Rede von
Dr.
Max
Becker
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal hat ein Bundestagsabgeordneter auch Zeit, ein Buch zu lesen; aber nur manchmal. So habe ich denn in den Weihnachtstagen einmal ein ausgezeichnetes Buch einer Französin gelesen, dessen Titel in der deutschen Übersetzung lautet: „Wie ich die Wölfin zähmte". Es handelt sich dabei um die ausgezeichnet nachempfundenen Memoiren des römischen Kaisers Hadrian. Als ich das Buch las, kam mir der Gedanke, wie hat doch eigentlich damals die Welt mehrere Jahrhunderte glücklich in einem Frieden gelebt, weil nur eine einzige Macht gewissermaßen die Welt beherrschte. Daher spricht man auch noch von der Zeit der pax Romana. Ich glaube, sogar das Problem der Konvertibilität hat damals keine Schmerzen gemacht.
Wenn wir dann die Geschichte weiter durchgehen, dann kommen wir bis zum 19. Jahrhundert und stellen fest, das von 1815 an unter Führung des englischen Reiches und gestützt auf die Ausbalancierung des Gleichgewichts der Kräfte auf dem Kontinent auch wieder in summa summarum eine Zeit des Friedens herrschte, wenn auch manche Kriege, wenn auch jeder nur von kurzer Dauer, die Friedenszeit unterbrochen haben. Auch damals hat man sich über die Konvertibilität der Währungen keine Kopfschmerzen bereiten lassen.
Heute stellen wir nun fest, daß die Welt in zwei große Mächte gespalten ist, die miteinander den Erdball umspannen, die also jeden Staat irgendwie mit ihrer Einflußsphäre umspannen und ergreifen und von deren Beziehung zueinander eigentlich das Schicksal der ganzen Welt abhängig ist. Dann haben wir festzustellen, daß ausgerechnet die Brennpunkte der Spannungen dieser beiden Mächte im Osten in dem gespaltenen Korea, im Westen in dem gespaltenen Deutschland liegen. Das ist heute unsere Situation, und das ist das, was die Welt in Unruhe versetzt.
Die zweite Frage dazu, wo die Gefahr liegt, daß es zum Zusamenprall kommt, ist meiner Ansicht nach eindeutig dahin zu beantworten, daß nach allem, was wir bisher erlebt haben, von der russischen Seite die größere Gefahr droht. Der russische Staat wird kontrolliert und geführt von
einem totalitären System, dem kommunistischen System, das in sich — wir haben ja alle mal in einem totalitären System gelebt — den Willen trägt, alle seinen Ideen untertänig zu machen. Wir stellen zum zweiten fest, daß es Rußland war, das 1945 nicht abgerüstet, sondern weiter aufgerüstet hat. Eine Zahl von 175 russischen Divisionen nannte vor einiger Zeit der französische Staatsmann Paul Reynaud in Straßburg. Und zum dritten ist festzustellen, daß dieser selbe Staat in allen Ländern sogenannte Fünfte Kolonnen besitzt, d. h. die kommunistischen Parteien in anderen Ländern; diese sind nicht mit Parteien zu vergleichen, die auf unter sich gleichen Tendenzen fußen. Wenn sie sich auch in ihren Tendenzen unter Umständen gleichen, so unterscheiden sich die kommunistischen Parteien doch darin von ihnen, daß sie von einem einheitlichen Willen regiert werden, nach einheitlichem Befehl handeln und daß nur die Methoden, mit denen sie in den verschiedenen Ländern handeln, den Eigenarten des betreffenden Landes angepaßt sind. Dazu kommen dann als letztes noch die Aggressionen, die dieser Staat von 1944 an vorgenommen hat. Ich brauche Ihnen die Satellitenstaaten, die er sich unterworfen hat, nicht aufzuzählen. Ich erinnere nur an die Blockade von Berlin und daran, was das Kennzeichen der letzten Zeit gewesen ist: daß Rußland den Angriff immer durch Stellvertreter vortragen läßt, so wie es auch jetzt in Indochina geschieht. Und da hinein paßt wieder ein Wort, das Paul Reynaud zitierte, ein Wort von Lenin, das ich schon oft genannt habe und das ich nur immer wiederholen kann und das ausgerechnet in den Tagen der Genfer Konferenz als aktuell zu bezeichnen ist. Dieses Wort lautet: Der Weg des Kommunismus von Moskau nach Paris geht über Peking und Kalkutta. In Peking ist er. Und wie weit Kalkutta von Indochina entfernt liegt, na, das wissen wir alle.
Nun ist die Frage aufgeworfen worden: Hat Rußland nicht inzwischen seine Tendenzen geändert? — O ja, in den Methoden nach außen hin etwas. Man hat auch irgendwie versucht, wieder den Nachdruck auf die Konsumgüterindustrie und die landwirtschaftliche Produktion zu legen. Aber ist das eine Änderung nach außen? Ich beziehe mich auf einen Zeugen, der vielleicht auch von den Kollegen der SPD als guter Zeuge anerkannt wird. In der vergangenen Woche hat sich in Paris auf der Konferenz der europäischen Parlamentarier der führende Sozialist in Dänemark, Herr Jakobsen, klar und deutlich dahin ausgesprochen, daß sich in Rußland in der Tat etwas geändert habe. Man sei nämlich jetzt vorsichtiger geworden, man sei schmiegsamer, man sei nicht mehr so stur, aber man sei darum um so gefährlicher, weil die beherrschenden Tendenzen geblieben seien.
Es fällt mir hier ein Wort ein, das vor zwei Jahren der verstorbene Kollege Schumacher mal gesprochen hat. Er redete in seiner ironisierenden Art von jenen Hirtenknaben, die auszogen, das russische Lämmlein zu hüten. Die gibt's auch heute noch.
Weiter sprach er, wie mir noch einfällt, in der
gleichen Rede davon, daß er eine ganze trojanische
Kavallerie angaloppieren sehe. Nun ja, heute
haben wir den Vorschlag des Herrn Molotow, zunächst in der Berliner Konferenz dahin ausgesprochen, daß man in das Europäische Verteidigungssystem, in die EVG mit eintreten wolle, und
dann später dahin moduliert, daß man der NATO
beitreten möchte. Ich glaube, es ist vorhin der Vorwurf erhoben worden, man hätte diese Vorschläge nicht ernst genommen, nicht genug studiert. Wir haben sie studiert. Aber nach allem, was wir von den dahinter steckenden Tendenzen wissen, nach allem, was wir in der Vergangenheit, auch schon vom August 1953 an erlebt haben, haben wir den Eindruck, daß es sich um trojanische Pferde in Großformat handelt.
Wenn wir feststellen konnten, daß zwei starke Mächte die Welt beherrschen und die anderen Länder in dem Spannungsfeld dieser beiden Mächte liegen, und wenn wir uns daran erinnern, daß auf der Konferenz in Berlin leider Gottes praktisch nichts erreicht worden ist, müssen wir doch ganz realistisch die Konsequenz daraus ziehen. So sehr wir nach wie vor alles tun, um die Wiedervereinigung herbeizuführen, so ist doch in dem Augenblick, in dem sich die Standpunkte der beiden Mächte festgefahren haben, in dem keine Verhandlungen hinüber und herüber mehr möglich sind, leider ein Status quo geschaffen, von dem wir nicht wissen, wie lange er dauert.
Erlauben Sie mir deshalb in diesem Zusammenhang eine Frage. Wie wäre es, wenn man dem Beispiel der Siegermächte hinsichtlich des Friedensvertrages mit Japan folgte und nun doch einmal den Versuch machen wollte, auch mit uns einen Friedensvertrag abzuschließen? Das hätte zur Voraussetzung, daß die vier Mächte zunächst unter sich irgendwie in Verbindung miteinander treten müßten. Damit würden auch automatisch wieder Verhandlungen kommen, zu deren Thema dann in irgendeiner Form die Frage der Wiedervereinigung gehören würde. Ich bitte, sich einmal diese Frage zu überlegen.
Zu dieser Unruhe in der Welt, die aus dem Vorhandensein dieser zwei großen Mächte herrührt, kommt nun noch, daß in diese zweigeteilte Welt, in die Welt der Unruhe und des Kalten Krieges noch die Bilder der Explosionen der Atom- und Wasserstoffbomben dringen. Die Öffentlichkeit der Welt ist durch das unvorstellbare Grauen alarmiert, das die Verwendung solcher Bomben in einem Krieg hervorrufen könnte. Millionenstädte könnten durch einen Bombenabwurf verschwinden. Die Erdoberfläche kann bis zu 70 m tief mit allen Kasematten, Konzentrationslagern, Luftschutzkellern, Bankgewölben und Stahlfächern aufgewühlt werden. Die Luft kann auf weite Entfernungen hin todbringend verseucht sein. Die verzagte Welt schaut sich nun um, ob und wie es Mittel gibt, ein derartiges Weltunglück zu verhindern. Wir wollen prüfen, was da zu tun ist.
Wir begrüßen es, ähnlich wie es schon die Vorredner getan haben, daß Präsident Eisenhower den Versuch macht, in unmitelbarem Benehmen mit Sowjetrußland ein Verbot der kriegerischen Verwendung dieser fürchterlichen Waffen zu vereinbaren und Grundlagen für eine nur friedliche Verwendung dieser gigantischen Kräfte zu finden. Das wäre das erste.
Darüber hinaus müßten sich eigentlich alle Völker, auch die, die nicht Mitglied der Vereinten Nationen sind, verpflichten, alle Streitfragen zunächst einem internationalen Schiedsgericht zu unterbreiten, soweit nicht der Weg unmittelbarer Verhandlungen ohne weiteres zum Ziele, zur Schlichtung führt.
Dann kommt aber noch ein Drittes hinzu, und das liegt auf ideellem Gebiet. Ich glaube, auch davon darf man hier in diesem Zusammenhang einmal sprechen, auch wenn Sie mich vielleicht in Anbetracht dessen, was ich jetzt sagen werde, für ein bißchen veraltet halten würden. Ich bin der Meinung, daß bei allen Völkern, bei allen Staaten und bei allen Staatsmännern der ernste Entschluß obwalten muß, nur eine solche Politik zu führen, die vor dem Schöpfer aller Dinge und vor dem ewigen Sittengesetz bestehen kann,
nur eine solche Politik zu betreiben, die mit den Grundsätzen der Humanität übereinstimmt. Wir Deutschen, die wir aus der Hitlerzeit wissen, was eine vom ewigen Recht abweichende Politik zu bedeuten hat, wir, die wir ihre Folgen an unserem Volk, an unserem Staat, an uns selbst und dazu noch die Folgen eines unseligen Krieges zu spüren bekommen haben, haben gelernt, daß alle Politik nur dann vom Vertrauen eines Volkes getragen sein kann, wenn sie mit den ewigen Gesetzen, die der Schöpfer aller Dinge geoffenbart hat — und er offenbart sie in vielerlei Form und Gestalt —, in Übereinstimmung steht.
Eine solche moralische Haltung in der Politik gibt allen denen, die diese Politik treiben sollen, aber auch ihren Völkern, den inneren Halt und die Charakterstärke, die erforderlich sind, um das Grauen, von dem sich die Menschheit in dieser zweigeteilten Welt im Zeitalter dieser schaurigen Bomben auf Schritt und Tritt bedroht fühlt, zu bestehen. Nur durch Gottvertrauen kommt man zum Selbstvertrauen, und dann gilt auch wieder der Satz für jeden einzelnen von uns: Pfeiler, Säulen kann man brechen, aber nicht ein freies Herz!
Als weiteren Punkt möchte ich nennen: Es muß verhindert werden, daß die angreifende Macht, also Sowjetrußland, noch weiteren Machtzuwachs erhält. Ich deute an, daß sie durch stellvertretende Angriffe versucht, über Peking, über Kalkutta zu dem Ziel Westeuropa bis zum Atlantischen Ozean zu kommen. Ich begrüße den Vorschlag der USA zu einem Verteidigungsabkommen für Südostasien, das in dieser Linie liegt. Ich begrüße zugleich, daß damit der Gedanke verbunden ist, diesen Völkern Asiens die Unabhängigkeit zu geben und sie auf den Boden der Freiheit zu führen. Dazu gehört ferner, daß nach dem Truman-Vorschlag Nr. 4, Hilfe für die zurückgebliebenen Gebiete, und ebenso nach dem Kolombo-Plan der englischen Dominien auch nach der materiellen Richtung hin das getan werden muß, was notwendig ist, um Angriffe des Kommunismus in dieser Richtung zu unterbinden.
Dann noch ein letztes. Es muß versucht werden, aus der Zweiteilung der Welt herauszukommen, d. h. es muß versucht werden, noch weitere Machtgruppen zu schaffen, auch wenn sie an Machtfülle nicht an diese beiden Staaten herankommen können. Ich denke an den indischen Subkontinent mit Pakistan, an die arabischen Staaten und nicht zuletzt an unser Europa.
Wir haben — Herr von Brentano ist leider nicht hier, sonst würde ich ihm sagen, daß auch ich zu den Romantikern gehöre, von denen mein Kollege Pfleiderer gesprochen hat — in einer sehr intensiven und von uns sehr ernst genommenen Arbeit im Winter 1952/53 den Versuch gemacht, eine Verfassung für Europa auszuarbeiten. Ich stehe zu ihrem Inhalt, und ich bin der Meinung, daß sowohl die Montan-Union wie der EVG-Vertrag viel-
leicht nur ein Torso bleiben, wenn nicht der weitere Schritt zur Europäischen Politischen Gemeinschaft gegangen wird. Der Kollege Deist war es, glaube ich, der heute morgen davon spach, daß sich um die Ergebnisse der Montan-Union eine Art Verschwörung des Schweigens gebildet habe. Das ist ein Irrtum. In der vorigen Woche hat mein Fraktionskollege und Freund Blank in Paris ausdrücklich davon gesprochen, daß es in der Montan-Union vielleicht gewisse Kinderkrankheiten gebe, daß aber noch nicht feststehe, ob die Montan-Union als solche, die Konstruktion dieser Verbindung die Ursache dessen sei, was wir zu konstatieren haben. Vor allen Dingen müsse man sich, wenn eine gewisse Übergangszeit vorüber sei, darüber klar sein, daß diesem ersten Schritt zur europäischen Integration weitere folgen müssen, wenn nicht ein Torso bleiben soll, wenn man nicht wünschen müsse, diesen Schritt unter Umständen rückgängig zu machen.
Nun zur Europäischen Politischen Gemeinschaft! Der Herr Bundeskanzler hat heute morgen von Fortschritten gesprochen, die auf diesem Gebiet gemacht worden seien. Er wird es mir nicht übelnehmen, wenn ich sage, daß es nach meiner Auffassung Rückschritte sind. Ich habe den ernsten Wunsch auszusprechen, daß diese Angelegenheit doch kräftig in Angriff genommen wird, und zwar auf folgende Weise. Die sechs Regierungen haben damals, im September 1952, ein Parlament von europäischen Parlamentariern geschaffen, gleichsam „als ob" ein Europa politisch schon existiere. Nun drehen wir den Spieß um und sagen wir: wenn dieses „Als-ob-Parlament" da ist, dann muß ihm gegenüber auch eine „Als-ob-Regierung" da sein, d. h., es muß nun versucht werden, dieses Vertragsinstrument in gemeinsamen Verhandlungen zwischen dieser quasi-Regierung Europas und dem quasi-Parlament Europas weiterzuführen. Ich sehe nur, daß das, was wir in einem halben Jahr gut zustande gebracht haben, jetzt in weit über einem Jahr, seitdem nun die Regierungen, die auswärtigen Ämter der sechs Staaten die Angelegenheit in die Hand genommen haben, keine Fortschritte gemacht hat. Ich weiß, daß die Diplomaten die abgewogenere Art der Verhandlung haben und daß diesem oder jenem Parlamentarier gern vorgeworfen wird, er habe vielleicht zuviel Temperament. Aber ich glaube doch, daß ohne Temperament, ohne Begeisterung und ohne Nachdruck, den auszuüben die Parlamentarier vielleicht mehr gewohnt sind als die Diplomaten, die Dinge nicht so vorangehen werden, wie sie vorangehen sollten. Deshalb meine Bitte an die Bundesregierung, den Vorschlag zu machen, daß die sechs Regierungen zusammen mit der Ad-hoc-Versammlung versuchen, auf der Grundlage des Statuts, das wir ausgearbeitet haben, zum Ziele zu kommen. Ich halte den augenblicklichen Zeitpunkt für außerordentlich günstig, und zwar aus personellen Gründen, weil nämlich der bisherige Präsident der Verfassunggebenden Versammlung, Herr Spaak, nunmehr auf die andere Seite hinübergewechselt und Außenminister Belgiens geworden ist, so daß er in seiner doppelten Eigenschaft, mit seinen doppelten Erfahrungen und mit der Dynamik, die ich ihm zutraue und die ich zu kennen glaube, vielleicht doch die Dinge, wenn an ihn herangegangen würde, voranbringen könnte.
Denn, meine Damen und Herren — und damit komme ich nun zur Saarfrage —: Ein Deutscher von der Saar hat einmal sehr schön das Wort geprägt: „Europäisieren Sie zuerst Europa, und dann
ist die Saarfrage mit den wirtschaftlichen Verflechtungen, die dann zu treffen sind, leicht zu regeln!"
Ich muß leider feststellen, daß das Wort „Europäisierung" im Zusammenhang mit der Saar, wie es jetzt vorgeschlagen wird, nur geeignet ist, den wirklichen europäischen Gedanken zu kompromittieren. Der echte Wille, ein Europa zu schaffen, kann Schaden leiden, wenn eine Lösung, die keine europäische Lösung ist, so genannt wird; und der europäische Gedanke kann Schaden leiden, wenn in dem Naters-Plan der Begriff Europa in allen möglichen Zusammenhängen vorkommt, die kein Mensch verstehen kann. Es wird ein Kommissar vorgeschlagen, der vom Europarat, d. h. von den Staaten, die von Island bis zur Türkei hin in ihm versammelt sind, ernannt werden soll. Auf der andern Seite wird ein Berater vorgeschlagen, der von der luxemburgischen Montanbehörde, also von dem Europa der Sechs, ernannt werden soll. Zum Schluß wird von einem Europastatut der Saar geredet, das überhaupt erst in einer Konferenz geschaffen werden soll, so daß hier die dritte Bedeutung ties Begriffes Europa hineinkommt, — und das Ganze durcheinander. Das, was hier geschaffen wird, ist niemals eine echte Europäisierung.
Ich möchte keinen Zweifel darüber lassen, daß das, was an der Saar geschieht, unserer Auffassung nach eine verhüllte Annexion ist. Frankreich behauptet, es wolle nicht annektieren. Was heißt annektieren? Ein Territorium aus einem Staatsgebilde herauslösen und es einem andern irgendwie einverleiben. Man kann unter den heutigen Verhältnissen — bei den Verflechtungen auf den Gebieten des Geldes, der Wirtschaft, der Organisation usw. — ohne weiteres sehr leicht auch ohne territoriale Regelung, die nach außen auf der Landkarte ersichtlich wird, doch durch derartige wirtschaftliche Verflechtungen, Konventionen, wie sie vorliegen, eine verschleierte Annexion vornehmen.
Nun wird gesagt, das seien aber doch Tatsachen, es sei doch ein De-facto-Zustand an der Saar. Sehr schön! Aber wer verlangt denn nun, daß es jetzt geregelt wird? Wir? — Nein, Frankreich! Frankreich möchte noch die Unterschrift Deutschlands dazu haben. Die Unterschrift, die Frankreich verlangt, die ihm viel wert zu sein scheint, ist uns dasselbe wert.
Wir sind der Meinung, daß der Naters-Plan — Kollege Pfleiderer hat das schon ausgeführt — keine Grundlage ist, auf der man Verhandlungen führen kann. Der Naters-Plan bietet zwei Vorteile. Er gibt uns das Versprechen, daß, wenn auf der einen Seite die wirtschaftliche Verbindung mit Frankreich bleibt, eine Konferenz in der Zukunft versuchen soll, auch nach der deutschen Seite hin wirtschaftliche Verbindungen zu schaffen. Ich bin der Meinung, das kommt auf uns zu, auch wenn der De-facto-Zustand bleibt. Sogar ein selbständiger Saarstaat würde im Interesse seiner Wirtschaft und seiner Bevölkerung auch mit seinem östlichen Nachbarn, also mit uns, wirtschaftliche Verbindungen pflegen müssen.
Als zweites wird uns vorgeschlagen, daß demokratische Freiheiten kommen sollen, aber in einer zeitlichen Dosierung, bei der man nicht weiß, warum die zeitliche Dosierung notwendig sein soll, wenn andererseits das erste und praktisch einzige, was der Europarat fertiggebracht hat, nämlich die
Konvention der Menschenrechte, doch nun sozusagen das Grundgesetz von Europa ist. Man kann sich nicht vorstellen, warum das erst mit zeitlichem Abstand eingeführt werden soll. Ich glaube, daß der Druck der Weltmeinung und der Druck der Saarbevölkerung so stark sein werden, daß wir für dieses Entgegenkommen nicht noch zu zahlen brauchen. Mir kommt manchmal, wenn ich den Naters-Plan lese, das Gedicht von Schiller von dem Mädchen aus der Fremde in Erinnerung. Das kam auch jedes Jahr ins Land und reichte der einen Seite Früchte und der andern Blumen dar. Die Blumen sind uns zugedacht, das sind die Versprechungen, die darin enthalten sind, die erst durch eine Konferenz realisiert werden sollen. Wenn ich mir überlege, wie lange man gebraucht hat, um z. B. den EVG-Vertrag zu unterschreiben, und wie lange es jetzt dauert, bis er ratifiziert wird, dann habe ich Bedenken, wenn ich mir die Zeit vorstelle, die es dauern wird, bis diese Zusagen dann erfüllt sein werden.
Ich bin der Meinung, daß man, wenn man überhaupt verhandelt, nur Zug um Zug Leistungen verabreden kann. Die Zeit der Vorleistungen muß vorüber sein.
In dem Plan ist von einer Volksabstimmung die Rede. Die Volksabstimmung, die dort vorgeschlagen wird, hat ein doppeltes Gesicht. Sie soll der Saarbevölkerung das Recht geben, ihre Verfassung gewissermaßen neu zu schaffen. Das zweite Gesicht, das diese Volksabstimmung hat, hat völkerrechtliche Bedeutung, staatsrechtliche Bedeutung nach außen hin gesehen. Das heißt, sie führt dahin, daß gewissermaßen ein Teil, nämlich das Teilterritorium, das abgetreten werden soll, über sein Schicksal bestimmen soll, ohne daß das Gesamtterritorium, nämlich Deutschland, gefragt wird. Es ist eine alte Regel, die nur einmal, im Versailler Vertrag in den Bestimmungen über die Saar, durchbrochen wurde, daß nur der Staat als Ganzes, das Volk als Ganzes darüber zu bestimmen hat, ob ein Teil von ihm losgelöst werden soll oder nicht.
Ich bitte die Herren Korrespondenten der Auslandspresse, wenn sie über diese Sitzung berichten, ihren Lesern auch einmal mitzuteilen, daß es an der Saar nur Deutsche, keine Ausländer gibt.
Der Gedanke, der manchmal im Ausland auftritt, daß es hier eine Mischbevölkerung gebe, die darüber abstimmen müßte, wo sie hingehört, ist also völlig falsch. Weiter bitte ich die Herren Auslandskorrespondenten, ihre Völker doch auch einmal zu fragen, was irgendeiner der sechs Staaten wohl sagen würde, wenn an ihn von einem anderen Staat die Aufforderung erginge, im Interesse der Europäisierung einen Teil seines Landes abzutreten.
Nun ist die Frage aufzuwerfen, was Frankreich denn eigentlich will; ich meine jetzt nicht nur an der Saar, sondern im Großen und Ganzen seiner Politik. Was will es? Wir haben uns nicht zum EVG-Vertrag gedrängt. Unsere deutsche Bevölkerung stand noch völlig unter dem Eindruck der
Entmilitarisierungsbestimmungen, sie stand auch unter dem Eindruck der Geschehnisse dieses Krieges. Speziell bei unserer Jugend war noch im Jahre 1950 der Gedanke von „Ohne mich!" bis zu einem gewissen Grade populär. Sie entsinnen sich; ich habe einmal im Europarat in Straßburg den dort versammelten ausländischen Kollegen vorzuführen versucht, in welcher Stimmung unsere Jugend damals gewesen ist. Wir haben uns nicht zur Bildung eines Heeres gedrängt. Wir sind an sich auch nicht nervös, wenn Frankreich seine Entscheidung aus diesem oder jenem Grund verzögert. Wir zeigen deswegen keine Ungeduld. Aber wir wollen doch nun einmal wissen, woran wir sind. Wenn Frankreich das nicht will, was seine Regierung schon unterschrieben hat — es wird doch die Bedrohung aus dem Osten so sehen wie wir auch; es war ja der französische Staatsmann Paul Reynaud, der daran erinnert hat, daß im Osten 175 Divisionen stehen, daß der Weg von Moskau nach Paris über Peking und Kalkutta und über Indochina geht —, muß Frankreich schließlich einmal sagen, welche Alternative es eigentlich hat. Denn dann tritt auch an uns die Frage heran, unsererseits Alternativen zu prüfen oder zu überlegen. Frankreich sieht die Dinge, weil es 700 km vom Eisernen Vorhang entfernt liegt, etwas zu leicht. Wenn die „Comédie Française" zur Zeit in Moskau 28 Vorhänge hat — ich gönne es den Künstlern, es sind ausgezeichnete Künstler, aber wir wissen ja von unseren Erfahrungen in Deutschland, wie in einem totalitären Staate derartige Beifallskundgebungen organisiert werden —, so berauscht man sich daran. Aber man sieht nicht, daß da drunten in Indochina bei Dien Bien Phu das Blut von Europäern fließt, auch das Blut von vielen deutschen Menschen. Das darf einmal hier gesagt sein. Und wenn die Weltöffentlichkeit mit Recht dem kommandierenden General de Castries ihre Hochachtung zollt, dann wollen wir in diesem Augenblick auch an die dort eingesetzten Soldaten, auch an unsere deutschen Menschen denken, die dort unten kämpfen und bluten.
Ich darf bitten, mir noch zu gestatten, auf Grund eines persönlichen Erlebnisses etwas anzufügen. Im Jahre 1552 — —
— Das kommt noch; der Satz war noch nicht zu Ende. Warten Sie den Satz ab; ich komme dann zu dieser Gegenwart. —
Der Vertrag von 1552, den damals einzelne Landstände in Deutschland — Hessen, Sachsen, Württemberg und einige andere — mit dem französischen König abgeschlossen haben und mit dem sie Metz, Toul, Verdun in Lothringen an Frankreich ausgeantwortet haben unter dem Vorbehalt aller „dero Kaiserlicher Majestät geschuldeten Rechte" oder unter dem Vorbehalt „aller Gerechtsame des Heiligen Römischen Reiches", mit dem Vorbehalt, daß es wieder zurückrevidiert werden könnte, — dieser Vertrag wurde in einem hessischen Jagdschloß geschlossen, das in meinem Heimatkreis liegt, in dem Schloß Friedewald. Eine Tafel erinnert noch heute an dieses Geschehnis.
Nun kommt das Persönliche: ich möchte es lieber sehen, daß unsere Namen einmal auf einer Tafel stehen, auf der es heißt: „Ihr wart beteiligt an der Schaffung eines einigen Europa und habt damit eine Zwietracht, die jahrhundertelang Europa in
Unruhe gehalten hat, zwischen Deutschland und Frankreich aus der Welt geschafft."
Von den Höhen meiner hessischen Heimat geht mein Blick dann herüber zu den Höhen von Verdun. Ich habe zwischen den beiden Kriegen einmal dort oben gestanden und das große Beinhaus „Ossuâire" gesehen, das dort errichtet ist und in dem die sterblichen Überreste aller derjenigen beigesetzt sind, deren Persönlichkeit nicht hat identifiziert werden können. Es war erschütternd, zu sehen, daß da unten unerkannt und ungekannt vielleicht Freund und Feind miteinander im Frieden vereint liegen, aber tot. Und warum tot? Weil zwischen Deutschland und Frankreich alle 50 bis 60 Jahre Kriege stattgefunden haben, Kriege, an denen wir nicht allein schuld waren — es gab auch einen Ludwig XIV. und einen Napoleon I. —, aber immer mit dem Ergebnis, daß die Grenze zwischen unseren beiden Staaten bald einmal 60 bis 80 km weiter nach Osten und bald einmal 60 bis 80 km weiter nach Westen verlegt wurde. Hören wir doch endlich auf mit diesem Verschieben von Grenzen, und kommen wir dahin, daß die Grenzen wegfallen!
Wenn wir aber zu dem Ergebnis in Gestalt der politischen Gemeinschaft kommen wollen, die diese Grenzen sukzessive abbaut, dann darf dieses Ergebnis nicht dadurch herbeigeführt werden, daß nun zum letztenmal vorher noch einmal Grenzen verschoben werden, nämlich unsere Westgrenze, die jetzt vom Westen der Saar an den Ostrand der Saar gelegt werden soll. Das paßt dann nicht zu den europäischen Methoden. Das paßt nur noch in das 19. Jahrhundert hinein, dessen Verdienst es wohl war, die Nationalstaaten geschaffen zu haben. Aber das Kennzeichen des 20. Jahrhunderts ist die Schaffung von über den Nationen stehenden Gemeinschaften, und diese müssen nach anderen Methoden geschaffen werden als nach denen des 19. Jahrhunderts.
Ich habe vorhin davon gesprochen, daß die Politik immer dem ewigen Sittengesetz entsprechen muß. Es entspricht aber nicht dem ewigen Sittengesetz, wenn ein Volk, ein Staat, ein Land, in dem nur Deutsche wohnen, abgetrennt wird und wenn wir das noch zum Opfer bringen wollen, nur um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu schaffen. Ich widersetze mich einem Junktim zwischen EVG und einer solchen Abtrennung.
Und noch ein Letztes. Wir wollen eine gemeinsame europäische Armee schaffen. Leben sollen die Söhne der Völker, die bei Verdun sich so oft bekämpft haben, nun nebeneinander in der gleichen europäischen Wehrmacht. Es geht nicht an, es ist psychologisch unmöglich, eine Wehrmacht aufzubauen und darin Soldaten deutscher Nationalität zu haben, die sich sagen müssen: Jetzt treten wir gemeinsam zum Schutz von Europa an, aber nur deshalb, weil vorher erst noch ein Stück Deutschlands geopfert werden mußte.
Das paßt nicht zusammen.
Ich fragte vorhin: Was wird Frankreich tun? Ich glaube, wenn ich wieder hinblicke auf jenes ernste Haus auf den Höhen bei Douaumont, dann ist die Frage zu stellen: Sollen wir nicht ohne diese Zutaten eines verflossenen nationalistischen Jahrhunderts uns so als Europäer finden?
Deshalb glaube ich, daß es nunmehr an Frankreich wäre, zu antworten.