Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst einige Bemerkungen zum Tatbestand.
Es steht fest, daß der Journalist Kluge in einem ordentlichen Gerichtsverfahren zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist. Offensichtlich aber bestehen unter den Initianten des vorliegenden Antrags Meinungsverschiedenheiten über die Gründe, die zu dieser Verurteilung geführt haben. Wer die Reden des Herrn Brandt und des Herrn Minister Kaiser aufmerksam verfolgt hat, konnte feststellen, daß beide ganz verschiedenartige „Begründungen" angegeben haben.
Ausgerechnet Herrn Kaiser blieb es vorbehalten,
zu behaupten, die Verurteilung sei erfolgt, weil Herr Kluge im Jahre 1948 nach West-Berlin gegangen sei. Niemand anders könnte es besser wissen als Herr Kaiser, wie falsch diese Behauptung ist. Herr Kaiser weiß nicht nur, daß jede Woche Hunderte von Menschen, die aus der Deutschen Demokratischen Republik geflüchtet sind, dorthin zurückkehren und keine Strafe erhalten.
Herr Kaiser weiß ebenso genau, daß das von ihm zitierte Urteil von Leipzig nicht wegen Boykotthetze erfolgt ist, sondern darum, weil hier in ausländischem Auftrag und mit ausländischen Mitteln große Mengen Lebensmittelkarten gefälscht und in Umlauf gebracht wurden, um die Versorgung der Bevölkerung zu gefährden. Herr Kaiser weiß nicht nur das alles sehr genau, er weiß auch sehr genau, daß die Verurteilung des Herrn Kluge nachgewiesenermaßen wegen Spionage für die westlichen Spionagedienste erfolgt ist.
Meine Damen und Herren,
es ist überall üblich, daß Spione verurteilt werden, wenn sie gefaßt werden. Wenn gewisse Regierungen daran interessiert sind, die von ihnen angestellten Spione, die hereingefallen sind, freizubekommen, geschieht das im allgemeinen auf andere Weise als auf eine solche marktschreierische Art, wie das hier versucht wird. Man bedient sich eines ruhigen, anständigen Tones, weil man weiß, daß der Spion ja schließlich nicht zu Unrecht verurteilt worden ist.
Aber, meine Damen und Herren, es ist doch offensichtlich: hier geht es gar nicht um den Fall Kluge, sondern darum, einen neuen Anlaß auszunützen, um eine Atmosphäre der Verhetzung, eine Atmosphäre des Hasses zu schaffen, um auf jeden Fall und von vornherein alle Versuche, zu einer Verständigung zu gelangen, mögen sie kommen, woher auch immer, zu stören und zur Unwirksamkeit zu verurteilen.
Zum Schluß noch ein Wort an den Herrn Kollegen Lemmer. Mir scheint, Herr Kollege Lemmer, Sie kommen nicht oft genug in die Bundesrepublik; Sie hätten sonst etwas anders sprechen müssen. Ich gehe mit Ihnen durchaus einig, wenn Sie darüber klagen, daß man so allerlei Schwierigkeiten über sich ergehen lassen muß, wenn man von Braunschweig nach Magdeburg fahren will. Sie sind aber offensichtlich nicht genügend über die Praxis hinsichtlich der Interzonenpässe auf der Seite des, wie Sie sagen, „freien Deutschlands" orientiert.
Andernfalls müßten Sie wissen, daß Tausenden von Menschen die Ausstellung von Interzonenpässen verweigert wird und daß ein Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, der im Besitze eines Interzonenpasses ist, in dem sogenannten freien Deutschland keineswegs vor der Verhaftung geschützt ist.
Sie mögen einmal Herrn Kaiser oder Herrn Lehr fragen, in wie vielen Fällen Besitzer eines ordnungsmäßigen Interzonenpasses auf dem Boden des sogenannten freien Deutschlands verhaftet worden sind.
Noch etwas. Sie sagen, es sei eine Schande, daß auf einen achtzehnjährigen Jungen geschossen worden sei. Wissen Sie denn nicht, Herr Lemmer, daß im Jahre 1951 der Grenzschutz und die Bereitschaftspolizei auf höchsten Befehl dieser Regierung in Hunderten von Fällen auf Jugendliche und Kinder geschossen haben, die den Versuch zur Überschreitung der Zonengrenze gemacht haben,
um an den Weltjugendfestspielen in Berlin teilzunehmen?