Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage der Gestaltung des Wahlrechts für die Bundesrepublik Deutschland ist eine staatspolitische Frage erster Ordnung, die wir jenseits des Parteienstreits und der Parteiinteressen behandeln sollten, weil nicht die Parteien, sondern die Wähler und die Bestandssicherung unserer demokratischen Ordnung im Vordergrund stehen müssen.
Daß eine solche Betrachtungsweise des Wahlrechts möglich ist, ergibt schon die Tatsache, daß sich ja bereits vor Jahren im Gebiet der Bundesrepublik die Deutsche Wählergesellschaft gebildet hat, die auf überparteilicher Grundlage die Grundsätze des Mehrheitswahlrechts im Interesse der Sicherung und Erhaltung unserer demokratischen Ordnung vertritt.
Vom Wähler aus gesehen müssen wir an das Wahlrecht zunächst die Forderung stellen, daß es für den Wähler draußen einfach und verständlich in seinem System ist.
Zweitens müssen wir vom Wähler aus die Forderung stellen, daß dem Wähler eine möglichst nahe Kenntnis des zu Wählenden möglich ist, d. h. die Forderung der Personenwahl in möglichst kleinen Wahlkreisen.
Drittens muß vom Wähler aus die Forderung gestellt werden, daß der Wählerwille in der späteren parlamentarischen Arbeit auch seine Verwirklichung finden kann. Mit dieser Forderung gehen wir schon zu den Forderungen über, die wir vom Standpunkt der Sicherung der demokratischen Ordnung zu stellen haben, nämlich zu der Forderung, daß das Wahlrecht die Schaffung eines arbeitsfähigen Parlaments ermöglichen muß und daß dieses Wahlrecht und dieses Parlament eine kontinuierliche Regierungsarbeit während der Wahlperiode zu ermöglichen haben.
Die letzte Forderung vom Standpunkt des Wählers und der demokratischen Ordnung aus ist die Forderung, daß das Wahlrecht nach allen Seiten hin gleiche, faire Chancen bietet und daß das Ergebnis der Wahl gegebenenfalls, wenn der Wählerwille sich ändert, bei der nächsten Wahl korrigierbar ist. Daraus folgt, wie schon angedeutet, erstens der Gedanke des Personenwahlrechts und die Ablehnung der Listen und zweitens die Tendenz zur Schaffung möglichst weniger großer politischer Gruppen, keinem zuliebe und keinem zuleide, großer politischer Gruppen, die klare Mehrheiten ermöglichen, d. h. Kampf der Parteizersplitterung, Kampf den Interessentengruppen, Kampf den radikalen Flügelgruppen, die nur in der Negation zur Einheit werden können und damit jede positive politische Arbeit gefährden und unter Umständen überhaupt unmöglich machen.
Deshalb zwei klare — wenn ich das so sagen darf — Gebote an das Hohe Haus für die Beratung des Wahlgesetzes. Erstens: Gebt dem Wähler sein Recht! Zweitens: Verhütet arbeitsunfähige Parlamente, die den Willen des Wählers nicht erfüllen können, damit der Wähler nicht durch ein
praktisch nicht realisierbares Wahlergebnis um Sinn und Ziel seiner Wahl betrogen wird!
Ich brauche in diesem Zusammenhang hier vor dem Hohen Hause nicht die Unterschiede zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht auseinanderzusetzen. Ich möchte an dieser Stelle nur einen Gedanken bezüglich des Verhältniswahlrechts aussprechen. Das Verhältniswahlrecht sieht sehr gerecht aus. Aber in der letzten Konsequenz läuft es auf den Satz hinaus: Fiat iustitia, pereat res publica!
Es möge die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen, auch wenn die demokratische Ordnung dabei zugrunde geht! Wenn das Verhältniswahlrecht im Grundsatz falsch ist, meine Damen und -Herren, dann ist es auch falsch in jedem Mischsystem. Wenn ein Prinzip richtig ist, soll man es -bis zum letzten richtig durchführen.
Ich darf nun auf unseren Entwurf Drucksache Nr. 3636 kommen, den -wir im Einvernehmen und in Zusammenarbeit mit der Deutschen Wählergesellschaft ausgearbeitet und bereits vor vielen Monaten eingereicht haben. Dieser Entwurf baut auf den eben dargelegten Gesichtspunkten auf. Er schafft ein ganz einfaches klares Wahlrecht in der Weise, daß 400 Abgeordnete in Einmannwahlkreisen gewählt werden, und zwar sieht der Entwurf vor: mit relativer Mehrheit mit der Maßgabe, daß, wenn eine solche nicht zustande kommt, eine Stichwahl zwischen den beiden Höchstbestimmten stattfindet. Ich möchte meinerseits keinen Zweifel darüber lassen, daß ich mit vielen meiner Freunde das absolute Mehrheitswahlrecht gegenüber dem relativen Mehrheitswahlrecht für das bessere System halte, weil das absolute Mehrheitswahlrecht noch viel stärker die integrierenden Tendenzen zur Auswirkung bringt,
die dem Mehrheitswahlrecht innewohnen.
Wir haben in dem Entwurf aber zunächst einmal — für die Vorlage für das Parlament — das relative Mehrheitswahlrecht vorgeschlagen, weil wir die Hoffnung haben zu können glaubten, daß wenigstens das relative Mehrheitswahlrecht in diesem Hause durchzusetzen sei. Im übrigen kennt das Gesetz keine Listenanonymität. Es ist einfach und jedem verständlich. Ich möchte noch eines hinzufügen: Ich habe für meine Person keinen Zweifel daran, daß die große Mehrheit des deutschen Volkes, soweit sie sich überhaupt mit den Wahlrechtsfragen im einzelnen befaßt und zu befassen in der Lage ist, ein solches Wahlrecht wünscht und durch die Erfahrungen von Weimar von der Unzweckmäßigkeit und Unglückseligkeit des Verhältniswahlrechts hinreichend überzeugt worden ist.
Unser Wahlgesetzentwurf wirkt zunächst im staatspolitischen Sinne konstruktiv, um nicht nochmals den etwas abgegriffenen Ausdruck „integrierend" zu gebrauchen. Er schaltet Splitter-, Interessentengruppen und Radikale deshalb weitgehend aus, weil diese ja bei dem Mehrheitswahlrecht, wo man die meisten Stimmen haben muß, nicht zum
Zuge kommen können. Der Wähler wird bei diesem Wahlrecht vor eine echte politische Entscheidung gestellt, und er wird, was doch staatspolitisch sehr gesund ist, gehindert, Interessenpolitik zu treiben, und verhindert, reinen Interessentenkandidaten oder Radikalen seine Stimme zu geben. Dieses Wahlrecht schafft wenige große Gruppen, und sichert damit für das Parlament klare Mehrheitsverhältnisse.
Zu all dem kommen die allgemeinen Vorteile der Personenwahl. Die Personenwahl ist ja mit der Mehrheitswahl zwangsläufig verbunden, weil es bei der Mehrheitswahl Kandidatenlisten nicht geben kann. Der als Persönlichkeit im Wahlkreis verwurzelte Abgeordnete wird, wenn er seine Pflicht tut, der volksnahe und volksverbundene Repräsentant des demokratischen Staates. Er kann, umgeben und getragen vom Vertrauen der Mehrheit der Wähler, ganz anders zur Volkstümlichkeit des demokratischen Staates beitragen und Bindeglied zwischen Regierung, Parlament und Volk sein als 'die von mehr oder weniger anonymen Parteigremien aufoktroyierten Listenkandidaten, auf deren Auswahl die Wähler praktisch so gut wie gar keinen Einfluß haben.
Dazu, meine Damen und Herren, nochmals die Herausstellung eines Gedankens: Wenn das, was ich hier sage, grundsätzlich richtig ist, dann sollten wir uns hüten, das Richtige nur zur Hälfte zu tun und die andere Hälfte falsch zu machen.
Bei der Personenwahl stehen ja die Parteien unter einem viel stärkeren Zwang, bei der Kandidatenaufstellung auf die Wähler Rücksicht zu nehmen, als bei Listen, wo die unmittelbare Beziehung zwischen dem Wähler und dem Kandidaten nur selten gegeben ist. Bei einer Listenwahl muß der Wähler das Kollektiv „Partei" wählen; bei der Personenwahl wählt er eine repräsentative Persönlichkeit, deren politische Anschauungen den seinen am nächsten kommen, und der er deshalb sein Vertrauen schenkt. Wir wollen und dürfen keinen Parteikollektivismus fördern oder züchten, sondern wir müssen die freie politische Persönlichkeit zur Entfaltung bringen. Diese soll wohl in einer Partei als einer praktisch notwendigen Arbeitsgemeinschaft Gleichgesinnter stehen; aber doch nur in dem Sinn, daß ihre Eigenständigkeit darin verwurzelt ist und sich frei entfalten kann. Und wenn man uns sagt, die Wähler seien für das Mehrheitswahlrecht nicht reif, dann bestreitet man damit das Vorliegen der Grundvoraussetzungen der demokratischen Ordnung und des gleichen Wahlrechts überhaupt, und das sollte man nicht tun.
Darf ich mich dann mit 'einigen Einwänden befassen, die gegen den Gedanken des Mehrheitswahlrechts geltend gemacht werden, Einwände, über die man sich sachlich und nüchtern unterhalten muß.
Die einen sagen, das Mehrheitswahlrecht erschwere es zu sehr, die Spezialfachkräfte, die man für die Fraktionen braucht, und auch die Frauen in angemessener Zahl in das Parlament hineinzubekommen. Nun, in England und Amerika hat man ja das Mehrheitswahlrecht, und ich wüßte nicht, daß in dieser Hinsicht dort besonders gewichtige Klagen lautgeworden wären.
Im übrigen hat ja auch das bißchen, was wir an Mehrheits- und Personenwahlrecht im 49er Wahlrecht verwirklicht haben, gezeigt, daß auch auf diesem Wege erste Fachkräfte und ebenso auch die Frauen ganz gut zum Zug kommen können; denn wenn Sie die Liste der unmittelbar gewählten Abgeordneten dieses Hauses einmal durchgehen, dann werden Sie nicht zu dem Ergebnis kommen können, daß es da an Fachkräften und auch an Frauen fehlte.
Im übrigen, von der anderen Seite her, meine Damen und Herren: Sicherlich, wenn man den Parteien die Aufgabe zuerkennt, bei Aufstellung der Listenfür die Beachtung dieses Gesichtspunktes Sorge zu tragen, so mag das gut sein, wenn die Parteien das tun. Aber wer garantiert denn dafür, daß die Parteien das auch wirklich tun und daß sich nicht die Parteibürokratie bei der Aufstellung der Listen in einem Sinne durchsetzt, der mit dem Willen und den Wünschen der Wählerschaft nur noch sehr wenig zu tun hat? Das scheint mir besonders dann der Fall zu sein, wenn etwa hauptamtliche Parteifunktionäre auf die Listen gesetzt werden, die naturgemäß nicht die politische Unabhängigkeit besitzen können und haben, die der Abgeordnete des Bundestages haben muß.
Meine Damen und Herren, die Parteien sind nicht das Höchste im Staate, und sie dürfen nicht die letzten Entscheidungen über diese Dinge in der Hand haben!
Ein zweiter Einwand! Es klang vorher schon an. Man spricht davon, es wäre ungerecht, wenn eine Stimmenminderheit über das relative Mehrheitswahlrecht gegebenenfalls zur Mehrheit im Parlament und damit zur Regierung käme. Diese in diesem Falle einmal nicht zum Zuge gekommene Wählermehrheit hat ja bei den nächsten Wahlen Gelegenheit, dieses Ergebnis zu korrigieren und so zu korrigieren, daß sie eben unter Umständen auch mit einer Minderheit zur Mehrheit im Parlament und damit zur Regierungsführung kommt. Wenn diese Chancen nach allen Seiten hin gleichmäßig verteilt sind, sehe ich keinen Anlaß, diesem Gesichtspunkt entscheidende Bedeutung beizumessen.
Im übrigen: Die Überspitzung des Grundsatzes der Gerechtigkeit darf den Zweck der Wahl nicht vereiteln, eine funktionierende Regierung und arbeitsfähige Mehrheiten zu schaffen. Das ist ja Sinn und Ziel des Mehrheitswahlrechts, und gerade das wird durch das Verhältniswahlrecht sehr erschwert oder gefährdet. Diese sogenannte Wahlgerechtigkeit darf nicht überspitzt werden. An dieser Art Gerechtigkeit für -jeden Interessentenhaufen -und für jeden Staatsfeind ist Weimar wesentlich mit zugrunde gegangen.
Ein weiteres! Man sagt, die gesicherten Regierungsverhältnisse würden ja durch das konstruktive Mißtrauensvotum geschaffen, das wir im Grundgesetz verankert haben. Das konstruktive Mißtrauensvotum — gut und schön, wenn eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament vorhanden ist! Ist aber ein Bundeskanzler nur mit relativer Mehrheit gewählt worden, dann nützt Ihnen nachher bei der Gesetzgebung das ganze konstruktive Mißtrauensvotum nichts, weil Sie ihn einerseits nicht ersetzen können und andererseits keine
Mehrheiten für die Gesetze zustande kommen. Das konstruktive Mißtrauensvotum ist also kein Ersatz für das Mehrheitswahlrecht und ist kein Gesichtspunkt, mit dem man das Verhältniswahlrecht rechtfertigen könnte.
Nun zum letzten Gesichtspunkt, der 5%-Klausel zur Ausschaltung der Kleinstparteien, Kleinstgruppen und Interessentenhaufen. Ich glaube, wir alle haben uns an Hand der Erfahrungen allein auf deutschem Boden wohl davon überzeugt, daß die 5 %-Klausel eben nicht genügt, die integrierende Wirkung zu erreichen, die in diesem Sinne erzielt werden muß.
Gegenüber all diesen Gesichtspunkten bleibt doch bestehen: Das Personen- und Mehrheitswahlrecht verwurzelt den Abgeordneten und damit die Parteien in der -Wählerschaft; es verhindert die Bevormundung der Wähler durch die Parteien und sichert damit die Brückenfunktion der Parteien zwischen Wählern und Parlament. Schließlich schafft es klare parlamentarische Mehrheitsverhältnisse, wie sie für den Bestand der parlamentarisch-demokratischen Ordnung notwendig sind.
Ich sagte vorhin einleitend, daß die Frage der Schaffung des Wahlrechts eine überparteiliche Frage sei, daß keine parteipolitischen Gesichtspunkte, sondern nur echte staatspolitisch-demokratische Zielsetzung im Vordergrund stehen dürfe. Wir haben uns nun auf überparteilicher Grundlage schon seit langer Zeit bemüht, einen Wahlgesetzentwurf auf der geschilderten Grundlage des Mehrheitswahlrechts durchzusetzen.
Aber wie sieht es mit der Durchsetzbarkeit dieses Wahlgesetzentwurfs hier im Hause aus? Unter ihm stehen 32 Unterschriften von Abgeordneten der CDU/CSU und von 2 Fraktionslosen, wozu ich ausdrücklich bemerken möchte, daß die Zahl der Unterschriften aus der CDU/CSU seinerzeit noch beliebig hätte vermehrt werden können, wenn wir nicht den Wunsch gehabt hätten, den Platz dafür den Angehörigen anderer Parteien zu überlassen, die sich vor der Bundestagswahl auch für das Mehrheitswahlrecht ausgesprochen hatten.
Meine Damen und Herren, das waren damals rund 150 in dieses Haus gewählte Abgeordnete;
davon 96 der CDU/CSU, 23 von der SPD,
je 9 von der FDP, DP und Bayernpartei
und 3 Unabhängige. Inzwischen sind die Zahlen nochmals infolge der Veränderungen, die seit der Wahl im Hause eingetreten sind, berichtigt worden. Dabei hat sich die Zahl der anfällig gewordenen
SPD-Abgeordneten schon von 23 auf 29 erhöht.
Meine Damen und Herren, als Abgeordneter der CDU kann ich erklären, daß wir bereits im Parlamentarischen Rat mit Nachdruck für das Mehrheitswahlrecht eingetreten sind, das wir heute unverändert vertreten. Der Große Parteiausschuß der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands, der vor wenigen Wochen getagt hat, hat auch nochmal ein klares Bekenntnis zu diesem Mehrheitswahl-
recht abgelegt, indem er am 27. Januar 1953 folgenden Beschluß faßte:
Aus staatspolitischen Gründen hat die CDU schon im Parlamentarischen Rat den Grundsatz des Persönlichkeits- und Mehrheitswahlrechts vertreten und das Listenwahlrecht abgelehnt. Die CDU steht heute unverändert zu dieser staatspolitischen Auffassung.
Meine Damen und Herren! Wenn die anderen das auch täten, die sieh vor der Wahl, als sie noch nicht rechnen konnten, wie sich so ein Bundestagswahlergebnis auswirken würde, für das Mehrheitswahlrecht erklärt haben, dann wäre es ein leichtes, diese 150 Stimmen im Bundestag auf 202 zu erhöhen und damit das Mehrheitswahlrecht durchzusetzen, wie es das deutsche Volk von seinem Bundestag erwartet.
Meine Damen und Herren! Ich bedauere außerordentlich, nicht die Möglichkeit zu haben, jetzt in der ersten Lesung für diesen Gesetzentwurf eine namentliche Abstimmung zu beantragen, um festzustellen, wer vielleicht noch zu seiner alten staatspolitischen Fahne zurückkehrt. Denn es ist nicht zulässig, einen geschäftsordnungsmäßigen Überweisungsantrag durch namentliche Abstimmung zu erledigen, und im übrigen findet ja eine Sachabstimmung in der ersten Lesung noch nicht statt.
Wenn ich die Frage aufwerfe — und das sollten wir doch auch einmal ganz kurz tun —, warum denn nun diejenigen, die sich damals für das Mehrheitswahlrecht erklärt haben und auch später zum Teil erneut in diesem Sinne Stellung genommen haben, heute diesen Standpunkt nicht mehr vertreten, dann erinnere ich mich an drei verschiedene Meinungsäußerungen, die mir als Begründung zur Kenntnis gekommen sind. Herr Kollege Menzel hat mir in einem Rundfunkgespräch einmal zu dieser Frage geantwortet, man habe zum ersten Bundestag nach dem geltenden Wahlrecht gewählt, und daher sei es angemessen, jetzt zum zweiten Bundestag nach dem gleichen Wahlrecht zu wählen, um der Opposition die Möglichkeit zu geben, bei der zweiten Wahl nach demselben System an die Macht zu kommen, nach dem die jetzigen Regierungsparteien bei der ersten Wahl an die Macht gekommen sind. Meine Damen und Herren, welche staatspolitische Logik in dieser Erwägung liegen soll, vermag ich nicht zu erkennen; wenn ein Wahlrecht falsch und gefährlich ist und im Verlauf der Zeit wegen der Gefahr steigender Zersplitterung immer gefährlicher wird, dann kann man nicht aus solchen parteitaktischen Erwägungen sagen: Wir wollen das bessere Wahlrecht nicht schaffen.
Die zweite Antwort, die mir gegeben worden ist, kam von Herrn Professor Brill bei einer Aussprache vor der Studentenschaft hier in Bonn. Da sagte er mir: Jawohl, wir sind wohl für das Mehrheitswahlrecht, aber erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands.
Daß zur Begründung noch konfessionelle Gesichtspunkte herangezogen wurden, beweist, daß Herr Professor Brill von dem Wesen der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands und von dem großen Fortschritt in der Überwindung der konfessionellen Gegensätze durch die Christlich-Demokratische Union noch nichts begriffen hat.
Im übrigen ist zur Sache zu sagen: Wenn das Mehrheitswahlrecht gut ist, dann ist es für die Bundesrepublik ebenso gut, wie es später für das wiedervereinigte Deutschland gut ist.
Die letzte Antwort, die ich vorliegen habe, läßt die Katze eigentlich am deutlichsten aus dem Sack; das ist nämlich eine Äußerung des Herrn Kollegen Erler von der SPD, die er gegenüber der „Wetzlarer Zeitung" in einer Zuschrift getan hat. Da heißt es:
Gegen das reine Mehrheitswahlrecht der englischen Form spricht in Deutschland die Tatsache, daß es ein in jedem Wahlkreis variierendes Bündnis der verschiedensten Gruppen immer gegen die Sozialdemokratie zustande bringt.
Man erklärt also immer, man sei gegen die Zersplitterung, und man wisse, daß die Zersplitterung schädlich ist, daß sie die parlamentarische Demokratie gefährdet, aber man will die Zersplitterung durch das Verhältniswahlrecht erhalten, weil man parteipolitische Sorgen vor einem Mehrheitswahlrecht hat! Deutlicher kann man ja wohl das Parteiinteresse nicht über das Staatsinteresse stellen!
Meine Herren von der Sozialdemokratie, Sie sollten doch nicht vergessen, daß auch die Existenz der Parteien nur in einer funktionierenden Demokratie gesichert ist und daß auch die SPD keinen Bestand haben kann, wenn nicht eine gesunde Fortexistenz der demokratisch-parlamentarischen Ordnung auch über das Wahlrecht gesichert wird.
Dieser Bundestag hat noch die Möglichkeit, diese notwendige Sicherung der demokratisch-parlamentarischen Ordnung zu schaffen. Die bei uns leider bestehende Tendenz zu politischer Zersplitterung und interessengebundenen Gruppierungen könnte leicht dazu führen, daß ein nicht nach dem Mehrheitswahlrecht gewählter Bundestag es schon nicht mehr kann, weil Interessentengruppen ohne echte politische Zielsetzung den richtigen Entschluß verhindern könnten.
So liegt eine große staatspolitische Verantwortung auf diesem Bundestag, der sich niemand durch die Flucht in die parteipolitische Sphäre entziehen kann und darf, eine Verantwortung vor den Wählern, deren Recht zu sichern ist, und eine Verantwortung vor der demokratischen Ordnung, über deren dauernden Bestand wir jetzt eine besonders wichtige Entscheidung zu treffen haben. Möge sich der Deutsche Bundestag seiner Verantwortung vor der jungen deutschen Demokratie bei dieser wichtigen Entscheidung bewußt sein!