Rede von
Dr.
Robert
Lehr
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um Ihnen den Entwurf des Wahlgesetzes so einfach wie möglich vorzutragen,
möchte ich nach drei Grundsätzen verfahren: Erstens: Grundsätzliche Einführung in das eigentliche Wahlsystem mit Ausführungen über die Motive; und bei diesem ersten Teil werde ich auch auf die Erörterungen vor dem Bundesrat eingehen. Zweitens wollte ich dann die übrigen Teile des Gesetzes und die Begründung insoweit hier vortragen, als es notwendig ist, und drittens eine kurze Erklärung zu der Frage der Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes geben.
Meine Damen und Herren, kaum eine Gesetzesvorlage hat seit Bestehen der Bundesrepublik die deutsche Öffentlichkeit so in Anspruch genommen wie der Entwurf des Wahlgesetzes. Wir dürfen das einmal auf das Interesse an der demokratischen Repräsentation zurückführen
und zum andern gerade in diesem starken Interesse doch ein gutes Vorzeichen für eine starke Wahlbeteiligung sehen.
Die Debatte um das Wahlsystem würde die politischen Leidenschaften nicht so stark erregen, wie es in der letzten Zeit geschehen ist,
wenn wir nach dem Grundgesetz oder nach einer feststehenden Rechtsüberzeugung bereits ein bestimmtes Wahlsystem hätten. Aber das haben wir eben nicht; vielmehr ist seit 1945 eine steigende Auseinandersetzung zwischen dem Mehrheitswahlsystem und dem Verhältniswahlsystem im Gange. Zu einer eindeutigen Klärung der Sachlage ist es bisher nicht gekommen, und das Ergebnis ist, daß wir in einer Anzahl von Ländern ein Mischsystem haben, wie es auch teilweise schon im Ausland eingeführt ist. Auf Grund dieser Tatsache, daß auch andere Bundesländer schon diese Mischsysteme kennen, wird man der Bundesregierung kaum einen Vorwurf daraus machen können, wenn auch sie nach einem Mischsystem gesucht hat und es Ihnen heute vorlegt.
Es ist unverkennbar, daß im deutschen Volke die Überzeugung wachst, daß das Verhältniswahlsystem, das in der Weimarer Republik durch die Verfassung vorgeschrieben war, infolge der durch dieses Proporzsystem hervorgerufenen Parteienzersplitterung zu schweren Bedenken Anlaß gibt. Quer durch alle Parteien geht heute ein Zug zum Mehrheitswahlsystem.
In den Ländern der Bundesrepublik, die inzwischen ein Mehrheitswahlsystem — allerdings verbunden mit einem gewissen Verhältnisausgleich — eingeführt haben, nämlich in Hessen und Hamburg, ist dieses System mit den Stimmen aller demokratischen Parteien beschlossen worden. Und da es im Bunde noch mehr als in den Ländern darauf ankommt, daß sich im Parlament eine klare und regierungsfähige Mehrheit bildet, ist auch das schon ein Grund, der Bundesregierung keinen Vorwurf daraus zu machen, daß sie nicht wieder zu dem Verhältniswahlsystem von vor 1949 zurückgekehrt ist.
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß im Parlamentarischen Rat bewußt darauf verzichtet worden ist, mit dem ersten Wahlgesetz gleichzeitig festzulegen, daß dieses erste Wahlgesetz auch für die kommenden Wahlen maßgebend sein sollte. Man hat darauf verzichtet, ein künftiges Wahlsystem schon irgendwie festzulegen, in der Erkenntnis, daß alles in der Entwicklung begriffen ist;
diese Entwicklung wollte man doch erst einmal weiter abwarten.
Auch der Bundesrat hat nicht etwa eine unveränderte Übernahme des Verhältniswahlrechts von ' 1949 empfohlen; auch ihm hat — das kann man aus dem ganzen Gang der Äußerungen schließen — bei seinen Vorschlägen die Berücksichtigung von Mehrheitswahlgesichtspunkten in einem offenbar auch von seiner Seite aus beabsichtigten kombinierten System vorgeschwebt.
In den monatelangen mühevollen Vorbereitungen dieses Gesetzes habe ich wiederholt Gelegenheit gehabt, mit Mitgliedern dieses Hohen Hauses der verschiedensten Parteirichtungen zu sprechen, und wenn ich den Gesamteindruck wiedergebe, so ist es der, daß auch hier eine Mehrheit es begrüßen würde, wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten, zu einem reinen Mehrheitswahlsystem zu kommen.
Aber, meine Damen und Herren, selbst ein so leidenschaftlicher Vertreter des Mehrheitswahlsystems wie Professor Her mens , der Verfasser des bekannten Buches „Demokratie oder Anarchie?", hat darauf hingewiesen, daß, wenn einmal in einem Lande ein Verhältniswahlsystem eine Weile gegolten hat, es außerordentlich schwierig ist, den Übergang zu einem anderen System zu finden, und daß schließlich all die Gruppen und Grüppchen, die durch ein Verhältniswahlsystem begünstigt waren, ängstlich bemüht sind, diese Vorzüge ihres Systems zu bewahren.
Auch die Bundesregierung hat mit ihrem Entwurf nur einen halben Schritt zum Mehrheitswahlrecht getan. Sie hat ausdrücklich auf ein willkürliches Verhältnis von Mehrheitswahl und Verhältniswahl, etwa von 60 zu 40, verzichtet, und sich vor allem bemüht, ein Gleichgewicht zwischen den
Elementen der Mehrheitswahl und der Verhältniswahl herzustellen. Das ist für die Beurteilung wichtig. Gerade vom Standpunkt dieses Gleichgewichts der beiden Elemente ist der Bundesregierung jenes System der Mehrheitswahl mit zusätzlichem Verhältnisausgleich, wie es Hamburg und Hessen eingeführt haben, nicht nachahmenswert erschienen, weil es letzten Endes willkürlich erscheint, im Verhältniswahlsektor nur die erfolglos gebliebenen Stimmen und die Überschußstimmen zu werten. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß bei dieser Art der Bewertung es beispielsweise der herrschenden Partei in Hamburg möglich war, bei einem Stimmenanteil von nur 43 % 54 % der Sitze zu gewinnen
und in Hessen bei einem Stimmenanteil von 44 % sogar 59 % der Mandate zu erhalten.
Das sollte Ihnen allen zu denken geben. Man bleibt in den Gedankengängen der Verhältniswahl stecken, wenn man meint, daß die im Wahlkreis erfolglos gebliebenen und die Überschußstimmen des siegreichen Kandidaten in jedem Fall „verwertet" werden müßten, sei es in einem vollen Ausgleich wie beim ersten Bundeswahlgesetz, sei es in einem Teilausgleich wie in den beiden Ländern, die ich Ihnen eben als Beispiel genannt habe.
Wenn wir nun in der Richtung auf ein Mehrheitswahlrecht wirklich ein Stück weiterkommen wollen, dann müssen wir uns frei machen von dem Gedanken dieses Verhältnisausgleichs. Die konsequentere Lösung dürfte jedenfalls die hier vorgeschlagene sein, daß man in den Wahlkreisen das Mehrheitswahlrecht folgerichtig bis in seine letzte Konsequenz durchführt und in dem gleichgewichtigen Verhältniswahlsektor nun auch die Verhältniswahl konsequent durchführt. Dieses Prinzip der Folgerichtigkeit, das wir in dem Entwurf streng durchgeführt haben, schließt nach Auffassung der Bundesregierung nicht aus, daß wir gewisse Verbindungsstücke zwischen diesen beiden Sektoren herstellen, damit das Ganze dann die erstrebte organische Einheit werden soll.
Aber ganz abgesehen von v diesen notwendigen Brücken zwischen den beiden Systemteilen ist der Regierungsentwurf das erste kombinierte Wahlsystem in Deutschland, das den Grundsatz der Folgerichtigkeit verwirklicht
und das Ergebnis der Mehrheitswahl im Wahlkreis nicht wieder nachträglich verwässert. Aber weil wir konsequenterweise keine Verwertung der im Wahlkreis erfolglos gebliebenen Stimmen zulassen, müssen wir auf der andern Seite Wert darauf legen, daß der erfolgreiche Kandidat auch wirklich über die Mehrheit der Stimmen in seinem Wahlkreis verfügt, und nur wenn das der Fall ist, können wir mit gutem Recht die unterlegenen Stimmen unberücksichtigt lassen, wenn ihnen eine echte Mehrheit gegenübersteht. Daraus ergibt sich die Ablehnung der relativen Mehrheitswahl, weil wir gerade bei dem Verhältnis, das in der Parteienstruktur hier in Westdeutschland herrscht, durch die relative Mehrheit unter Umständen zu
einer Majorisierung der Mehrheit des Wahlkreises durch eine Minderheit von 20 bis 25 % kommen können.
Die relative Mehrheitswahl kann nur da befriedigen, wo der Grundsatz des Zweiparteiensystems herrscht. Wir würden dem deutschen Parteiengefüge zu viel Zwang antun, wenn wir, um die relative Mehrheitswahl durchzuführen, es in ein Zweiparteiensystem hineinpressen wollten.
Der deutschen Parteienstruktur entspricht vielmehr die traditionelle absolute Mehrheitswahl
mit anschließendem Stichentscheid. Ich bin der Überzeugung, daß wir in der Weimarer Republik gut daran getan hätten, dieses bewährte Wahlsystem beizubehalten
und uns darauf zu beschränken, die Wahlkreiseinteilung den veränderten Bevölkerungszahlen anzupassen.
Der große Vorzug der absoluten Mehrheitswahl ist, daß jeder Kandidat in Anspruch nehmen kann, von der Mehrheit seines Wahlkreises gewählt zu sein und sich also mit Fug und Recht als der Repräsentant dieses Wahlkreises zu betrachten.
Ich mache gar keinen Hehl daraus, meine Damen und Herren, daß ich persönlich die absolute Mehrheitswahl für eine glückliche Lösung halten und sie auch dem System der Haupt- und Hilfsstimmen vorziehen würde. Aber ich muß mich dagegen verwahren, daß man in der Einführung der Hilfsstimme einen Verstoß gegen verfassungsrechtliche Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl sehen will oder gar ein Instrument der Koalitionsparteien gegen die Opposition.
Das System der Hilfsstimme ist doch die einzige
gesetzgeberische Möglichkeit, den ersten und zweiten Wahlgang zu einem Wahlgang zu verbinden.
Im übrigen ist der Gedanke der Hilfsstimme nicht vom Bundesministerium des Innern erfunden, er ist schon im Jahre 1905 in der Literatur auch bei uns aufgetaucht, und im Ausland ist er in einer ganzen Reihe beachtenswerter demokratischer Wahlsysteme vorhanden.
Nun wird an der Hilfsstimme vor allem kritisiert, daß einer isoliert kämpfenden Partei kein Partner zur Verfügung stehe, von dessen Anhängern man die Hilfsstimmen etwa erwarten könne. Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit steht sich eine solche Partei bei dem System der Hilfsstimme doch nicht schlechter als beim absoluten Mehrheitswahlrecht,
wenn dort die Stichwahl stattfindet. Dann muß sie sich auch zurechtfinden, genau so wie in diesem Fall.
Ich habe auch gegen die absolute Mehrheitswahl noch nie den Einwand gehört, sie sei verfassungswidrig, weil isoliert kämpfende Parteien keinen Partner hätten, dessen Anhängerschaft ihr zum Siege verhelfen könne.
Ich denke vielmehr, meine Damen und Herren, daß es bei einem Mehrparteiensystem, wie wir es doch jetzt in Deutschland tatsächlich haben — heute hat sich bei mir die 65. Partei mit ihrem Programm angesagt — und wohl auch für absehbare Zeit noch behalten werden, gerade der Sinn der Demokratie ist, daß sich verschiedene politische Gruppen zusammenfinden,
um durch ihren Zusammenschluß dann überhaupt eine Mehrheitsbildung zu ermöglichen. Politische Isolierung kann sich in der Demokratie nur eine Partei erlauben, die die Aussicht hat, für sich allein die Mehrheit zu bekommen. Wenn das nicht der Fall ist, muß sich jede, auch die größte Partei, nach Bundesgenossen umsehen.
Hat sie diese Aussicht nicht, dann ist 'das von ihrem
Standpunkt aus zu bedauern. Das spricht aber
nicht gegen die Rechtsgültigkeit des Wahlsystems.
Man kann gegen ein Wahlgesetz höchstens den Vorwurf erheben, daß es solche Partnerschaften unmöglich macht. Aber das ist bei diesem System ganz bestimmt nicht der Fall; diesen Vorwurf kann man gegen den Regierungsentwurf am allerwenigsten erheben. Gerade sein System ist ja darauf aufgebaut, daß die Parteien sich Partner suchen und daß die demokratische Mehrheitsbildung zu einem gewissen Teil bereits im Wahlkampf vorbereitet wird.
— Das will ich Ihnen gleich beantworten. Es ist auf der andern Seite aber nicht so, daß die Koalitionsbildung durch dieses Wahlgesetz dem Parlament irgendwie vorweggenommen würde und die politischen Fronten durch das Wahlgesetz etwa schon versteift oder verhärtet würden. Der Gesetzentwurf 'sieht keine Bindung zwischen den im Wahlkampf gemeinsam auftretenden Parteien vor, die über die Wahl hinaus rechtlich wirksam sein würde. Wie sich später im neugewählten Parlament und für die Wahl des Bundeskanzlers eine Mehrheit bildet, das ist auch bei diesem Gesetzentwurf eine durchaus offene Frage.
Sie wird durch die Wahlpartnerschaften in keiner Weise präjudiziert.
Es gilt dasselbe wie bei der Verhältniswahl, wo die üblichen Listenverbindungen, wie allgemein
bekannt ist, ja auch keinerlei verbindliche Wirkung für die Tätigkeit im Parlament haben.
Ich komme zu den gegen die Hilfsstimmen im Bundesrat 'erhobenen verfassungsrechtlichen Einwendungen. Ich verweise in dieser Beziehung auf die Drucksache, die wir Ihnen vorgelegt haben. Ich habe auch auf den vom Staatsgerichtshof der Weimarer Republik entwickelten Unterschied zwischen dem Zählwert und dem- Erfolgswert Bezug genommen. Während bei der Verhältniswahl sowohl gleicher Zählwert als auch gleicher Erfolgswert —wenigstens grundsätzlich — verlangt werden müssen, gibt es bei der Mehrheitswahl nur den gleichen Zählwert.
Der Erfolgswert der Stimmen kann ja bei der Mehrheitswahl gar nicht gleich sein, weil eben die Stimmen der Minderheit notwendigerweise ausfallen.
Die systematischen Gründe, die uns dazu geführt haben, eine Verwertung der im Wahlkreis erfolglos gebliebenen Stimmen im Verhältniswahlsektor abzulehnen, habe ich bereits dargelegt. Sie stehen im vollen Einklang mit dem Rechtsgrundsatz,
daß mit der Gewährleistung des gleichen Zählwertes der Stimmen — und dieser Grundsatz steht bei dem Gesetzentwurf außer Zweifel — den verfassungsrechtlichen Erfordernissen der Gleichheit der Wahl in vollem Umfange Rechnung getragen ist.
Ich -komme zu dem zweiten Gesichtspunkt: der Unmittelbarkeit der Wahl. Auch dieser Grundsatz wird durch die Hilfsstimmen nicht verletzt. Eine Verletzung würde dann vorliegen, wenn sich zwischen die Stimmabgabe des Wählers und die Feststellung des Wahlergebnisses ein anderer Wille einschalten würde. Ein solcher dem Wähler fremder Wille wird nach dem Gesetzentwurf überhaupt nicht tätig, sondern das Ergebnis der Wahl folgt automatisch aus der Anwendung des Wahlgesetzes.
— Nein, das ist genau so gesagt. Es ist richtig, daß der Wähler gewisse Überlegungen anstellen muß, wem er zweckmäßigerweise seine Hilfsstimme gibt.
Aber ich glaube, diese Zumutung ist doch durchaus zulässig und vertretbar.
— Doch! In den meisten Wahlkreisen, in denen von vornherein feststeht, welche Kandidaten die aussichtsreichsten sind, ist diese Überlegung für den Wähler mit der Hilfsstimme wirklich nicht so schwierig.
Es ist aber auch falsch, zu sagen, in den wenigen Wahlkreisen, in welchen man das Kräfteverhältnis nicht von vornherein mit einer gewissen Sicherheit überschauen kann,
handle es sich nicht um eine exakte Wahl, sondern
um eine Art Wahltoto. Ich darf daran erinnern,
daß der Wähler, wenn er in demselben Wahlkreis mit unübersichtlichem Stimmenverhältnis nach relativer Mehrheitswahl wählen würde, genau die gleichen Erwägungen anstellen müßte. Denn wenn er hier seine Stimme voll in die Waagschale werfen will, muß er die Chancen der Bewerber genau so gut abschätzen wie in dem von uns vorgeschlagenen System.
Ich komme zu den Wahlen nach Bundesliste. Sie erfolgen nach dem reinen Proporzsystem. Ich kann mich da kurz fassen. Im Bundesrat sind in dieser Hinsicht überhaupt keine Beanstandungen erhoben worden. Aus dem Wahlsystem von 1949 ist der Gedanke der Landeswahlvorschläge übernommen worden.
Die zusammengesetzten Landeswahlvorschläge einer Partei bilden dann die Bundesliste der Partei. Die Bundesliste ist rechtlich eine Einheit.
Die Listenverbindung kann nur für eine Bundesliste im ganzen vereinbart werden. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Listenverbindung steht ganz außer Zweifel. Die Besonderheit, die in der Einrichtung einer Hilfsstimme und der durch sie ermöglichten Wahlhilfe liegt, rechtfertigt es nunmehr, bei ,der Verteilung der Sitze innerhalb einer Listenverbindung auch die Wahlergebnisse in den Wahlkreisen zu berücksichtigen.
— Auf der rechten Seite des kombinierten Systems lebt es, sonst nicht! — Damit kein Zweifel entsteht: die Wahlkreisergebnisse werden von dem Listenwahlrecht in keiner Weise berührt. Alle Mandate, die in den Wahlkreisen errungen sind, bleiben völlig unangetastet. Es wird lediglich in dem Wahlkreissektor ein Rechenelement in der Verteilung der Listensitze innerhalb einer Listenverbindung übernommen, d. h. alles, was außerhalb dieser Listenverbindung steht, wird durch dieses rein interne Verrechnungssystem überhaupt nicht betroffen. Dieser sogenannte interne Proporz schafft den Ausgleich für die Wahlhilfe, die sich die in Listenverbindung stehenden Parteien durch die Hilfsstimme gewährt haben.
Die Tendenz, Parteien zum Zwecke einer parlamentarischen Mehrheitsbildung bereits im Wahlkampf zusammenzuführen, wie sie in der Einrichtung der Hilfsstimme und in der Einrichtung der Listenverbindung liegt, wird zugleich dazu führen, daß sich die Parteien im Wahlkampf nicht auseinander-, sondern möglichst zueinanderleben.
Es ist gar kein Zweifel, daß durch das Verhältniswahlsystem am stärksten das Auseinanderleben gefördert wird.
Der Proporz der Weimarer Republik hat uns sogar den Verlust der Mitte gebracht, an dem 'dieser Staat zugrunde gegangen ist.
Der Regierungsentwurf will diesen Fehler vermeiden. Er nötigt die Parteien, sich einander zu nähern und die Mitte zu suchen.
Ein wichtiger Teil des Regierungsvorschlags ist die Sperrklausel. Damit wird vorgeschrieben, daß eine Partei auf der Bundesliste nur dann berücksichtigt wird, wenn sie in einem beliebigen Wahlkreis entweder einen Sitz errungen hat oder wenn sie 5 % der im Bundesgebiet abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt. Die verfassungsmäßige Zulässigkeit einer solchen Sperrklausel ist unbestritten; sie kann nicht angezweifelt werden, denn die ist auch notwendig, um im Verhältniswahlsektor das sonst nicht gehinderte Aufkommen einer Unzahl von Splitterparteien zu hemmen. Eine Verschärfung der Sperrklausel, die staatspolitisch vielleicht noch nicht einmal unerwünscht wäre, über den Vorschlag hinaus begegnet aber verfassungsrechtlichen Bedenken, weil das Bundesverfassungsgericht in dem schleswig-holsteinischen Wahlrechtsstreit ein Hinausgehen über 5 % nur in besonders gelagerten Fällen für zulässig erklärt hat.
Es ist begreiflich, daß die Bestimmungen des Entwurfs über das System besonderes Interesse gefunden haben. Wir wollen aber deshalb bei diesen einführenden Betrachtungen doch nicht die Vorschriften über Wahlkreiseinteilung, aktives und passives Wahlrecht und über das Wahlverfahren völlig in den Hintergrund treten lassen. Ich sage dazu kurz folgendes.
Erstens. Die Einteilung der Wahlkreise ist nach § 6 Abs. 2 des Entwurfs einem besonderen Gesetz vorbehalten worden. Die Bundesregierung hat sich in diesem Punkt der Auffassung des Bundesrats angeschlossen, Ihnen für die bevorstehenden Wahlen zu empfehlen, grundsätzlich bei Zahl und Einteilung der Wahlkreise zu verbleiben', wie sie seit 1949 bestehen.
Zweitens. Die Bestimmungen über das aktive und passive Wahlrecht sind gegenüber dem bisherigen Rechtszustand fast völlig unverändert geblieben. Wesentlich ist die Behandlung der Entnazifizierten, die in Übereinstimmung mit dem Beschluß des Bundestags vom 15. Dezember 1950 nunmehr sämtlich das volle aktive Wahlrecht haben, während vom passiven Wahlrecht nur noch Hauptschuldige und Belastete ausgeschlossen sind.
Drittens. Ich komme kurz zu den Wahlbehörden. Wir haben Bundeswahlleiter und Bundeswahlausschuß, wir haben Landeswahlleiter und Landeswahlausschüsse, wir haben Wahlkreisleiter und Wahlkreisausschüsse, wir haben für jeden Wahlbezirk einen Wahlvorsteher und einen Wahlvorstand, und die Gemeinden werden zur Aufstellung der Wählerverzeichnisse und Ausgabe von Wahlscheinen herangezogen.
Viertens. Bei der Aufstellung von Bewerbern durch die Parteien ist eine Regelung ähnlich der im ersten Bundeswahlgesetz getroffen. Neu dagegen ist die Vorschrift über den Wegfall der Ersatzwahl. Für jeden Wahlkreisbewerber und für jeden Listenbewerber soll gleichzeitig ein Ersatzmann vorgeschlagen werden, der bei Fortfall des Gewählten an seine Stelle tritt. Fällt auch der Ersatzmann weg, dann tritt an seine Stelle der auf der Landeswahlvorschlagsliste der Partei in Frage Kommende. Zwar bieten Ersatzwahlen als politische Stimmungsbarometer einen gewissen Vorzug, aber
immerhin: wir haben ja daneben Länderwahlen und Kommunalwahlen, die ausreichend als Stimmungsbarometer dienen können.
Es ist leider nicht möglich, meine .Damen und Herren, den Berliner Vertretern im Bundestag die volle Gleichstellung zu gewähren.
Der Vorbehalt der Besatzungsmächte zum Grundgesetz, der Berlin nur beratende Mitglieder zugesteht, war leider noch nicht zu beseitigen.
Deshalb war eine Sonderbestimmung für Berlin erforderlich. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zu dem Beschluß des Bundesrats immerhin einige Möglichkeiten aufgezeigt,
um dem Berliner Wunsch in einem gewissen Umfang so weit wie möglich entgegenzukommen.
Der zweite Teil des Entwurfs befaßt sich — allerdings nur in zwei Paragraphen — mit der Wahl der Bundesversammlung und der Wahl des Bundespräsidenten. Diese Vorschriften sind in der Beratung des Bundestags wohl kaum ein besonderes Problem. Sie ergeben sich mehr oder weniger zwangsläufig aus den Bestimmungen des Grundgesetzes von selbst. Es wäre vielleicht noch zu erwägen, sie vom übrigen Entwurf überhaupt abzutrennen und als besonderes Gesetz zu verabschieden.
Ich komme am Schluß zu der heißumstrittenen Frage der Zustimmungsbedürftigkeit des Wahlgesetzes. Ich möchte mich heute an dieser Stelle dazu kurz fassen, weil dieses Problem ja beim zweiten Durchgang im Bundesrat und auch hier aller Voraussicht nach wieder eine erhebliche Rolle spielen wird. Wir stehen in der Bundesregierung nach wie vor geschlossen auf dem Standpunkt, daß das Bundeswahlgesetz nicht in das Schema der Artikel 83 und 84 des Grundgesetzes hineinpaßt. Es handelt sich hier — und das ist der Hauptgesichtspunkt, von dem wir ausgegangen sind und auf dem wir auch weiter zu bestehen gewillt sind — um den Artikel 38 des Grundgesetzes, um ein Spezialgesetz zur Regelung eines Organisationsaktes des Bundes, der die Verwaltungshoheit der Länder nicht berührt. Das ist eine Sondervorschrift, die mit Art. 83 und 84 des Grundgesetzes nichts zu tun hat. Darüber werden wir uns ja wohl noch auseinandersetzen müssen.