Rede von
Dr.
Ludwig
Preller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Haushaltsdebatte wäre an sich die Gelegenheit, um in Gesamtheit von der Politik des Arbeitsministers zu sprechen. Mit Rücksicht darauf, daß gestern die Redezeit verkürzt worden ist, möchte ich es mir versagen, eine Gesamtdarstellung der Art zu geben, in der der Arbeitsminister seine Sozialpolitik entwickelt hat. Ich möchte nur das eine betonen: wir haben in den vergangenen Jahren und besonders im vergangenen Jahr immer wieder eine klare Linie der Politik des Arbeitsministers vermißt. Wir mußten feststellen, daß sich der Arbeitsminister innerhalb seiner eigenen Regierung in sozialpolitischen Fragen nicht genügend durchgesetzt hat. Immer wieder mußten wir feststellen, daß er nicht stark genug gegenüber den Kräften war, die sonst in der Koalition und in der Regierung wirksam waren, sei es nun der Finanzminister, sei es der Justizminister.
Ich erinnere nur daran, daß die zwei wichtigsten Gesetze, die wir nach der Konstituierung des kollektiven Arbeitsrechts zu behandeln gehabt hätten, nämlich das Arbeitsgerichtsgesetz und das Sozialgerichtsgesetz, erst sozusagen in der letzten Minute an diesen Bundestag gekommen sind, obwohl die Gelegenheit gegeben gewesen wäre, diese Gesetze schon früher einzubringen und damit früher zu verabschieden.
Hunderttausende von Sozial- und Arbeitsgerichtsfällen warten auf die obergerichtliche Entscheidung. Wir werden erst in der nächsten Woche zur Verabschiedung des Sozialgerichtsgesetzes kommen, und dabei müssen wir beklagen, daß in dieses wie in das Arbeitsgerichtsgesetz eine rückschrittliche Auffassung Eintritt gewonnen hat, die Auffassung nämlich, daß nicht die Gewerkschaften allein die berufenen Vertreter der Arbeitnehmer sind,
sondern daß auch andere Gruppen, die man hier „Vereinigungen von Arbeitnehmern" nennt, die Vertretungsbefugnis haben sollen, ähnlich wie das im Selbstverwaltungsgesetz der Sozialversicherung der Fall ist.
Neben diesen Gesetzen sind in den vergangenen Jahren einige Gesetze auf die Initiative des Bundesarbeitsministeriums zurückzuführen. Ich nenne das Versorgungsgesetz, das Schwerbeschädigtengesetz. Aber auch hier mußte die Opposition wesentlich mitarbeiten, um diesen Gesetzen eine einigermaßen brauchbare Gestalt zu geben. Andere Gesetze jedoch wie das Mutterschutzgesetz und das Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen sind allein auf die Initiative der Sozialdemokratie zurückzuführen.
Die Initiativgesetze dazu mußten von der Sozialdemokratie eingebracht werden, weil der Bundesarbeitsminister dies nicht getan hat. Wir vermissen zum Mutterschutzgesetz heute noch die Ausführungsbestimmungen, obwohl der Herr Bundesarbeitsminister im Oktober oder November vorigen Jahres zugesagt hat, daß diese Ausführungsbestimmungen binnen vier oder sechs Wochen ergehen würden. Ich erinnere an das Schicksal der Kinderbeihilfen — wir werden ja wahrscheinlich noch im Laufe des heutigen Tages darüber zu sprechen haben —: auch hier zunächst eine Initiative von uns und nun dieses Versagen der Koalition, die, wie im Ausschuß gesagt wurde, auf Verlangen von Wirtschaftskreisen an der weiteren Erörterung der Kinderbeihilfen in der vorliegenden Form nicht mehr teilnehmen zu können glaubt.
Besonders deutlich haben wir aber die Schwäche des Bundesarbeitsministers auf dem Gebiet der sozialen Sicherung erkennen müssen. Ich erinnere daran, daß die Frage der Rentenerhöhung ein Jahr lang von der Sozialdemokratie immer und immer wieder vorgebracht werden mußte, ehe sie über die Bühne ging. Ich erinnere daran, daß die Erhöhung des Grundbetrags auf der Initiative der Sozialdemokratie beruht, daß die Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze ebenfalls auf einen Antrag von uns zurückgeht. Noch nicht erledigt — wir wissen nicht, wie die Dinge in der nächsten Woche sein werden — ist die Vorlage über die Erhöhung der Steigerungsbeträge in der Angestelltenversicherung und über die Erhöhung der Grundbeträge in der Invalidenversicherung. Ferner werden wir in der nächsten Woche, auch hier wieder auf Veranlassung und Initiative der Sozialdemokratie, auf dem Gebiet der Arbeitslosenunterstützung endlich eine Verbesserung bekommen; hier scheinen wir eine Einigung gefunden zu haben.
Ich erwähne das nicht allein deshalb, um herauszuarbeiten, daß die Sozialdemokratie immer und immer wieder die Initiative ergreifen mußte, sondern vor allen Dingen deswegen, weil wir vermißt haben, daß der zuständige Minister im Bundeskabinett, nämlich der Arbeitsminister, von sich aus eine klare Linie der Sozialpolitik gezeigt hätte. Das wäre nämlich seine Aufgabe gewesen.
Der Herr Arbeitsminister hat neulich im „Bulletin" darauf hingewiesen, bei einem früher noch geringen Sozialprodukt sei nicht die Möglichkeit gegeben gewesen, eine systematische Planung durchzuführen. Herr Arbeitsminister, diese Darlegung ist nicht richtig. Denn Sie hatten im vorigen Jahre die Gelegenheit, auf unseren Boden zu treten, als wir von der Sozialdemokratie den Antrag stellten, jene soziale Studienkommission einzusetzen.
Der Herr Bundesarbeitsminister hat es nicht getan; die Regierungskoalition ebensowenig. Sie hat damit kundgetan — und das ist auch in der Debatte zum Ausdruck gekommen '—, daß sie nicht den Willen zu einem grundlegenden systematischen Aufbau der sozialen Sicherung hat. Damals ist nur dieser Beirat gefordert worden. Ein Jahr hat der Bundesarbeitsminister gebraucht, ehe er den Beirat überhaupt einberufen hat.
Wir haben hier über diese Dinge gesprochen. Der Bundesarbeitsminister hat versucht, die Schuld für diese Verzögerung der Sozialdemokratie in die Schuhe zu schieben. Wir konnten ihm nachweisen, daß wir ihm im vorigen Mai die Möglichkeit geboten hatten, diesen Ausschuß einzuberufen. Es lag an ihm, daß er unsere Anfrage nicht beantwortet hat. Er hat ein Jahr lang die Errichtung dieses Beirats verzögert. Unterdessen ist dieser Beirat ganze drei Mal zusammengetreten. Und wenn ich richtig unterrichtet bin, war es immer schwierig, die erforderlichen Materialien aus dem Bundesarbeitsministerium zu erlangen.
Damit hat der Deutsche Bundestag und hat der Bundesarbeitsminister eine einmalige Gelegenheit versäumt, etwas zu tun, was in anderen demokratischen Ländern Übung ist, nämlich eine unabhängige Sachverständigenkommission außerhalb des Parlaments mit Fragen zu befassen, an denen uns allen gelegen sein müßte. Ich weiß, daß selbst innerhalb der Regierungskoalition heute Bedenken darüber bestehen, ob der damalige Beschluß der Regierungsmehrheit, der vom Bundesarbeitsminister mitgetragen worden ist, richtig war, oder ob nicht damals eine außerordentliche Torheit begangen worden ist.
Ich erinnere daran, daß auch bei der Bundesanstalt nicht etwa der Bundesarbeitsminister die Führung übernommen hat, um dort eine echte Selbstverwaltung einzuführen. Wir mußten auch in dieser Frage mit seiner Koalition und mit ihm selbst kämpfen.
In ähnlicher Weise ist auch das Gesetz über die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung nicht in der Form ergangen, die einer klaren und echten Selbstverwaltung entsprechen würde.
— Herr Winkelheide, Sie haben dadurch, daß Sie die Arbeitnehmervereinigungen eingefügt haben, gerade verhindert, daß die Gewerkschaften als die berufenen Vertreter — so wie in der Weimarer
Republik — in erster Linie diese Selbstverwaltungskörper mit aufbauen helfen konnten.
Das Versagen des Bundesarbeitsministers haben wir aber vor allen Dingen im letzten Vierteljahr zu spüren bekommen, als es darum ging, die Finanzhoheit in den Selbstverwaltungsträgern zu wahren. Wir haben gestern darüber gesprochen. Offensichtlich hatte der Bundesarbeitsminister der Regierungsvorlage zugestimmt, die der Invaliden- und Angestelltenversicherung auf drei Jahre über 1 1/2 Milliarden DM entziehen wollte;
offenbar hatte er im Kabinett auch der anderen Vorlage zugestimmt, die der Bundesanstalt etwa 1 1/2 Milliarde DM an Geldern entziehen wollte, die der Arbeitsbeschaffung und der Schaffung von dauernden Arbeitsplätzen auf diese Weise nicht zugute kommen konnten.
Nun ist es zweifellos nicht das Verdienst des Arbeitsministers, daß die Dinge wenigstens so gelaufen sind, daß diese Summen nur für ein Jahr entzogen werden. Es wäre aber die Aufgabe des Arbeitsministers gewesen, sich gegenüber dem Finanzminister stark zu machen.
Wir haben, um Ihnen die Möglichkeit zu geben, diese Dinge zu reparieren, bei Gelegenheit dieses Haushalts noch einmal den Antrag eingebracht, daß in dem Kapitel über die Zuschüsse zur Sozialversicherung die entsprechenden Summen voll eingesetzt, also, da Hergabe von Schuldbuchforderungen nicht in Frage kommt, die Erläuterungsspalte entsprechend gestrichen wird und der Bundesanstalt die Mittel für die Arbeitsbeschaffung wieder zugeführt, d. h. die 185 Millionen DM vom Bund an die Bundesanstalt geleistet werden.
Ich bitte nur noch, in unserem Antrag Umdruck Nr. 1005 in a) „Kap. 1111" vor „Tit. 300 . . ." und in b) „Kap. 1113" vor „Tit. 611 . . ." einzusetzen.
Meine Damen und Herren, das Verhältnis zum Bundesfinanzminister ist, glaube ich, ein offensichtlicher Beweis dafür, wie schwach der Arbeitsminister ihm gegenüber gewesen ist. Wir haben erleben müssen, daß der Bundesfinanzminister immer und immer wieder Verlautbarungen über den sogenannten sozialen Haushalt herausgebracht hat, in denen er den Beweis zu führen versuchte, daß die deutschen Sozialleistungen eine Obergrenze erreicht hätten, über die man nicht hinausgehen könnte. Ich erinnere daran, daß der Bundesfinanzminister vor anderthalb Jahren ohne Widerspruch des Bundesarbeitsministers einen sogenannten Sozialstopp verkünden konnte. Wir freuen uns, daß heute davon nicht mehr die Rede ist; aber das ist wiederum nicht das Verdienst der Bundesarbeitsministers.
Bei dieser Gelegenheit müssen wir an den Bundesfinanzminister die Bitte richten, doch auch dafür zu sorgen, daß seine Veröffentlichungen über den sozialen Haushalt einigermaßen den Tatsachen entsprechen. Sein Referent hat behauptet, für soziale Leistungen würden 19 Milliarden DM ausgegeben. Der Bundesfinanzminister hat im letzten Bulletin seinen eigenen Referenten berichtigen müssen: Es werden 17 Milliarden DM dafür ausgegeben. Meines Erachtens liegen die Summen noch etwas niedriger. Wir bitten ihn, in Zukunft alle Veröffentlichungen über den sozialen Haushalt in klarer
Trennung der Leistungen, die auf der einen Seite für die Versicherung, sei es die Sozialversicherung, sei es die Arbeitslosenversicherung, auf der anderen Seite für die Kriegsfolgenhilfe gemacht werden, vorzunehmen. Herr Bundesfinanzminister, in einigen, leider aber nicht in allen Veröffentlichungen haben Sie die Trennung durchgeführt. Ich richte hiermit die Bitte an Sie, dies zum Zwecke der Klarstellung ständig zu tun, weil nur auf diese Weise ein Vergleich mit den früheren Leistungen möglich ist. Darauf ist auch die Differenz, die wir gestern mit dem Bundesarbeitsminister auszufechten hatten, zurückzuführen. Sie betraf die Frage, welchen Anteil die Bundesleistungen an den Sozialleistungen insgesamt ausmachten.
Ich muß den Herrn Bundesarbeitsminister darauf aufmerksam machen, daß er sich gestern im Irrtum über die Arbeitslosenzahlen des Jahres 1929 befand. In den Wintermonaten des Jahres 1929 lag die Arbeitslosenzahl bei 2 und bei 1,9 Millionen, also ähnlich wie in diesem Jahr. In den Sommermonaten war sie aber niedriger als in diesem Jahr; sie lag nämlich bei 900 000. Das bedeutet, daß der höhere Sozialaufwand des Jahres 1929 bei einer etwa gleichen Arbeitslosenzahl wie heute erfolgte. Die Behauptung meines Kollegen Schellenberg stimmt also, daß der Anteil des Reichs an den sozialen Leistungen im Jahre 1929 höher lag als der des Bundes im Jahre 1953.
Von diesem Verhältnis zum Bundesfinanzminister habe ich deshalb gesprochen, weil ich den Bundesarbeitsminister daran erinnern wollte, daß er in der Deutschen Bundesrepublik der Treuhänder der deutschen Sozialpolitik ist. Er muß diese Treuhänderschaft auch gegenüber dem Bundesfinanzminister und gegenüber dem Bundesjustizminister ausüben. Wenn also der Flug dieses Vogels Storch nicht schon irgendwie der Dämmerung entgegenginge, dann würden wir sagen: „Anton, werde hart!"
Nun darf ich nicht verhehlen, daß wir in der Fraktion es uns nicht ganz leicht gemacht haben,
welche Stellung wir zu diesem Haushalt einnehmen sollen. Es ist uns nicht ganz leicht gefallen, den Entschluß zu fassen, daß wir uns bei diesem Haushalt der Stimme enthalten wollen. Wir tun das — und das möchte ich hier in aller Öffentlichkeit und Deutlichkeit sagen — allein deswegen, weil in diesem Etat gleichzeitig die Leistungen für die Renten und Unterstützungen enthalten sind und weil für die Sozialdemokratie die Frage dieser Renten und Unterstützungen höher steht als die unzulängliche Politik eines Bundesarbeitsministers, der in seinen Leistungen nach unseren Gefühlen nicht das vollbracht hat, was ein Treuhänder der deutschen Sozialpolitik in diesen vier Jahren zu leisten gehabt hätte.