Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich von der Fraktion der Föderalistischen Union namens der Zentrumspartei zu Ihnen spreche, muß ich darauf hinweisen, daß zum Unterschied von den Fraktionskollegen der Bayernpartei eine größere Anzahl von uns sich gegen die Verträge, insbesondere gegen den Generalvertrag, aussprechen wird.
Es ist mir wichtig, festzustellen, daß der Bundeskanzler gestern darauf hingewiesen hat, der gute Glaube könnte bei allen oder jedenfalls den meisten Abgeordneten vorausgesetzt werden, ob sie mit Ja oder mit Nein stimmten, aber ein Nein sei für die Verbauung des Weges nach Europa ursächlich.
Meine Damen und Herren, stimmt diese Behauptung wenigstens in ihren Grundzügen? — Die Behauptung ist falsch! Sie übersieht einige wichtige weitere zukünftige ungewisse Ereignisse, von denen es abhängen wird, ob dieser Weg überhaupt gangbar ist. Sie wäre zunächst einmal nur dann richtig, wenn sich im Bundestag eine Mehrheit gegen den EVG-Vertrag ausspräche. Sie werden mir entgegenhalten: „Aha, damit rechnen Sie!" Nichts ist falscher als das. Wir gehen davon aus, daß der EVGVertrag in seiner jetzigen Form verfassungswidrig ist und dem Geist des Grundgesetzes widerspricht. Wir fühlen uns diesem Geist des Grundgesetzes verpflichtet und können nicht einsehen, daß wir wegen irgendwelcher politischen Dinge gegen den Geist des Grundgesetzes verstoßen dürfen.
Diese Auffassung wird unserer festen Überzeugung nach vom Bundesverfassungsgericht bestätigt werden. Wir sind sicher, daß das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit, insbesondere zahlreicher Bestimmungen des EVG-Vertrags, ebenso annehmen wird, wie es verschiedene Gutachter getan haben. Wenn die Bundesregierung die Abstimmung vor dem Termin des Gutachtens des Bundesverfassungsgerichts gewünscht hat, so sicherlich deshalb, weil sie nicht mit Unrecht befürchten muß, daß vom Bundesverfassungsgericht eine Verfassungswidrigkeit festgestellt wird.
Wir sind der Ansicht, daß der Grundrechtekatalog nicht einfach auf dem Weg über Art. 24 des Grundgesetzes außer Kraft gesetzt werden kann: der Grundsatz der freien Berufswahl, der Grundsatz der Koalitions- und Versammlungsfreiheit, der Grundsatz der Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere aber die Substanzgarantie des Art. 19 des Grundgesetzes. Wenn die Regelungen des EVGVertrags, insbesondere des Militärprotokolls, so wie sie jetzt vereinbart sind, Wirklichkeit werden sollten, wäre damit die Substanzgarantie der Freiheitsrechte des Grundgesetzes gegenstandslos, und das Grundgesetz würde einen inhaltlich völlig anderen Charakter erhalten.
— Natürlich, wir wollen die Entscheidung abwarten; aber wir sind dieser festen Überzeugung und können von der Verfassungsmäßigkeit auch dann nicht abweichen, wenn behauptet wird, unsere Treue zur Verfassung sei in der einen oder anderen Richtung politisch nachteilig.
Jetzt komme ich aber zu dem meiner Ansicht nach vom Herrn Bundeskanzler ebenfalls übersehenen zukünftigen ungewissen äußeren Ereignis, das für die Beurteilung wichtig ist. Das ist die Frage, ob es überhaupt richtig ist, daß Verhandlungen mit den anderen Mächten aussichtslos seien. Der Bundeskanzler hat erklärt, in schwerwiegenden Dingen seien ja Verhandlungen aussichtslos. Meine Damen und Herren, demgegenüber ist festzustellen, daß die Bundesregierung in der Frage der Wehrverfassung die gleiche Auffassung vertritt, wie sie die Franzosen und wie sie die Italiener vertreten, daß sie aber überhaupt nicht den Versuch gemacht hat, eine Wehrverfassung durchzusetzen, die dem Geist des Grundgesetzes entspricht. Solange ein Versuch der Verhandlungen nicht unternommen worden ist, kann man schwerlich behaupten, daß hier eine Verhandlung aussichtslos wäre.
Die vierte ungewisse äußere Tatsache, die den Weg des Vertrages ebenfalls beeinflussen kann, ist die Entscheidung der französischen Kammer. Wir wissen nicht, wie diese Entscheidung ausfallen wird.
Endlich aber ist in Art. 131 Satz 2 des EVG-Vertrags ausdrücklich ausgeführt, daß die Bestimmungen des Vertrags gemäß den verfassungsmäßigen Bestimmungen jedes Mitgliedstaates auszuführen seien. Wenn dies richtig ist, so haben die vertragschließenden Staaten bereits vorgesehen, daß die Bestimmungen nur im Rahmen des Verfassungsrechtes möglich seien, d. h. also, daß es darauf ankommen wird, welche Rechtssätze unsere deutsche Verfassung für unsere Wehrverfassung aufstellt und daß diese Rechtssätze auch für die anderen vertragschließenden Partner maßgebend sind, daß also die Alternative, die sich stellt, nicht ist: EVGVertrag oder nicht, sondern: EVG-Vertrag im Rahmen des deutschen Verfassungsrechtes. Das ist in Art. 131 bereits gesagt, so daß eine entsprechende Stellungnahme von unserer Seite keineswegs das bedeutet, was der Bundeskanzler hier gestern unterlegen wollte, sondern bedeutet: die inhaltliche Akzeptierung des Vertrages, aber im Rahmen des geltenden deutschen Verfassungsrechts.
Es ist richtig, wenn man darauf hinweist, daß für den Vertrag nur diejenigen Einzelheiten entscheidend sind, aus denen sich die grundsätzliche politische Linie ergibt. Es ist immer so bei Verhandlungen, daß der eine etwas will und der andere etwas gibt und daß bei solchen Verhandlungen ungünstige Punkte sich in Hülle und Fülle ermitteln lassen, für die eine Seite und für die andere Seite. Man braucht dazu gar keine Lupe, von der der Herr Bundeskanzler gestern sprach. Die ungünstigen Dinge drängen sich geradezu auf. Trotzdem müssen die grundsätzlichen Dinge, die in dem EVGVertrag geregelt sind, wenn sie lebensnotwendig sind, zu einer entsprechenden Stellungnahme führen.
Hier ist der Hauptgrundsatz des EVG-Vertrags, der für unser ganzes inneres politisches Leben von
entscheidender Bedeutung ist, der Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht und des stehenden Heeres, der im Militärprotokoll in zahlreichen Bestimmungen so eingehend geregelt ist, daß wir kaum noch eines deutschen Wehrgesetzes bedürfen. Im Militärprotokoll sind alle die Dinge, die sonst in einem nationalen Wehrgesetz enthalten zu sein pflegen, bereits geregelt. Die historische Wurzel dieser Auffassung, die von den vertragschließenden Staaten protokolliert worden ist, liegt offen zutage. Allgemeine Wehrpflicht und stehendes Heer sind charakteristisch für die demokratisch organisierten Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts. Dabei weiß man nicht, was die Wurzel ist und was die Frucht ist. Ein innerer geistiger Zusammenhang zwischen Wehr- und Staatsverfassung ist aber allgemein anerkannt.
Die französische Revolution von 1789 schuf das stehende Heer mit allgemeinem Wehrzwang. Allerdings kamen bald die Stellvertretungsmöglichkeit und die Möglichkeit des Loskaufens vom Wehrdienst auf. Die geistige Grundlage dieser folgenschweren Entscheidung der französischen Revolution war der Geist der Expansion des den Mehrheitswillen verkörpernden Staates, und dieser Geist hat sich in der Folgezeit ja als für die französische Revolution charakteristisch gezeigt. Die Abschaffung des Königtums, die Beseitigung aller Standesunterschiede brachte damit der Staatsmacht Zuwachs nach innen und außen. Die französische Revolution hat deshalb insofern die Erbschaft des absoluten Staates angetreten, mit einer breiteren moralischen Basis und nach außen greifenden Ansprüchen, die sich in der Einrichtung des stehenden Heeres auf der Basis der allgemeinen Zwangsaushebung kundtut.
1 Die preußischen Heeresreformen, die Scharnhorst eingeleitet hatte, hatten andere geistige Wurzeln. Die Reformidee eines Scharnhorst basierte auf dem Ideal der persönlichen Freiheit. Die Einschränkung der persönlichen Freiheit zugunsten des Staates war nach seiner Meinung nur gerechtfertigt bei einer unmittelbaren Bedrohung der nationalen Unabhängigkeit. Er wollte deshalb den militärischen Zwangsdienst aller Bürger nur vorübergehend und kurzzeitig. Sein Ziel war das stehende Heer aus Berufssoldaten und daneben eine Miliz mit kurzer Dienstzeit auf Zwangsbasis. Seine Auffassung kommt in dem Satz zum Ausdruck, daß die Wehrverfassung Ausdruck des Geistes der neuen politischen Ordnung sein müsse.
Wir stehen in einer ähnlichen Situation wie damals Scharnhorst, der der Erneuerer der preußischen Armee sein wollte. Diese Auffassungen eines Scharnhorst sind gescheitert — und das sollte man doch bedenken — an dem Einspruch eines Napoleon. Napoleon hat es unterbunden, daß wir eine solche Wehrverfassung bekommen haben. Napoleon ist es gewesen, der dies verbot und deshalb die allgemeine Wehrpflicht mit stehendem Heer für Preußen erzwang. Die Wirklichkeit wurde deshalb ganz anders, als Schamhorst sie in seinem idealen Denken vorgesehen hatte. Die Wirklichkeit bedeutete lediglich Machtzuwachs des absoluten Staates, Machtzuwachs Preußens nach außen und innen, aber keinen Zuwachs an freiheitlicher Gesinnung und keine dauernde Erhaltung. Dementsprechend ist auch in Deutschland die allgemeine Wehrpflicht niemals voll durchgeführt worden. Zahlreiche Menschen waren davon befreit. 1913 waren 52 % aller Wehrpflichtigen erfaßt, 48 % waren befreit. Aber
auch in anderen Ländern wie in der Schweiz war es um die gleiche Zeit ähnlich.
Auch die freiheitliche Gesinnung, von der Scharnhorst geträumt hatte; wurde nicht Wirklichkeit. Der Geist des Militarismus, eine Folge des Subordinationsverhältnisses der Zwangsrekrutierten gegenüber den freiwilligen Berufsoffizieren, drang tief in die deutsche Wehrverfassung ein, infolgedessen ein weitgehender Mißbrauch der Autorität, Überspannung der Unterordnung, mechanischer Drill und Kastengeist häufig zu beobachtende Erscheinungen. Alles eine Folge des Systems der Zwangsaushebung im System des stehenden Heeres.
Daß diese Schlußfolgerung richtig ist, ergibt sich daraus, daß wir mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und eines stehenden Heeres 1936 die gleichen Erscheinungen wieder beobachten konnten. Wir konnten Ende der 30er Jahre wieder sehen, wie das Strafexerzieren eingeführt wurde. Man konnte, wenn man auf einen Kasernenhof kam, erleben, wie ein Offizier mit der Reitgerte auf und ab winkte und wie sich die Männer im gleichen Rhythmus auf dem Kasernenhof zu erheben und hinzuwerfen hatten. Man konnte erleben, wie beim Exerzieren der Druck über alles gesetzt wurde, statt Korrektur der Fehler und statt Kampfsport einzuführen. Die Verwendung der Reserveoffiziere während des Krieges in vorderster Linie, während man das Leben der aktiven Offiziere für wertvoller hielt und deshalb zu schonen suchte, gesellschaftliche Schranken, alles das sind Dinge, die wir alle beobachtet haben und die eine Folge der fehlerhaften Wehrverfassung sind, eine Folge des absoluten Staatsdenkens, das sich in dieser Wehrverfassung ausdrückt.
Das Kontingentsystem und die allgemeine Wehrpflicht, insbesondere wie sie der EVG-Vertrag vorsieht, lassen sich nicht vereinbaren; je zahlreicher nämlich die Uk-Stellungen, desto zahlreicher sind die dann eintretenden und zu erwartenden Korruptionsfälle. Freiwillige sind nicht, wie man das oft so sagt, Söldner, während Ausgehobene Deutsehe sind, die mit dem ganzen Volke enger verbunden sind. Freiwillige sind Deutsche wie Ausgehobene auch. Vor allem aber ist nach dem EVGVertrag vorgeschrieben, daß sämtliche Offiziere Freiwillige sein müssen. Dieses Argument also, daß der Söldner weniger volksverbunden sei, würde gerade das künftige Offizierskorps treffen, das sowieso freiwillig sein muß. Wenn im Hunderttausendmannheer eine starke Isolierung dieses Truppenkörpers vom Volke stattgefunden hat, so lag das nicht an den Soldaten, sondern es lag in der Person des Führers begründet; es lag an der Person des Herrn von Seeckt. Wenn wir einen anderen Chef gehabt hätten, so wäre auch der Geist dieser Truppe ein anderer gewesen. Der Soldatenstand ist ein Stand wie die anderen Stände auch. Er ist Teil der gesamten Gesellschafts- und Staatsordnung, wenn Standesdünkel in ihm nicht zugelassen wird.
Entscheidend wichtig ist deshalb die Auswahl der höheren Führer durch ein parlamentarisches Gremium. Als ich diesen Vorschlag in der ersten Debatte hierzu machte, hat man mir entgegengehalten: „Wie Fritzchen sich den Krieg vorstellt!" Heute sehen wir, daß der Bundeskanzler selbst die Sorge um die Auswahl der höheren Führer hat und deshalb ein Gremium von bewährten Persönlichkeiten für die Auswahl dieser Führer vorgeschlagen hat, allerdings — das ist ein wesentlicher Unterschied — nicht im parlamentarischen Raum, sondern im
außerparlamentarischen Raum, ein Gremium, das der Form der Regierung, wie er sie liebt, offenbar besser gefällt als das Gremium, das wir vorgeschlagen hatten.
Die Auswahl der Soldaten, die dienen müssen und die nicht dienen müssen, durch lokale Bürgerkomitees ist hierbei ein Weg, der ernsthaft erwogen werden sollte. In den USA ist es beispielsweise so, daß für jedes Wehrbezirkskommando derartige lokale Bürgerkomitees gebildet worden sind, um eine Korruption von vornherein unmöglich zu machen. Überall, wo es möglich ist, müssen deshalb in einem kommenden Heer zivile Kontrollen eingebaut, zivile parlamentarische Überwachungsorgane vorgesehen werden, um von vornherein das Aus-der-Hand-Gleiten dieses Körpers aus dem Staatsverband zu verhindern.
Der demokratische Staat wird nicht nur an der Front von den kämpfenden Soldaten im Kriege verteidigt, sondern von allen Mitgliedern des Staates, die irgendeine nützliche Funktion haben. An der Front waren schon im letzten Kriege nie mehr als ein paar Prozent eingesetzt. Die Technisierung hat den Prozentsatz der unmittelbaren Frontsoldaten außerordentlich herabgedrückt. Eine allgemeineVerteidigungsmöglichkeit wie in den Wagenburgen der Zimbern und Teutonen gibt es heute nicht mehr. Außerdem ist im Kriege das ganze Volk in Lebensgefahr. Ein Kruppscher Arbeiter, der während des ständigen Bombenhagels auf Essen regelmäßig seine Arbeitsstätte trotz der damit verbundenen Gefahr aufsuchte, war nicht weniger Soldat als ein Soldat, der unmittelbar an der Front eingesetzt war. Deshalb ist es auch nicht mehr gerechtfertigt, dem Soldatenstand eine Bevorzugung wegen des angeblich höheren Opfers, das er dem Staat zu bringen bereit ist, angedeihen zu lassen.
Tatsächlich muß, wenn ein Kriegsfall eintritt, das ganze Volk diesen soldatischen Geist, diesen Opfergeist aufbringen, wenn überhaupt eine wertvolle Verteidigung möglich sein soll.
— Gestatten Sie bitte: Da in diesem EVG-Vertrag alle Fragen, die in einem deutschen Wehrgesetz geregelt werden könnten, bereits bestimmt sind,
kommt es hier darauf an, Sie davon zu überzeugen,
daß die Annahme dieser Bestimmungen des Militärprotokolls der entscheidende Fehler ist, der entscheidende Fehler, der unser Grundgesetz völlig
umkrempelt und uns damit für die Richtung festlegt, in der ein Wehrgesetz gemacht werden könnte.
— Ich habe nicht nur den Ausschußbericht durchgesehen, sondern ich habe insbesondere auch den Text durchstudiert.
Es wird darauf hingewiesen, daß die Bildung der Reserven durch eine allgemeine Wehrpflicht, wie sie im EVG-Vertrag vorgesehen ist, eher möglich sei als auf Grund der Freiwilligkeit. Dazu ist zunächst zu sagen, daß bis zum Jahrgang 1929 sämtliche Jahrgänge ausgebildet sind. Freiwilligenverbände werden ohnedies eine Aufstellungszeit
von mehreren Jahren nötig haben. Weitere Reservebildung, wie sie Herr Blank wiederholt angekündigt hat, von jährlich schätzungsweise 300 000 Mann wäre aber höchst bedenklich, denn der Defensivzweck des Paktes kann ohne Millionen von ausgebildeten Reservisten erfüllt werden. Was sollen daher die jährlichen 300 000 Mann neuer Reservisten?
Diese Verträge sind doch kein Selbstzweck. Diese Verträge haben doch den Zweck, eine Verhandlungsbasis zu schaffen, ferner eine Verteidigung zu ermöglichen und von dieser Verhandlungbasis aus mit Rußland die Wiedervereinigung ganz Deutschlands zu fördern. Deshalb kommt es entscheidend darauf an, daß nach Herstellung des defensiven Heeres im Rahmen der EVG, was wir bejahen, diese Verhandlungbasis alsbald auch genutzt, wird. Und wenn wir verhandeln, so werden wir uns auch darüber klar sein müssen, daß insbesondere die Abrüstungskonvention ein wertvolles Mittel der Verhandlung mit Sowjetrußland sein wird. Gerade auf dem Gebiet der vertraglichen Rüstungsbegrenzung liegt eine der Möglichkeiten für Verhandlungen mit Sowjetrußland. Anders kann ich den Standpunkt nicht verstehen, daß mit diesen Verträgen eine Verhandlungsbasis geschaffen werden soll.
Die in der allgemeinen Wehrpflicht des stehenden Heeres erfolgende militärische Erziehung ist auch kein Ersatz für eine sonstige Erziehung unserer Jugend. Wehrzwang bringt den jungen unfertigen Menschen in eine Umgebung, in der keine Gelegenheit zur Bewährung des persönlichen Willens gegeben ist. Alle persönlichen Lebensbedürfnisse werden von dritter Seite befriedigt, Essen und Trinken, Wohnen und Schlafen, Kleidung usw. Der junge Mensch ist nur ein unselbständiger Teil eines Ganzen. Man wird dort dasselbe erleben wie bei dem Musterschüler eines Internats, der in einem Internat wundervoll funktioniert hat, in dem Augenblick aber, da er sich im Leben bewähren soll, versagt. Unser Ideal ist demgegenüber die in sich selbst gegründete und der Gemeinschaft aus freiwilligem Tun verantwortliche Persönlichkeit.
Notwendig ist daher die Errichtung entsprechender Schulen zur Erziehung der Jugend sowie Förderung des Vereinslebens.
Das vertraglich vorgesehene deutsche Kontingent ist auch auf der Basis der Freiwilligkeit möglich; das kann man aus den Zahlen der Hilfsverbände bei den Besatzungsstreitkräften ohne weiteres ersehen. Außerdem könnte man mit der von uns vorgeschlagenen Form einer Wehrverfassung, wie sie seinerzeit auch Scharnhorst vorgeschwebt hat, die anwachsenden französischen Befürchtungen zerstreuen, daß die Zahl der deutschen Verbände die der französischen übersteigen könnte. England und Amerika haben zwar die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, diese Länder sind aber für uns nicht maßgebend. Die beiden Mächte haben das deutsche Beispiel auf Grund einer unzutreffenden Analyse nachgeahmt. Auch im Dritten Reich waren die besten Verbände Freiwillige: Luftwaffe, Fallschirmjäger, Panzertruppen und Marine.
Das Wiederaufleben des militaristischen Geistes und die Überbetonung des Staates sind unausweichlich, wenn ein stehendes Heer mit allgemeiner Wehrpflicht eingeführt wird. Die öffentliche Debatte darüber zeigt schon, welchen Geistes dieje-
nigen sind, die die Wehrverfassung und das Leitbild eines künftigen deutschen Soldaten geschaffen haben. In dem Juli-Heft der Zeitschrift „Wehrwissenschaft" heißt es wörtlich:
Im Soldatentum liegt ein Appell an die Tugenden des ewig Männlichen. Auf dem Schlachtfeld erfolgt die Bewährung des Mannes. Es handelt sich um metaphysische Zusammenhänge.
Die Gemeinschaft des Schlachtfeldes als Mythologie des ewig Männlichen anzuerkennen, das ist der Geist, wie er in — —
— General von Sodenstern!
—Verzeihung! Ich habe nur zitiert, und wenn Sie diese Äußerung als „dummes Zeug" bezeichnen, so sprechen Sie mir aus der Seele. Ich weise nur darauf hin, daß gerade diese Auffassung in einer Armee, wie sie im EVG-Vertrag vorgesehen ist, unausweichlich sein wird, wie die Geschichte bewiesen hat. Wir müssen den Willen und müssen den Willen und die Einsicht des Soldaten gewinnen. Diesen Willen und diese Einsicht können wir aber nicht gewinnen, wenn der Soldat die Ungleichmäßigkeit der Aushebung, die die zwangsläufige Folge des vorgesehenen Kontingentsystems ist, erkennt und wenn die Unlust der zwangsweise Ausgehobenen dem Willen der Ausbilder gegenübertritt, diese unlustigen Menschen zu wahren Soldaten zu machen. Die Unlust der Ausbilder ist dann die notwendige Folge und damit die Untugend, die wir Militarismus nennen. Die Bevorzugung der allgemeinen Wehrpflicht ist eine Folge der Staatsüberschätzung, einer Krankheit unserer Zeit, eine Unterschätzung der moralischen Idee. Es ist ein Widerspruch zum Geist unseres Grundgesetzes.
Heute hat sich allmählich und dann und wann ein anderer Geist erhoben. Er hat sich noch nicht
durchgesetzt, aber er ist im Grundgesetz in verbindlichen Artikeln zum Ausdruck gekommen: der Geist der freiwilligen Hingabe an eine Aufgabe und der freiwilligen Einordnung in eine geordnete Gemeinschaft. Diesem Geist entspricht der Appell an die moralischen Fähigkeiten des Menschen in der Erwartung von Höchstleistungen durch Erziehung und freiwillige Gemeinschaftsarbeit. Nur eine schrittweise Aufstellung von Wehrverbänden, bestehend aus Freiwilligen, kann diesem Geist entsprechen. Spätere Milizverbände aus kurzzeitig Dienenden sind daneben möglich, wenn hierbei eine Berufsunterbrechung vermieden wird. Daß eine solche Wehrmachtsform gleichzeitig den militärischen Bedürfnissen auf das Beste entsprechen würde, ergibt sich aus der militärischen Literatur, die ja allgemein anerkennt, daß im Zeitpunkt der schnellen Kriege, im Zeitpunkt der Blitzkriege das Kontingent all der Reservisten viel zu langsam an die Brennpunkte gelangt und daß wir eine Feuerwehrarmee brauchen, eine Feuerwehrarmee, die jederzeit einsatzbereit ist, um ihre defensiven Zwecke zu erfüllen.
Es gibt keine wesentlichen politischen Schwierigkeiten, wenn die deutsche Bundesregierung an die anderen Mächte entsprechend herantreten würde und sie nur das deutsche Kontingent in der erforderlichen Höhe auf andere Weise zu stellen verspricht. Diese entsprechenden Möglichkeiten ergeben sich bereits aus Art. 131 des EVG-Vertrags.
Es kommt hinzu, daß unbekannte Geheimklauseln vorhanden sein sollen. Unbekannte Geheimklauseln aber sind für uns unannehmbar. Wir wissen nicht, was darin steht. Wir können nur aus der Tatsache, daß diese Geheimklauseln vertraglich vereinbart worden sind, den Schluß ziehen und die Vermutung hegen, daß sie sich zu Ungunsten Deutschlands auswirken. Denn beträfen sie nur einfach solche Dinge, die im militärischen Bereich immer geheimgehalten zu werden pflegen, dann brauchten sie nicht besonders vertraglich festgelegt zu werden. Die Tatsache aber, daß es derartige vertragliche Geheimklauseln nach einer Äußerung des französischen Kammerpräsidenten Herriot gibt, ist für uns ein wichtiger Fingerzeig, daß es sich um Dinge zur Benachteiligung Deutschlands handelt.
Wer also einen abänderbaren Punkt des Vertragswerks nicht akzeptiert, lehnt die europäische Verteidigung als solche nicht ab. Er verlangt nur die Anpassung an das deutsche Verfassungsrecht. Der Bundeskanzler selbst hat die Vervollkommnung des Art. 38 des EVG-Vertrages betrieben und gestern für wahrscheinlich erklärt. Warum sollte das gleiche, wenn die Bundestagsmehrheit nur will,
nicht für die Wehrverfassung möglich sein? Deshalb appelliere ich an Sie alle, gerade in dieser Frage der Wehrverfassung den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht im stehenden Heer abzulehnen und den Grundsatz der Freiwilligkeit als den dem Grundgesetz entsprechenden Ausdruck des Geistes unserer Verfassung anzunehmen und eine entsprechende Ergänzung des EVG-Vertrags zu fordern.
Vizepräsident Dr. Schäfer: Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Tillmanns.