Rede von
Erwin
Schoettle
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte mir zu gestatten, daß ich noch einmal in die gestrige Debatte zurücksteige und einige Bemerkungen zu Aussagen mache, die gestern von dieser Stelle gefallen sind.
Ohne mich in eine allgemeine Polemik gegen andere Teilnehmer dieser Debatte zu verstricken, möchte ich eine Bemerkung des Herrn Kollegen D r. D e h 1 er aufgreifen. Er hat von der Kühnheit gesprochen, mit der im Frühjahr 1951 durch seine Freunde im Bundeskabinett im Bunde mit Herrn Professor Dr. Erhard sozusagen das Steuer herumgerissen und die deutsche Wirtschaftspolitik auf den Pfad der Tugend gelenkt worden sei, obwohl – er hat es angedeutet — das Bundeskabinett damals bereits sehr drastische Beschlüsse gefaßt habe. Er ist dann aber gerade in dem Augenblick, wo es interessant geworden ist, vor der vollen Preisgabe des Geheimnisses zurückgeschreckt. Dafür hat ein aktives Mitglied des Bundeskabinetts — Herr Dr. Dehler genießt ja heute die Freiheit von der strengen Zucht des Kabinetts —
vor einigen Wochen dieses Geheimnis bereits weitgehend gelüftet, als es gesagt hat, im Frühjahr 1951 hätten wir die Brotkarte wieder einführen müssen, wenn uns nicht in diesem Augenblick die Amerikaner mit Lebensmittellieferungen sehr massiv unter die Arme gegriffen hätten. Ob man das gerade als Kühnheit bezeichnen kann oder als Glücksfall oder als Kombination von politischen Notwendigkeiten oder sonstwie, das lasse ich dahingestellt. Ich möchte nur zur Steuer der Wahrheit und zur Herstellung der historischen Perspektive einen Beitrag geleistet haben.
Im übrigen habe ich gestern von Prinzipien gesprochen. Auch die Kollegen, die nach mir gekommen sind, haben das getan, und ich bin eigentlich sehr froh darüber, daß ich sie herausgefordert habe. Ich finde es beinahe schmeichelhaft, daß sich ein wesentlicher Teil der gestrigen Debatte um das gedreht hat, was ich zur Debatte gestellt habe, und das ist ja wohl der Sinn einer solchen Aussprache. Bei einer solchen Gelegenheit werden Prinzipien ausgesprochen, um gegeneinander gestellt zu werden.
Jeder von uns weiß, daß im Ringen der politischen und gesellschaftlichen Kräfte in einer echten Demokratie immer zum Kompromiß gestrebt wird. Das geschieht im Alltag in den großen und in den kleinen Dingen, und letzten Endes kommt aus dem, was man vielleicht das Parallelogramm der Kräfte nennen könnte, das heraus, was just im Augenblick möglich und von allen Seiten erreichbar ist. Wenn man anders verfahren wollte, wäre die Demokratie eine Fassade, und es wäre müßige Deklamation, wenn die Opposition als Minderheit hier ihre Grundsätze in der sicheren Gewißheit verkündete, daß die Mehrheit sie einfach mit dem Gewicht der Zahl niederwalzen würde. Ich bin Herrn Kollegen von Merkatz für seine Bemerkung über das, was ich gesagt habe, außerordentlich dankbar. Er hat ganz genau verstanden, worum es mir als dem
Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion gestern ging. Man kann das etwa auf die Formel bringen: suaviter in modo, fortiter in re, verbindlich im Ton, aber unnachgiebig in der Sache, und das möchte ich für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ausdrücklich als das Prinzip ihres Handelns hier erklären.
Ich muß noch eine Bemerkung zu den Überlegungen machen, die hier über den Aufstieg der Bundesrepublik und ihrer Wirtschaft angestellt worden sind. Ich frage mich immer, und meine Freunde fragen sich mit mir, warum man bei der Überlegung, vor allem, wenn es darum geht, sich mit dem auseinanderzusetzen, was man sich als Sozialismus zurechtgemacht hat, ausgerechnet vor etwa 6 oder 8 Jahren anfängt, wo, wie Sie alle genau so wie wir wissen, im Grunde genommen die Reste der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft noch weiterlebten, in einer Periode allgemeiner Unsicherheit und Zersplitterung, und warum man dann nicht den Kreis der Betrachtungen über die Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit politischer und ökonomischer Theorien etwas weiter ausdehnt und die letzten hundert Jahre in Betracht zieht, von denen man ja bestimmt nicht sagen kann, daß der demokratische Sozialismus, dem wir Sozialdemokraten uns verpflichtet fühlen, etwa die Geschicke der Welt regiert hätte. Es war doch wohl nicht so, daß die Sozialdemokraten an der Wiege des 1. und 2. Weltkriegs und der großen Krisen der kapitalistischen Wirtschaft gestanden haben;
das waren doch die Tendenzen und geistigen Strömungen, die aus der Welt des sogenannten Bürgertums entsprungen sind.
Stellen Sie also die Dinge doch nicht auf den Kopf, sondern haben Sie auch einmal den Mut, die Geschichte nicht von dem Gesichtspunkt aus zu bewerten, der Ihnen nützlich erscheint, wenn Sie im Augenblick in einer für Sie günstigen Konjunktur stehen, und den Sozialismus in Bausch und Bogen abzufertigen, obwohl Sie sich vermutlich nie mit dem Wesen dessen beschäftigt haben, was wir unter Sozialismus verstehen!
Versuchen Sie einmal, obwohl es vielleicht schwer ist, so objektiv zu sein wie möglich!
Ich will noch eine Bemerkung zu den Ausführungen des Herrn Kollegen Niederalt machen. Er hat die sozialdemokratische Bundestragsfraktion angezapft und hat ihre zweifelhafte Länderfreundlichkeit hier kritisiert.
Na schön, über die Frage, ob eine bestimmte Sorte von Föderalismus für das deutsche Volk in den letzten acht Jahren nützlich war oder nicht, könnten eigentlich im wesentlichen diejenigen miteinander reden, die eine Periode noch größerer Verwirrung miterlebt haben, nämlich die vergeblichen Bemühungen im Wirtschaftsrat für die zwei Zonen, das Auseinanderfließende durch gesetzgeberische Maßnahmen zusammenzuhalten, und die dabei auf den Beistand der Länderregierungen gerechnet haben. Ich mache keinen Unterschied der Farbe. Dabei haben wir alle die Erfahrung gemacht, daß es viel leichter war, einen Sack Flöhe
zu hüten, als die zehn oder elf Länderregierungen für die Meisterung einer gemeinsamen Aufgabe unter einen Hut zu bringen.
Ich finde, daß da der Föderalismus gründlich kompromittiert und ebenso gründlich mißverstanden worden ist. Wir halten es da mit dem Gesichtspunkt, daß die Aufgaben zwischen den verschiedenen Ebenen der öffentlichen Verwaltung so verteilt werden sollen, daß so viel zentrale Entscheidungsmöglichkeit wie notwendig und so wenig Zentralismus wie möglich in der öffentlichen Verwaltung Platz greifen. Ob Sie das als ein Grundprinzip des Föderalismus akzeptieren oder ob Sie dem die andere Etikette umhängen, das ist uns ganz einerlei. Wir glauben aber, daß man bei der sachlichen Entscheidung über die Frage z. B. der Aufteilung der Steuerquellen ganz von selber von den Notwendigkeiten und von den Aufgaben, aber nicht von den Theorien ausgehen wird. Wenn man das tut, dann wird man zu einer richtigen Lösung kommen. Im übrigen, Herr Kollege Niederalt, muß ich Ihnen den Schmerz bereiten, Ihnen mitzuteilen, daß wir im Gegensatz zum bayrischen Finanzminister und vielleicht auch zur bayrischen Landtagsfraktion der Sozialdemokratie nach wie vor für die Bundessteuerverwaltung eintreten.