Rede von
Dr.
Eugen
Gerstenmaier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Meine Damen und Herren! Diese Ausgangsposition haben wir alle miteinander vorgefunden. Allerdings sollte die famose Saarverfassung in vieler Hinsicht in die Geschichte eingehen. Man sollte sie in juristischen und anderen Seminaren vorlegen und als ein Beispiel dafür hinstellen, wie man eine Verfassung nie machen darf. Diese Verfassung des Saarlandes ist datiert vom 15. Dezember 1947. Das war einige Zeit, bevor wir uns hier zusammengetan haben. Sie bereitet uns sehr viel Kummer. Wenn man sich diesen Ausgangspunkt vergegenwärtigt, dann kann man doch weiß Gott nicht sagen, daß die Bundesregierung oder sonst jemand in diesem Hause aufgehört habe, die Zugehörigkeit der Saar zu Deutschland zu beachten. Ich möchte es einmal verschärfen und sagen: aktiv zu beachten. Unablässig, wo wir auch immer stehen und wo wir von der Saar reden, denken wir daran, daß diese Saar ein Teil Deutschlands ist, denken wir daran, daß die Saarländer, gleichgültig, was sie auf ihre Pässe schreiben, Deutsche sind. Man soll uns doch nicht unterstellen oder so tun, als ob wir das nicht sehen wollten oder als ob wir das nicht wahrhaben wollten.
Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist nun einmal so, daß man in dieser Frage nur dann zu einem Urteil mit Augenmaß kommen wird, wenn man die Begründungszusammenhänge und den Aspekt in die Zukunft hinein sieht, unter denen diese Frage verstanden und gesehen werden muß.
Es ist doch Tatsache — und ich sehe gar nicht ein, warum es nicht nachgerade mit allem Nachdruck und mit aller Schärfe ausgesprochen werden soll —, daß zwei Gefahren über uns stehen. Wenn
sie über uns hereinbrechen, erschlagen sie Sie — von der Opposition — ebenso wie uns. Die eine dieser beiden Gefahren ist die der Auskreisung Deutschlands,
d. h. des Hinauswürfelns Deutschlands aus der gesicherten Existenz in der Gemeinschaft der freien Völker. Wir sind doch noch nicht zu Ende. Wir haben doch den EVG-Vertrag noch nicht; wir haben doch den Deutschland-Vertrag noch nicht. Wir sind immer noch in einem unerhörten Maße gefährdet, nicht allein vom Osten her, sondern auch dadurch, daß sich im Westen einige Leute überlegen könnten, die vielleicht binnen kurzem die Macht haben, daß es nicht so wahnsinnig empfehlenswert sei, sich mit diesen Deutschen für die nächsten paar hundert Jahre zu verheiraten, und die es dann vorziehen würden — entschuldigen Sie, wenn man das ausspricht! —, die Deutschen draußen im Niemandsland zwischen Ost und West zu sehen.
Diese Gefahr ist noch nicht ganz gebannt. Deshalb muß sie hier vor das deutsche Volk hingestellt werden. Die Gefahr der Auskreisung Deutschlands muß gesehen werden. Wir kämpfen darum, mit ganz Deutschland in eine gesicherte Existenz, in die Gemeinschaft der freien Welt hineinzukommen. Da wir das wollen, da wir das wollen müssen , meine Damen und Herren, lassen wir uns auch nicht von Argumenten beeindrucken oder beirren, von denen wir nicht behaupten, daß überhaupt nichts an ihnen sei, sondern die wir an sich würdigen, von denen wir aber doch sagen müssen, daß andere Argumente von höherer Rangordnung dagegenstehen. Die Rangordnung muß gesehen werden!
Ein Zweites. Meine Damen und Herren, ich verlasse mich darauf, wenigstens an diesem Punkte bei Ihnen in der Opposition Verständnis zu finden. Wir sind uns doch gelegentlich einig gewesen über die Gefahr des deutschen Nationalismus. Ich habe noch nie davon geredet, daß ich Ihnen diesen Vorwurf mache; ich sage aber, daß die Gefahr der Wiederkehr eines ungeläuterten deutschen Nationalismus in diesem Volke leider offenbar immer noch nicht ganz überwunden ist. Was steht denn dafür? Die ungeheure Verführung, ja die Gefahr, daß die anderen, die jenseits der deutschen Grenze zu befinden haben, uns in eine Situation hineinjagen, in der uns gar nichts anderes mehr übrig bleibt, als die Hinwendung zu einer Politik des bloßen Revisionismus, der Politik des nationalen Revisionismus. Und, meine Damen und Herren, was auf diesem Pflaster zu erwarten ist, das haben wir doch nun exerziert nach dem Tode Stresemanns bis zum glorreichen 30. Januar 1933! Wir haben nur die Möglichkeit: die deutsche Politik, solange es irgend geht, unter das Leitbild der europäischen Vereinigung oder unter das der Rückkehr zu einer erst moderierten und dann immer rasanter werdenden Politik des nationalen Revisionismus zu stellen. Das letztere wollen wir nicht, wir sind gebrannte Kinder, und es hat keinen Zweck, nachher vor den Generälen zu warnen. Man muß eine richtige Politik machen, in der die Generäle kein entscheidendes Wort haben.
Herr Kollege Ollenhauer, ich habe mit großer Aufmerksamkeit heute den Teil Ihrer Darlegungen gehört, in dem Sie zu einem Gedanken zurückgekehrt sind, über den wir uns im Herbst letzten Jahres gegenseitig an diesem Rednerpult unterhalten haben. Ich habe mich etwas gewundert, daß Sie den Gedanken wieder aufgenommen haben. Es ist monatelang darüber still gewesen. Nun gut, Sie haben ihn heute wieder in die Diskussion gestellt, und mein freundschaftlicher Zuruf an meinen Freund von Brentano bezweckte, diesem Gedanken nach Möglichkeit noch in seiner Rede gerecht zu werden. Ich bin der Meinung, daß Ihnen und uns nichts geholfen ist, wenn wir sagen: die Sozialdemokraten bieten ja keinen neuen Vorschlag, sie bieten keine neue Idee. Es ist wahr, Kollege Ollenhauer, und ich habe es zur Kenntnis genommen, daß Sie heute einen Gedanken in neuer Form vorgetragen haben, den Sie schon einmal hier angesprochen haben, und daß Sie offenbar der Meinung sind, es gebe eine reale Möglichkeit für die Bundesregierung und für dieses Haus, diesen Gedanken konstruktiv in die europäische und in die Weltpolitik einzuführen. Herr Kollege Ollenhauer, ich will kein Wort davon sagen, was etwa an dieser Konstruktion, die Sie uns hier vor Augen geführt haben, reizvoll sein könnte. Ich gehöre zu denen, die das Erstehen der Vereinten Nationen nicht nur mit großem Interesse, sondern mit großer innerer Anteilnahme verfolgt haben. Wenn ich mir seinerzeit gelegentlich der Debatte im Herbst eine Warnung davor erlaubt habe, die deutsche Sicherheit im Rahmen des Weltsicherheitsrats der UNO zu suchen oder zu begründen, dann geschah das nicht aus irgendeinem Bedürfnis nach herabsetzender Kritik an der UNO, o nein, meine Damen und Herren; im Gegenteil, es geschah im Bedauern, daß die UNO-Konstruktion mitsamt dem Weltsicherheitsrat nicht imstande gewesen ist, diese Welt in einem globalen Sicherheitssystem zusammenzuhalten, obwohl alle Voraussetzungen dafür gegeben waren.
Nun, Kollege Ollenhauer, es sind inzwischen einige Dinge passiert, die ich mir in diesen Nachmittagsstunden überlegt habe. Aber ich muß doch zusammenfassend sagen, daß ich nicht einsehen kann, warum der Gedanke, den Sie jetzt wieder aufgegriffen haben, heute, im Frühjahr 1954, größere Chancen haben sollte als im Herbst 1953. Im Frühjahr 1954 hat sich die Situation in Asien in einer unerhörten Weise zugespitzt im Verhältnis zum Herbst 1953. Das Problem Korea ist immer noch nicht aus der Welt. Vor allem haben wir inzwischen etwas erlebt, worüber wir vielleicht zunächst verschieden gedacht und geurteilt haben, nämlich wir haben die Viererkonferenz und ihr Scheitern erlebt. Herr Kollege Ollenhauer, mindestens die Zuspitzung der Dinge in Asien und das Scheitern der Viererkonferenz sowie die enormen Schwierigkeiten, deren Zeuge wir als Zuschauer im Blick auf Genf sind, zusammengenommen, können uns doch nun nicht ermutigen, etwa einen Beschluß zu fassen derart, der Bundeskanzler möge seine Politik nicht etwa überprüfen, sondern umkehren und auf diese höchst labilen Tatbestände gründen.
Meine Damen und Herren, das kann man nicht tun. Es ist nicht einfach Banalität der parteipolitischen Auseinandersetzung, wenn wir sagen, wir können diese Auskunft von Herrn Ollenhauer für die große
Sozialdemokratische Partei Deutschlands mindestens noch nicht als letztes Wort ansehen. Vielleicht machen Sie uns im Herbst einen neuen verbesserten Vorschlag, der einige, wenigstens einige bescheidene, aber reale Ansatzpunkte hat. Der jetzige Vorschlag hat noch weniger reale Ansatzpunkte als der Vorschlag, den Sie im Herbst 1953 gemacht haben.
Aber noch eine andere Sache.
— Hören Sie her, ich bemühe mich sowieso schon, einigermaßen interessant für Sie zu sprechen. Sie dürfen auch nachher wieder reden. Aber ich wollte gerade einen Ihrer Freunde loben.
Da wir vor keinen sehr ernsthaften Wahlkämpfen stehen, können wir es uns doch erlauben, nun einmal ganz ruhig zu sprechen. Ich muß noch einmal sagen: Deutschland kommt allmählich in eine Situation, in der es der zusammengefaßten Kraft dieses Hauses bedarf. Jahrelang habe ich von etwas geschwiegen, was ich als Anfänger hier auf dieser Bühne im Herbst 1949 gesagt habe und was ich immer wieder gedacht habe in Erinnerung an gemeinsame Freunde. Ich habe geschwiegen von dem Versuch einer gemeinsamen Außenpolitik. Ich will auch jetzt nicht davon reden. Aber vielleicht könnte der ungeheure Ernst der weltpolitischen Situation uns veranlassen, unsere Position auf der einen wie auf der andern Seite einmal unter dem Gesichtspunkt zu überprüfen, ob sich sachliche Möglichkeiten klarer herausstellen lassen, die wir vielleicht gemeinsam auf die Schultern nehmen könnten.
In Sachen Montan-Union hat Herr Deist schon so etwas wie den Silberstreifen am Horizont in dieser Richtung heraufgeführt.
Ich glaube, daß wir uns jedenfalls im klaren sein
sollten, welche Politik Sie auch vertreten wollen,
daß es keine Politik sein darf, die den Kräften
in der Welt Vorschub leistet, deren letztes Ziel
offenbar doch nicht das Hereinnehmen der freiheitsbedürftigen und freiheitsentschiedenen Deutschen in die freie Welt ist, sondern deren letztes
Ziel doch das Ausbooten, die Auskreisung Deutsch-
lands aus der freien Welt zu sein scheint, sein Hinüberschleudern in das Niemandsland zwischen Ost und West.
Auch der Blick auf die Entwicklung der Atomwaffen, auf die damit zusammenhängenden Diskussionen über die periphere Strategie haben doch eine Veränderung des Bildes geschaffen, das seinerzeit bestand. Sie haben ein anderes weltpolitisches Bild hervorgerufen, als es damals bestand, als die SPD im Frühjahr 1950 ihren außenpolitischen Kurs festlegte. Ich meine, mindestens die Veränderung der Weltsituation sollte nun Anlaß geben, diese Revision zu vollziehen, die überfällig geworden ist.
Daß es sich im Kreml nicht um eine Bremse des Vormarsches gehandelt hat, als Josef Stalin starb, das wissen wir ja nun inzwischen auch. Die Kampfstätten Asiens sind Signale! Und wer von uns hat denn eine Garantie, daß wir mit unseren Kindern und Kindeskindern von ähnlichem verschont bleiben werden? — Es ist höchste Zeit!
Es ist bei weitem nicht an dem, und man komme uns doch nicht immer wieder damit, daß man uns andichtet, daß wir uns sozusagen in einer Hysterie der Termine oder des Nichtzeithabens befinden. Wer setzt dem deutschen Volk eigentlich diesen Floh ins Ohr, meine Damen und Herren? Glauben Sie, Prinz Löwenstein, wir würden gelobt, wenn etwa der Bundeskanzler die Hände in den Schoß sinken ließe und in dem stimmungsvollen Palais Schaumburg die Baumblüte und den strömenden Rhein ansehen würde?
Herr Prinz zu Löwenstein, die Weltgeschichte — das sollten Sie doch wissen! — ist kein botanischer Garten,
sondern hier muß gehandelt, hier muß entschieden werden.
Meine Damen und Herren, es gäbe noch mehr Stoff für eine längere Rede am Abend einer solchen Debatte; aber ich nehme an, daß der Herr Kollege Wehner auch noch sprechen will, und deshalb möchte ich zum Schluß kommen. Es besteht immer das Risiko, daß man am Schluß einer solchen Rede pathetisch wird. Ich möchte das nicht tun; ich möchte auch gar nicht feierlich werden.
— Ich möchte auch gar nicht feierlich werden, Herr Dr. Kreyssig, sondern ich möchte mich erst den Gepflogenheiten Ihrer Branche von Kohle und Stahl — da Sie offenbar noch über die Montan-Union sprechen wollen — anschließen. Aber ich möchte mir doch erlauben, folgendes zu sagen.
Meine Damen und Herren, daß Sie uns sozusagen ermuntern oder Rezepte geben könnten, die in ihrer praktischen Auswirkung darauf hinausliefen, daß wir dem Selbstmord Deutschlands im Rahmen eines ungebändigten europäischen Interessengegensatzes untätig zusehen oder ihm, wie Sie vielleicht meinen, mit großer Gelassenheit abwartend entgegensehen, — nein, meine Damen und Herren, davon kann keine Rede sein! Zu einer solchen Taktik und zu einer solchen Aktion hat uns das deutsche Volk am 6. September nicht ermutigt und auch nicht hierhergeschickt.
Wir werden — darauf können Sie sich verlassen
— alles tun, was überhaupt möglich ist, um denjenigen, die das freie Deutschland und das noch unter der Sklaverei lebende Deutschland aus der freien Welt auskreisen wollen, dieses Geschäft so schwer wie möglich zu machen. Darauf können Sie sich verlassen, daß wir dazu unsere Hände und unsere Köpfe brauchen werden.
Im übrigen brauchen wir jetzt — auch in der Saarfrage — nicht nur den Blick für große Aspekte, sondern was wir brauchen, ist die ganz einfache Zivilcourage. Was wir brauchen, ist der Mut zum vertretbaren Kompromiß.
— Ich weiß, meine Damen und Herren, sonst, bei den Angelsachsen, ist der Kompromiß eine Tugend. In Deutschland ist er kompromittierend. Nun, wer in der Situation, in der sich Deutschland befindet, mit dem unbewältigten Erbe eines zweiten Weltkrieges, nicht den Mut zum Kompromiß mit seinen Nachbarn hat, der kann mir leid tun!
Wir sind darauf gefaßt, jeder Verdächtigung die Stirne zu bieten, und man wird uns verdächtigen, man wird uns Feiglinge heißen, man wird uns „vaterlandslose Gesellen" beschimpfen.
— Na, sehen Sie, auf das ziehen Sie! Das ist bekannt! Die Parole kennen Sie! Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nachfühlen, daß Sie sich nicht noch einmal nachsagen lassen wollen, vaterlandslose Gesellen zu sein.
Wo es sich aber um Deutschland, um die Freiheit seiner Menschen und um seine Zukunft in der Gemeinschaft der europäischen Völker handelt, da werden wir jedenfalls auch den Mut haben, uns solchen Vorwürfen und Verdächtigungen zu stellen und mit Mannesmut unseren Weg geradeaus zu gehen.