eine Studienkommission einsetzt.
Das war vor zwei Jahren, Herr Minister. Sie haben damals prophezeit, daß in einem halben Jahre, wie sie sagten, in der zweiten Hälfte des Jahres 1952, eine Gesetzesvorlage über die Neuordnung der Sozialversicherung vorgelegt werden würde. Tag für Tag in diesen zwei Jahren haben
die Notleidenden und hat auch das ganze Haus auf dieses Gesetz gewartet.
Bei der Haushaltsdebatte vor wenigen Wochen haben wir dagegen aus Ihrem Munde gehört, daß nun erst an die Neuordnung der Sozialversicherung herangegangen werden solle. Herr Minister, stimmt nun Ihre Aussage vor zwei Jahren, daß Sie die Sozialversicherungsreform in einem halben Jahre vorlegen könnten, oder stimmt Ihre Aussage vor Ostern, daß Sie jetzt erst an die Reform der Sozialversicherung herantreten?
Aber nicht einmal zur Prüfung der laufenden Gesetzesvorlagen durch den Beirat ist es gekommen. Sie haben, Herr Minister, auf die Anfrage meines Freundes Schellenberg in der 261. Sitzung des Bundestages geantwortet, die Frage der Beseitigung unterschiedlichen Rechtes in der Invaliden- und Angestelltenversicherung gehöre vor den Beirat. Sie haben die gleiche Antwort auf unsere damaligen Anträge zur Verbesserung der Steigerungsbeträge in der Angestelltenversicherung und zur Erhöhung der Grundbeträge gegeben. Merkwürdigerweise steht der Beirat ja unter Geheimhaltungspflicht. Warum, das weiß kein Mensch. Aber neulich hat ein Mitglied, der Staatssekretär Auerbach, auf eine Anzapfung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" mitgeteilt, daß dem Beirat bisher weder Gelegenheit gegeben wurde, das Problem der Kinderbeihilfen noch das der Aufwertung der sogenannten Altrenten auch nur zu erörtern.
Das heißt doch, Sie, Herr Kollege Storch, haben Zusicherungen gegeben, und Ihr Ministerium hat sie nicht gehalten.
Wenn wir heute erneut den Gedanken einer unabhängigen Sozialen Studienkommission aufgreifen, so wissen wir uns in dieser Forderung nicht nur mit sozialpolitisch maßgebenden Kreisen auch der Regierungspartei CDU einig, sondern auch mit der gesamten sozialpolitischen Wissenschaft und Presse. Der Verein für öffentliche und private Fürsorge hat z. B. auf dem Deutschen Fürsorgetag im Oktober 1953 einen unabhängigen Rat von Persönlichkeiten aus Wissenschaft, sozialer Praxis und Verwaltung gefordert. Der Verein hat diese Forderung dem Herrn Bundeskanzler bzw. dem Bundeskanzleramt übermittelt, und wenige Tage danach, im November, hat das Bundeskanzleramt bereits geantwortet, daß dieser Vorschlag die besondere Aufmerksamkeit des Bundeskanzlers gefunden habe und deshalb einer genauen Prüfung unterzogen werde. Die Verwirklichung auch dieses Vorschlags des Vereins ist aber, wenn wir richtig unterrichtet sind, wiederum am Bundesarbeitsministerium gescheitert. Herr Minister, geben Sie dem Verein nun eine Zusage, einen solchen unabhängigen Rat der Studienkommission zu errichten! Sie haben diese Möglichkeit. Sie brauchen nicht einmal einen Beschluß des Bundestags dazu. Die Bundesminister für Wirtschaft, der Finanzen, für Wohnungsbau haben sich Beiräte angegliedert, ohne daß irgendein Beschluß des Hauses vorlag. Geben Sie die Möglichkeit, einen wirklich unabhängigen Rat zu bilden, der Ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht! Wir sind dabei auf Prioritätsrechte in keiner Weise erpicht. Geben Sie dem Verein diese Antwort! Uns kommt es darauf an, daß nun endlich einmal eine obiektive Untersuchung stattfindet und daß Vorschläge
von Sachverständigen, die außerhalb der Sphäre des Ministeriums stehen und die in einer freien Atmosphäre arbeiten, diesem Hause in Kürze vorgelegt werden. Es sind bei der Debatte im Februar 1952 Bedenken wegen unseres Vorschlags einer Royal Commission erhoben worden. Nun, unterdessen hat der Abgeordnete Vogel von der CDU in der Haushaltsdebatte eine solche Royal Commission für das notwendige Instrument derartiger Untersuchungen angesprochen. Ich hoffe also, daß die CDU nicht mehr gegen Royal Commissions ist. Außerdem hat der Bundesinnenminister Schröder für die Wahlrechtsreform nach Pressemeldungen ebenfalls solch ein Instrument vorgeschlagen. Daher möchte ich Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, bitten, etwa begreifliche Prestigeerwägungen zurückzustellen. Ich erkläre unsererseits, daß es uns nur darauf ankommt, eine unabhängige Studienkommission zu erhalten. Über deren Form sollten wir im einzelnen durchaus miteinander reden, schon deshalb, weil wir keinen King oder Roi haben, an den wir eine solche Kommission angliedern könnten. Aber, Herr Minister und meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, handeln Sie rasch und ergreifen Sie die von Ihnen in diesem Sinne so oft angesprochene Hand der Opposition, die mit Ihnen zusammen eine gemeinsame Sorge beseitigen möchte!
Wir hoffen, meine Damen und Herren, daß wir mit dem ganzen Hause einig sind in der Forderung auf eine baldmögliche Vorlage von Untersuchungen, die Aufschluß geben über die Verkettung und Verflechtung der heutigen sozialen Leistungen, und zum anderen eine Ordnung der sozialen Leistungen, die wenigstens — ich glaube, da können Sie alle zustimmen — folgende Mindesterfordernisse bringt: 1. Klarheit und Übersichtlichkeit der sozialen Leistungen, 2. kein Systemdogmatismus, wie er leider manchmal hier gepredigt worden ist, 3. Aufstockung vor allem der niedrigen Renten von langjährigen Beitragszahlern und deren Angehörigen, 4. Anpasung der rentenähnlichen Leistungen aller Art aneinander, 5. Erhaltung erworbener Rechtsansprüche, 6. umfassende Vorbeugung zur Erhaltung der Gesundheit der Bevölkerung und 7. Beseitigung langfristiger Arbeitslosigkeit.
Meine Damen und Herren, draußen warten Millionen von Menschen darauf, daß sie endlich mehr als Worte und Versprechungen hören, daß sie nicht immer nur stückweise und damit letztlich doch unzulängliche Verbesserungen erhalten. Ich darf noch hinzufügen, es entspricht ja einem begreiflichen Wunsch und einer begreiflichen Sehnsucht der Menschen, von ihren bittersten Sorgen befreit zu werden, und um diese Sehnsucht eines notleidenden großen Teils deutscher Menschen handelt es sich heute bei dem Gespräch über die Sozialreform. Ich erinnere mich an eine der entscheidenden Szenen in dem bekannten Buche „Vom Winde verweht" von Margret Mithell. Dort sagt dann eine Frau in der Verzweiflung: „Nie wieder hungern! Nie wieder frieren!" Nun, das ist die Situation von vielen Menschen draußen. Ich möchte aber ausdrücklich hinzufügen, es geht diesen Menschen und uns nicht nur um diese materiellen Werte, sondern darum, daß hier ein echtes sittliches Anliegen an die Gemeinschaft vorliegt. Es geht um einen Block von mindestens 6 Millionen Menschen, die allein auf Renten und Unterstützungen angewiesen sind. Es geht darüber hin-
aus um weitere Millionen von Menschen, deren Einkommen aus Rente oder Unterstützung so niedrig ist, daß sie häufig nicht einmal die Richtsätze der Fürsorge erreichen, so daß die Fürsorge dann noch eingreifen muß. Dieser Block aus materieller und aus seelischer Not ist außerdem politisch gefährdet durch den Kalten Krieg zwischen Ost und West. Wir wissen, der Kommunismus ist in der Bundesrepublik weitgehend zurückgedämmt. Aber seine Ursache, die Verzweiflung, lebt doch heute noch in Millionen deutscher Menschen. In der Hitlerzeit hat man davon gesprochen, diese Menschen würden wegsterben, ja, man hat damals das frivole Wort vom Friedhofsgemüse für die Rentner geprägt. Meine Damen und Herren, heute sollten wir doch darin einig sein, daß jeder Mensch, der unverdient in Not geraten ist, unserer sofortigen aktiven und bedingungslosen Hilfe bedarf, weil der Mensch, der unsere Zeit bewußt durchlebt hat, für uns ein unersetzlicher Wert ist, weil er eben nicht ein Almosenempfänger ist, sondern weil er ein Mensch ist, dem wir Dank für das schulden, was er für uns geleistet hat.
Lord Pakenham hat im übrigen neulich in Bonn geäußert, Waffengewalt allein genüge nicht, es müsse auch sozialer Einfluß in den Völkern lebendig sein.
Das alles wollen Sie bitte bedenken, wenn hier etwa davon gesprochen wird, daß die Sozialreform noch eine gute Weile habe. Wir meinen, daß zwar gründlich untersucht, aber dann rasch und vor allem durchgreifend gehandelt werden muß. Seit jenem Februar 1952, wo wir die Soziale Studienkommission und damals bereits auch die umfassende Sozialreform forderten, sind zwei Jahre verstrichen.
Heute wollen wir nicht über diese zwei Jahre im einzelnen rechten. Aber, Herr Minister, wir dürfen Sie bitten — und wir vertrauen darauf, daß Sie es tun —, Ihre Antwort auf unsere Große Anfrage so zu geben, daß daraus die Erkenntnis dieser zwei Jahre spricht, daß sie verwertet werden kann und daß die berechtigten Erwartungen von nicht weniger als 12 Millionen Menschen erfüllt werden, Erwartungen, die wir alle — und die sozialdemokratische Fraktion im besonderen — in unseren Herzen tragen. Diese Erwartungen — das darf ich zum Schluß sagen — bedeuten uns mehr als nur den Wunsch nach einer Erhöhung von Renten. Sie setzen uns, die wir doch als Volksvertreter nicht nur eine Verantwortung vor der Gegenwart, sondern ebenso auch vor der Zukunft haben, in die Gewissensaufgabe, eine Neuordnung zu schaffen, die den großen Mahnungen zweier Weltkriege und dem Umbruch eines Jahrhunderts gemäß ist. Das heißt nicht, daß die Bewahrung bestehender Systeme unsere letzte Aufrichtigkeit befriedigen kann, sondern nur die mutige Erkenntnis eines neuen Zeitalters, dessen gesunde Lebensgrundlage im sittlichen wie im materiellen Raum uns, den Volksvertretern, anvertraut ist. Die Vorsorge für diese Zukunft, die den seelischen und politischen Frieden begründen soll, sollte das Menetekel für uns bedeuten, um uns über alle Parteirichtungen, über alle Gesellschaftsordnungen hinweg zusammenzufinden und eine Ordnung zu schaffen, die den Menschen schlechthin wieder in seine Lebensrechte und in seine Menschenwürde einsetzt.