Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr von Brentano hat gestern hier zutreffend ausgeführt, daß mindestens 50 % der Vertriebenen und Flüchtlinge der CDU die Stimme gegeben haben. Das sind 3 1/2 Millionen Wähler. Dieses Ergebnis der Wahl ist vielfach so ausgelegt worden, als ob die Vertriebenen nach der wirtschaftlichen Eingliederung nunmehr auch die politische Eingliederung vollzogen hätten. Auch in der Regierungserklärung ist diese Auffassung angeklungen. Ich halte diese Ansicht nicht für zutreffend. Die Vertriebenen in ihrer überwiegenden Mehrzahl sind weder wirtschaftlich eingegliedert, noch haben sie sich bei der letzten Wahl politisch festgelegt.
Für ihre Haltung bei den Wahlen gab es mehrere Gründe. Einmal bejahten sie den außenpolitischen Weg des Herrn Bundeskanzlers, zweitens war es ihnen nicht verborgen geblieben, daß bei allem, was in diesem Hause an gesetzlichen Grundlagen für die Eingliederung geschaffen wurde, die stärksten Impulse aus unseren Reihen hervorgegangen sind. Andererseits waren keinerlei Tatbestände sichtbar, die einen besonderen Anreiz gegeben hätten, anderen Parteien bevorzugt die Stimme zu geben. Trotzdem halte ich es nicht für richtig, daraus eine politische Festlegung zu folgern.
Auch mit der wirtschaftlichen Eingliederung sind wir noch nicht über den Berg. Der neue Bundesvertriebenenminister steht immer noch vor sehr schweren Aufgaben. Ich möchte zur Begründung dieser Ansicht nur stichwortartig folgende Probleme anführen: 1. Hunderttausende sind noch in Lagern und Baracken. 2. Der Anteil an der Erwerbslosenzahl ist immer noch unverhältnismäßig hoch; es handelt sich um Hunderttausende. 3. Die Lage der Alten und Erwerbsunfähigen ist immer noch außerordentlich unbefriedigend. 4. Unsere Bauern und. Landwirte sind kaum zu 5 % wieder voll angesetzt. 5. Die gewerbliche heimatvertriebene Wirtschaft leidet nach wie vor unter ihrem Mangel an Eigenkapital. 6. Unsere Jugend hat aus naheliegenden Gründen einen unverhältnismäßig schweren Start für ihren Lebensweg. 7. 74 % sind Arbeitnehmer, während es in der Heimat — die genaue Zahl habe ich nicht hier — etwa nur die Hälfte war. Es ist also ein gewaltiger sozialer Abstieg festzustellen.
Wenn ich diese negativen Tatbestände aneinanderreihe, um falschen Vorstellungen entgegenzutreten, so übersehe ich dabei auf der anderen Seite nicht das Positive und' stimme Herrn von Brentano in seiner gestrigen Bemerkung durchaus zu, daß Millionen schon wieder eine neue Lebensgrundlage gefunden haben. Daß das Problem aber noch nicht als gelöst betrachtet werden kann, zeigt ein einziger Blick auf die Sowjetzone. Von dort aus können jeden Tag wieder Reaktionen ausgelöst werden, die uns vor unlösbare Aufgaben stellen. Deshalb müssen wir uns davor hüten, die Dinge allzu leicht zu nehmen.
Zur Regierungsbildung hat der Herr Bundeskanzler erklärt, daß dabei das Bestreben maßgebend war, möglichst viele Gruppen an der Verantwortung wirksam teilnehmen zu lassen. Das zwingt mich zu der Feststellung, daß eine große
Gruppe von Wählern und Abgeordneten der eigenen Partei von diesem Bestreben nicht umfaßt wurde.
Die Vertriebenen und Flüchtlinge der CDU/CSU — 3 1/2 Millionen Wähler — sind ohne eigene Vertretung im Kabinett geblieben, trotz der Erweiterung, die es erfahren hat. Darüber wird an anderer Stelle mehr zu sagen sein. Heute begnüge ich mich mit dieser Feststellung und hebe hervor, daß es unter den heimatvertriebenen Abgeordneten meiner Fraktion in diesem Punkt Meinungsverschiedenheiten nicht gibt.
Wenn uns auch die Teilnahme an der Verantwortung versagt worden ist, so werden wir uns doch der Verpflichtung zur sachlichen Mitarbeit nicht entziehen. Wir haben es mit Genugtuung begrüßt, daß in der Regierungserklärung mit besonderem Nachdruck die Seßhaftmachung der vertriebenen Bauern und Landwirte in den Vordergrund gerückt worden ist. Ich habe schon oft Gelegenheit gehabt, vor diesem Hause auszuführen, daß das unser innenpolitisches Anliegen Nummer 1 ist. Ich kann mich kurz fassen, da der Herr Kollege Haasler diese Dinge im wesentlichen schon genau so behandelt hat. Ich beurteile das Bundesvertriebenengesetz durchaus positiv und trete stets der Auffassung entgegen, daß es ein Mißerfolg sei; aber die in der Regierungserklärung gebrauchte Bezeichnung „Magna Charta der Vertriebenen" lehnen wir ab. Dazu sind doch allzu viele Kompromisse und Abstriche hineingearbeitet worden, ganz abgesehen davon, daß wir seit dem 6. August 1950 eine „Charta der Vertriebenen" haben, die von allen Vertriebenen anerkannt ist und auch in der Welt allgemeine Zustimmung gefunden hat. Wenn man das Bundesvertriebenengesetz als Magna Charta der Vertriebenen bezeichnen wollte, so wäre das eine Umkehrung des guten preußischen Grundsatzes „Mehr sein als scheinen".
Wir hoffen und fordern, daß mit der bäuerlichen Siedlung nunmehr Ernst gemacht wird, daß ein anderes Tempo vorgelegt wird, das allein noch verhindern kann, daß unersetzliche Kräfte endgültig verlorengehen. Schon dieser Hinweis zeigt, daß bei der Eingliederung der Vertriebenen in Zukunft das Schwergewicht bei der Exekutive liegen wird. Wir werden den neuen Bundesvertriebenenminister bei seiner schwierigen Aufgabe mit aller Kraft unterstützen und sind zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit ihm bereit.
Wir stellen uns auch hinter seine Forderung, den Zuständigkeitsbereich des Ministeriums so zu erweitern, daß für die gestellten Aufgaben echte Wirkungsmöglichkeiten gegeben werden.
Dazu gehört vor allem auch eine engere Verbindung mit dem Bundesausgleichsamt. Diese Behörde ist von ausschlaggebender Bedeutung für die produktive Eingliederung aller Geschädigten. Sie hat also eine wirtschaftspolitische Aufgabe allerersten Ranges zu erfüllen. Eine solche Behörde gehört nicht zum Steuerministerium, an ihre Spitze gehört auch nicht ein Steuerfachmann.
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Das richtet sich nicht gegen die Persönlichkeit.
Aber es ist ein anderes, ob ich Steuern erhebe und
der Wirtschaft Geld entziehe oder ob ich plötzlich vor die Aufgabe gestellt werde, es ihr unter besonders schwierigen, ja einmaligen Umständen auf eine wirtschaftlich sinnvolle und zweckmäßige Art und Weise wieder zuzuführen.
An diese Stelle gehört ein Mann mit wirtschaftlichem Durchblick und Weitblick, der Phantasie und ein warmes Herz für seine Aufgabe mitbringt und vor allem auch den Mut, neue Wege zu gehen. Mit besonderem Nachdruck muß ich es beanstanden, daß unter den ersten drei oder vier Männern dieses Amtes auch nicht ein Vertriebener zu finden ist, während es früher geradezu selbstverständlich war, daß der Präsident ein Vertriebener war. Diese Art der Stellenbesetzung muß von den Vertriebenen als ein bitteres Unrecht empfunden werden.
Für die parlamentarische Arbeit auf diesem Gebiet möchte ich darauf hinweisen, daß dieser Bundestag, wenn er nicht vorzeitig sterben sollte, die Aufgabe haben wird, im Jahre 1956 das Hauptentschädigungsgesetz für den Lastenausgleich fertigzustellen. Dieses Gesetz muß echten Entschädigungscharakter haben.
Es wird ferner in naher Zukunft notwendig sein, die Behandlung der Sowjetzonenflüchtlinge im Lastenausgleich auf eine neue Grundlage zu stellen, da die bisherigen Maßnahmen unzulänglich sind und nur provisorischen Charakter tragen. Ich habe bereits im vergangenen Bundestag die Behandlung die Sowjetzonenflüchtlinge im Lastenausgleich zum Gegenstand eines besonderen Initiativgesetzentwurfs gemacht, der leider nicht zur Erledigung gekommen ist. Das muß jetzt nachgeholt werden. Aber es müssen für diesen Zweck neue Aufbringungsmöglichkeiten erschlossen werden. Wir müssen energisch dagegen Front machen, daß dem Lastenausgleichsfonds immer neue Lasten zusätzlich aufgebürdet werden, wie das in besonders starkem Umfang schon beim Altsparergesetz geschehen ist.
Unser politisches und parlamentarisches Wirken für die nahe Zukunft wird beherrscht sein von dem Streben nach der Wiedervereinigung Deutschlands. In der Regierungserklärung ist zu unserem besonderen Anliegen auf Verwirklichung unseres Rechtes auf die Heimat gesagt worden:
Entsprechend den zahlreichen Erklärungen des Bundestags und der Bundesregierung wird das deutsche Volk die sogenannte Oder-NeißeGrenze niemals anerkennen.
Diese Erklärung wurde von dem Hohen Hause mit nachhaltigem Beifall entgegengenommen. Trotzdem muß ich zum Ausdruck bringen — ich glaube, ich befinde mich insoweit in Übereinstimmung mit Herrn von Merkatz —, daß diese Formulierung nicht in vollem Umfang befriedigt. Sie ist nicht präzise und nicht positiv genug. Der Landesverband Nordrhein-Westfalen des Bundes der vertriebenen Deutschen hat am 25. dieses Monats in einem Telegramm an den Herrn Bundeskanzler betont, daß diese Formulierung z. B. die Aufgabe von Ostpreußen oder Oberschlesien nicht ausschließt. Daß solche Besorgnisse keine Hirngespinste sind, wurde durch die Tatsache unterstrichen, daß bereits am nächsten Tage ein entsprechender Vorschlag unter dem Namen „Warburg-Plan" in den Zeitungen zur Diskussion gestellt wurde.
Auch verschiedene andere Vorkommnisse und Veröffentlichungen haben aufgezeigt, daß es nicht
mehr möglich ist, mit solchen unbestimmten Verlautbarungen auszukommen. Der Vorschlag, die deutschen Ostgebiete sollten gegebenenfalls als Kondominium zwischen Deutschen und Polen behandelt werden, hat bei den Vertriebenen eine sehr starke Beunruhigung ausgelöst. Es wäre sehr erwünscht gewesen, wenn das vor einigen Tagen erfolgte Dementi des Herrn Bundeskanzlers sehr viel früher gekommen wäre. Es wäre dann nicht zu mancherlei Diskussionen gekommen, auf die ich eingehen wuß, weil sie für uns ungewöhnlich gefährlich sind.
In einem Gespräch im Nordwestdeutschen Rundfunk hat man sich zu folgendem Satz verstiegen:
Bei den hier und da laut gewordenen Protesten, die von unserer Seite kamen, handelt
es sich um einen fatalen Irrtum über den Umgang mit Rechten. Niemand sollte glauben,
daß in der Politik ein Recht jederzeit durchsetzbar ist ... eine aktive deutsche Ostpolitik
wird nicht erfolgreich sein können, wenn sie
simplifiziert wird und vor den harten Tatsachen der Gegenwart die Augen verschließt.
Hier scheint ein ebenso fundamentaler wie fataler Irrtum des NWDR vorzuliegen, und zwar ein Irrtum über die Kraft des Rechts. Wir können unseren klaren Rechtsanspruch weder aufgeben noch verwässern lassen, weil wir im Augenblick keine Möglichkeit der Durchsetzung sehen. Die Auffassung, daß ein nicht sofort realisierbarer Rechtsanspruch nicht energisch erhoben und nachdrücklich geltend gemacht werden darf, schlägt allen geschichtlichen Erfahrungen ins Gesicht und statuiert den Primat der Taktik. Professor Laun hat in seiner Schrift „Das Recht auf die Heimat" ein besonders prägnantes Beispiel gebracht, indem er darauf hinweist, daß das vertriebene Judentum seine innere Verbindung mit der Heimat fast zweitausend Jahre lang so stark aufrechterhalten hat, daß die internationale öffentliche Meinung noch nach diesem Zeitraum im allgemeinen anerkannt hat, „daß auch dieses Volk Rechte an dem Boden seiner Väter hat".
Es ist außerordentlich bedauerlich, daß das Deutsche Industrieinstitut in Köln sich in seinem Rundfunkspiegel vom 8. Oktober 1953 die Auffassung des NWDR zu eigen macht und die oben zitierte Äußerung sogar als allgemeingültig hinstellt. Diese Verlautbarung geht so weit, aus dem Verzicht der Vertriebenen auf Gewalt und Rache gewissermaßen einen Verzicht auf das Heimatrecht herauszulesen. Wir haben mit aller Klarheit und immer wieder — zuerst in unserer Charta — diesen Verzicht auf Gewalt, Rache und Vergeltung ausgesprochen, und wir stehen auch heute noch dazu.
Aber wir haben auch niemals einen Zweifel daran gelassen, daß wir unseren klaren Anspruch auf die Heimat unter keinen Umständen preiszugeben bereit sind.
Die Bundesrepublik und das ganze deutsche Volk sind insoweit in einer durchaus günstigen rechtlichen Position. Jedermann in der Welt — darauf hat auch schon Herr Haasler hingewiesen — mit Ausnahme der Sowjetunion und ihrer Satelliten erkennt an, daß die Maßnahmen seit 1945 an dem völkerrechtlich anerkannten Gebietsstand des Deutschen Reiches eine Änderung nicht herbeigeführt haben. Mehr brauchen wir im Augenblick nicht zu sagen. Erst der Friedensvertrag kann daran etwas ändern, aber auch nur mit Zustimmung des deutschen Volkes.
Es ist völlig verfrüht und verfehlt, im gegenwärtigen Zeitpunkt über Kompromißlösungen zu diskutieren. Wenn man das schon lange vor Beginn der Verhandlungen tut, bringt man sich selbst von vornherein in eine ausweglose Ausgangsposition. Die bisherige Diskussion hat auf der Gegenseite keinerlei Kompromißbereitschaft hervorgerufen. Sie ist ganz offensichtlich als Schwäche ausgelegt worden und hat höchstens appetitanregend gewirkt.
Ich muß auf noch eine Veröffentlichung zu sprechen kommen, die vor einigen Tagen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" aus der französischen Zeitung „Le Monde" abgedruckt war. Dort fand sich in einer Besprechung der Regierungserklärung folgender Satz:
Wenn er
— der Bundeskanzler —
es dabei bewenden ließ, noch einmal daran zu erinnern, daß Deutschland die Oder-NeißeLinie niemals anerkennen werde, so geschah dies mehr, um einem Schlagwort Tribut zu zollen, als aus tiefer Überzeugung.
Meine Damen und Herren, eine solche Unterstellung in einem ausländischen Blatt hätte nach meiner Ansicht auch nicht einen Tag unwidersprochen bleiben dürfen.
Die Erklärungen zum Heimatrecht können sich niemals auf die Gebiete jenseits der Oder-NeißeLinie beschränken. Wir müssen auch an die Millionen Vertriebenen denken, die anderswo ihre Heimat verloren haben.
Die Regierungserklärung hat auf die früheren Erklärungen des Bundestags und der Bundesregierung Bezug genommen. Ich möchte die Entschließung des Bundestags vom 4. Dezember 1952, did von den Vertriebenenorganisationen angeregt wurde und die anläßlich der zweiten Lesung des Vertragswerks beschlossen wurde, in Ihr Gedächtnis zurückrufen. Es heißt dort:
Der Deutsche Bundestag macht sich zum Sprecher der Heimatvertriebenen, indem er feststellt:
Die dem Friedensvertrag vorgreifenden Veränderungen des deutschen Staatsgebiets werden nicht anerkannt; sie haben keine Rechtsgültigkeit.
Da ist klar ausgesprochen, was ich vorhin sagte. Ich wies eben darauf hin, daß wir auch an die anderen denken müssen, und mit Bezug darauf lese ich weiter:
Ein dauerhafter Friede kann nur gegründet werden auf die Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte, insbesondere des Rechts der persönlichen Freiheit, von dem auch das Recht umfaßt wird, in der angestammten Heimat zu leben und über Staatsform und Staatsangehörigkeit selbst zu bestimmen.
Hinter diese Erklärung sollte sich die Bundesregierung stellen, aber nicht nur durch eine farblose Bezugnahme, sondern expressis verbis. Niemand kann gegen diese Formulierungen Einwendungen erheben. Wir müssen der Welt die Frage vorlegen, ob das Selbstbestimmungsrecht
der Völker auch für uns und unsere Heimat Geltung hat oder nicht. Wenn diese Frage bejaht wird — und sie kann gar nicht verneint werden —, dann kann auch unser Recht auf die Heimat nicht in Zweifel gezogen werden. Die Bundesregierung sollte sich mit einem klaren Bekenntnis auf den Boden dieses Rechtes stellen. Eine klare und feste Haltung, verbunden mit dem aufrichtigen Bekenntnis zu dem Gedanken einer friedlichen Lösung, wird ihre Wirkung tun. Erst vor wenigen Stunden hörten wir von dieser Stelle aus von einem der ersten Repräsentanten des amerikanischen Volkes den Satz: „Wir achten die Rechte anderer Völker."
Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie mit größerem Nachdruck als bisher in der ganzen Welt der sehr geschickten und wirksamen Propaganda der Exilpolen und -tschechen entgegentritt und die Weltöffentlichkeit mit unserem unantastbaren Rechtsanspruch bekanntmacht. Die Unterabteilung Ost des Auswärtigen Amts muß stärker ausgebaut und aktiviert werden. Es ist weiter notwendig, daß unseren großen Missionen sachverständige Referenten für die Ostfragen zugeteilt werden. Niemals dürfen wir uns den Vorwurf vor der Geschichte machen lassen, daß wir in dieser für das ganze deutsche Volk und seine Zukunft entscheidenden Sache Wichtiges verabsäumt haben.