Rede von
Dr.
Wilhelm
Gülich
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Zuverlässigkeit, mit der das Christkind alle Jahre wieder kommt, kommt auch die Diskussion über die Erhöhung der Freigrenze bei Weihnachtsgratifikationen. Es muß also etwas an der Sache dran sein, wenn sie immer wieder aufs neue diskutiert wird.
Das Bedenken — wenn ich das vorwegnehmen darf —, der Bundesrat könnte die Angelegenheit vor Weihnachten nicht mehr erledigen, teile ich nicht. Der Bundesrat hat in anderen Fällen sehr viel schneller gearbeitet. Ich erinnere mich, daß wir 1952 an einem Donnerstag die Einführung einer Steuer auf Schaumwein beschlossen und daß am Freitag — am nächsten Tage! — der Bundesrat diesen Gesetzesbeschluß des Bundestags behandelt und ihm zugestimmt hat. Es dürften also gar keine Bedenken bestehen, daß der Bundesrat am Freitag nächster Woche zu dieser Vorlage Stellung nimmt.
Ich darf, bevor ich zur Sache komme, noch bemerken, daß ich soeben die Mitteilung bekommen habe, daß der Bundesverfassungsgerichtshof in Karlsruhe gegen Herrn Minister Schäffer entschieden hat.
Das bedeutet also, daß die Länder Bayern und Hessen an ihre Landesbediensteten jetzt eine Weihnachtsgratifikation zahlen. Daß die übrigen Länder sich nicht ausschließen können, liegt auf der Hand. Und es bleibt dann lediglich der Bund übrig, der sich ausschließen wird! — Ja, Herr Kollege Pelster, auf Ihre Handbewegung hin — —
— Doch, Sie haben die Bewegung des Zahlens gemacht!
— Ja, dazu möchte ich sagen: Für die „reichen Länder" — wir haben ja leider Gottes diesen Unterschied — spielt es keine Rolle, und was die „armen" anlangt, die müssen ohnehin danach trachten, daß ihnen von ihren Landesbediensteten, die sie schlechter bezahlen als die „reichen Länder" - z. B. schlechter einstufen —, die tüchtigen Kräfte nicht weglaufen: So bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als die Gratifikation dann auch zu zahlen.
Nun komme ich zu der Frage, die in Art. 1 behandelt wird. Der Herr Bundesfinanzminister ist gegen eine Erhöhung der Freigrenze von 100 auf 200 DM. Er behauptet — ich brauche nicht das zu wiederholen, was Herr Kollege Miessner bereits ausgeführt hat —, das werde einen Lohnsteuerausfall von 60 Millionen DM mit sich bringen. Er beweist seine Behauptungen aber nicht. Er sagt ferner, bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer werde eine Schmälerung um 35 Millionen DM eintreten, weil er von der Voraussetzung ausgeht, daß die Erhöhung der Freigrenze viele Unternehmen veranlassen würde, eine höhere Gratifikation zu zahlen, als sie das sonst tun würden. Diese Annahme kann kaum zutreffen.
Rechnet man aber so, wie das Bundesfinanzministerium rechnet — daß nämlich eine Minderung von 35 Millionen DM im Einkommen- und Körperschaftsteueraufkommen eintreten würde —, dann mußman andererseits auch in Rechnung stellen—darauf hat Herr Kollege Miessner schon hingewiesen—, daß die gesamte Weihnachtsgratifikation unmittelbar in den Konsum geht. Dieses Geld wird nicht auf das Bankkonto gebracht, sondern die Leute, die es empfangen, werden „praktische Geschenke" machen — um mich des Jargons der vorweihnachtlichen Geschäftswerbung zu bedienen. Sie werden also ihre Gratifikationen voll und ganz in Konsumgütern anlegen, zum Teil sogar in Konsumgütern, die mit einer hohen Verbrauchssteuer belastet sind. Man müßte also, wenn man den Steuerausfall richtig berechnen will, auch feststellen, was von der Summe der Gratifikationen an Steuern in die öffentlichen Finanzkassen zurückfließt. Man geht in der Annahme nicht fehl, daß dies ein Drittel der gesamten Summe ausmachen wird.
Außerdem müßte der Bundesfinanzminister bedenken, daß 60 % des geschätzten Steuerausfalls auf Rechnung der Länder und nur 40 % auf Rechnung des Bundes gehen. Hinsichtlich der Länder gilt dasselbe, was ich vorhin Herrn Kollegen Pelster über die „armen" und die „reichen" Länder gesagt habe.
Nun habe ich mich bemüht, zu erfahren, auf Grund welcher Unterlagen das Bundesfinanzministerium diesen Steuerausfall errechnet hat. Leider gibt es keine Unterlagen darüber, was in den letzten Jahren an Gratifikationen gezahlt worden ist, welche Steuersumme auf die Gratifikationen entf allen ist und wie hoch der Steuerausfall ist, der durch die Steuerfreigrenze bei den Weihnachtsgratifikationen eingetreten ist. Das wissen wir also nicht. Zur Grundlage der Schätzungen ist die hochinteressante Lohnstrukturerhebung vom November 1951 gemacht worden, die leider erst vor kurzem, im Oktoberheft 1953 von „Wirtschaft und Statistik", veröffentlicht worden ist.
An dieser Stelle kann ich einen Stoßseufzer über unsere Finanz- und Steuerstatistik nicht unterdrücken. Die Finanz- und Steuerstatistik müßte sehr viel weiter ausgebaut werden, sie müßte stärker differenziert sein: bisher ist sie sachlich unzureichend. Die Ergebnisse der Finanz- und Steuerstatistik hinken so beträchtlich hinter der Wirklichkeit her, daß sie für wirtschaftspolitische und finanz- und steuerpolitische Entscheidungen keine geeignete Grundlage abgeben können: sie sind nicht zeitnahe genug. Dieser Mißstand hat seinen Grund zum Teil darin, daß die Veranlagung der Einkommen- und Körperschaftsteuer mit jahrelanger Verspätung erfolgt.
Das Bundesfinanzministerium hat die Lohnstrukturerhebung vom November 1951 auf die Betriebsstättenzählung vom Jahre 1950 bezogen. Das ist im Dezember 1953 eine mißliche Grundlage. Ich fand die Ergebnisse dieser Erhebung aber in anderer Hinsicht für das hier zu behandelnde Problem bemerkenswert. Das ist dem Bundesfinanzministerium leider entgangen.
Die Lohnstrukturerhebung bringt auch die durchschnittlichen Sonderzuweisungen für Arbeiter und Arbeiterinnen in ungefähr 100 Wirtschaftszweigen. Der durchschnittliche Betrag der jährlichen Sonderzuweisungen — das sind im wesentlichen die sogenannten Weihnachtsgratifikationen — ist für männliche Arbeiter 69 DM und für weibliche Arbeiter 48 DM. Ein solcher Durchschnitt besagt aber
nicht viel. Interessant ist nur die Streuung. Die Streuung gibt uns für die Beurteilung des vorliegenden Gesetzentwurfs die interessantesten Hinweise. Im Bereich des Geld-, Bank- und Börsenwesens haben die Sonderzuweisungen pro Arbeitnehmer 383 DM im Jahre, im Bereich des Versicherungswesens 294 DM im Jahre betragen. Das sind die beiden Wirtschaftszweige, in denen das 13. Monatsgehalt üblich geworden ist.
Unsere Frage ist: Wo liegt die richtige Freigrenze? Die Erhebung zeigt, daß diejenigen Wirtschaftszweige, welche geringe Löhne zahlen, auch geringe Gratifikationen zahlen. Es kommen z. B. in der Herren- und Damenschneiderei die männlichen Schneider 32 DM, die weiblichen nui 25 DM, in der Obst- und Gemüseverarbeitung die Männer 48 DM, die Frauen nur 20 DM, in der Wäscherei, Färberei und chemischen Reinigung die Männer 34 DM, die Frauen nur 20 DM. Ich habe das als extreme Beispiele der niedrigsten Gruppen hervorgehoben und sage Ihnen nun die höchsten Gruppen dieser Lohnstrukturerhebung. Dabei zeigt sich, daß die Hochofen-, Stahl- und Walzwerksarbeiter 170 DM, die Arbeiter in der Mineralöl verarbeitenden Industrie 191 DM, die Arbeiter in der chemischen Industrie 186 DM, in der Papiererzeugung und -verarbeitung 196 DM, in der Zementindustrie 187 DM und in der Kunstseide- und Zellwollherstellung 180 DM bekommen. Damit habe ich Ihnen auf der andern Seite die Gruppe der Bezieher der höchsten Einkommen unter den Arbeitern genannt. Diese Extreme sind ja recht interessant. Von den Frauen ist zu sagen, daß sie in diesen hochbezahlten Gruppen durchweg höhere Gratifikationen bekommen, daß sie aber alle unter 100 DM liegen und infolgedessen für die gegenwärtige Betrachtung ausscheiden.
Ich ziehe nun aus dem eben Dargelegten den Schluß. Diese Lohngruppenerhebung zeigt zwei interessante Ergebnisse: Erstens zeigt sie eindeutig, daß es richtig ist, die Steuerfreigrenze auf 200 DM zu setzen. Bei 200 DM ist steuersystematisch die richtige Grenze gefunden. Das hat man 1951, als man die Grenze gesetzlich auf 100 DM festgesetzt hat, noch nicht wissen können. Man kann es jetzt erst, seit wenigen Wochen, wissen, seitdem nämlich diese Lohnstrukturerhebung vorliegt. Es ist also durchaus ein Anlaß gegeben, nunmehr die Freigrenze richtig festzusetzen. Man sollte hier auch nicht einwenden, daß es dazu jetzt nicht an der Zeit wäre, sondern daß man bis zu der sagenhaften großen Steuerreform warten sollte. Wenn wir uns erinnern, wie viele Steuervergünstigungen der Bundestag für eine ganze Reihe von Wirtschaftszweigen in den letzten vier Jahren beschlossen hat, dann können wir bei der immer wiederkehrenden Weihnachtsgratifikations-Diskussion — was für ein ominöses Wort! — uns nunmehr veranlaßt sehen, das jetzt ermittelte richtige Ergebnis von 200 DM einzusetzen. Das ist das eine interessante Ergebnis.
Das zweite ist: Die Lohnstrukturerhebung macht deutlich, daß die Frage der Steuerfreigrenze für Weihnachtsgratifikationen in der Wirtschaft keine primär soziale Angelegenheit ist. Dieses Ergebnis müssen wir respektieren; denn ich habe gesagt — und es geht ganz klar daraus hervor —, daß die höher bezahlten Facharbeiter höhere Gratifikationen bekommen, während die niedrig bezahlten niedrige bekommen. Ich sagte aber — und ich lege das Hauptgewicht darauf —: wir haben endlich eine
Grundlage dafür, daß wir aus steuersystematischen Gründen die Freigrenze jetzt auf 200 DM festsetzen können.
Die Gratifikationen werden ja auch gelegentlich in der Arbeitsrechtsprechung als Teil des Lohnes aufgefaßt. Man muß aber sagen, daß die Gratifikation, die zum Abschluß des Geschäftsjahrs aus Anlaß des Weihnachtsfestes gegeben wird, von allen Empfängern als eine Weihnachtszuwendung empfunden wird, auch als eine Anerkennung für geleistete Arbeit, und der Stärkung der Werkszugehörigkeit dienen soll.
Hierbei möchte ich noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Die Lohnsteuerpflichtigen sind ja objektiv die wirklich Steuerehrlichen. Die Einkommensteuerpflichtigen haben auch aus Anlaß des Weihnachtsfestes so viele Ausweichmöglichkeiten, die die Lohnsteuerpflichtigen nicht haben. Deswegen bin ich der Meinung, daß gegenüber diesen uneingeschränkt Steuerehrlichen der Bundesfinanzminister und die Länderfinanzminister — es betrifft sie ja alle gleichermaßen — nicht so happig sein und diesem Anliegen entsprechen sollten. zumal es, wie ich eben dargelegt habe, steuersystematisch in bester Ordnung ist. Ich brauche wohl nur noch darauf hinzuweisen, daß alle Lohnempfänger, auch die besser bezahlten, ihren Nachholbedarf mit Abschlagszahlungen fest in ihre Haushaltsplanung einbezogen haben und daß von allen die Weihnachtsgratifikationen als wirkliche Erleichterung empfunden werden. Deswegen meine ich, man sollte jetzt endlich diese Frage lösen und sie nicht noch weiter hinausschieben.
Außerdem glaube ich, daß den Arbeitern und Angestellten, nicht zuletzt natürlich auch den Angehörigen des öffentlichen Dienstes, denen das Haus vorhin nach dem Irrtum in der Abstimmung auch die bescheidene Zuwendung, die vom BHE beantragt worden war, versagt hat, und den Rentenempfängern, denen eine Weihnachtsbeihilfe zu zahlen in der vorigen Woche abgelehnt worden ist, vom Spätsommer her noch die Lobgesänge über das deutsche Wirtschaftswunder im Ohr klingen. Sie haben das ganz simple Gefühl, daß sie auch nach den Wahlen aus Anlaß des Weihnachtsfestes einen bescheidenen Anteil an diesem Wunder haben möchten.