Rede von
Hans
Merten
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Wir haben es hier mit einer Frage zu tun, die auch schon, bevor man über andere politische Dinge Verträge abzuschließen beabsichtigte, bei uns eine große Rolle spielte, eine Frage, die auch ohne diese Verträge dringend der Klärung bedurfte. Es wird in diesen Verträgen ja versucht, die Angelegenheit der in französischem, in britischem und amerikanischem Gewahrsam befindlichen Menschen einer Lösung zuzuführen. Eben diese Koppelung mit den anderen Fragen in diesen Verträgen, die auf einem ganz anderen Gebiet liegen, dieses Junktim der Frage der deutschen Kriegsgefangenen mit der Frage der Ratifizierung des Generalvertrags und des EVG-Vertrages lehnt meine Fraktion ab und hat es immer abgelehnt. Wir wünschen eine umfassende und eine endgültige Lösung der Kriegsgefangenenfrage, nicht nur bei den Unterzeichnerstaaten dieser Verträge, sondern auch bei allen anderen Gewahrsamsstaaten, die heute noch deutsche Kriegsgefangene festhalten. Für uns ist die Bereinigung dieser Herzensangelegenheit des ganzen deutschen Volkes keine Sache, die man ohne Not und ohne zwingende Notwendigkeit mit irgendwelchen anderen politischen Fragen koppeln kann oder koppeln sollte,
die vor allen Dingen nicht benutzt werden sollte als Voraussetzung für politische Zugeständnisse irgendwelcher Art.
Der Herr Bundeskanzler hat vorhin in der Antwort auf die Große Anfrage bereits die Zahlen genannt, um die es hier geht. Er sprach von den 392 Kriegsgefangenen in französischem, den 338 in amerikanischem und 122 in britischem Gewahrsam. Er hat auch die Gesamtzahl derer genannt, die sich noch in anderen Gewahrsamsländern befinden: 71 Kriegsgefangene in den Niederlanden, 21 in Norwegen, 15 in der Schweiz, 9 in Dänemark, je 6 in Luxemburg und Belgien, 2 in Italien und einer in Griechenland. Darüber wollen wir nicht die 35 Kriegsgefangenen in Jugoslawien vergessen und die ungezählten in den östlichen Gewahrsamsstaaten, die der Herr Bundeskanzler schon genannt
hat. Für sie alle gilt die grundsätzliche Forderung,
die mit Verträgen anderer Art nichts zu tun hat,
daß ihnen nämlich Gerechtigkeit widerfahren muß.
Diese Forderung leitet sich her aus der politischen Vernunft; sie leitet sich her aus der Menschlichkeit, die eine umgehende Klärung des Schicksals dieser Menschen fordert. Wenn man aber dieses Schicksal mit Verträgen koppelt, die sich im übrigen mit Fragen befassen, die auf einer ganz anderen Ebene liegen, dann kann sich das vielleicht zugunsten dieser Menschen auswirken; es kann sich aber auch ebensogut zuungunsten dieser Menschen auswirken, weil sie die Klärung ihres Schicksals abhängig macht von der Klärung aller möglichen anderen Fragen, weil sie diese Klärung verzögert und — das scheint mir noch das Allerunangenehmste zu sein — weil durch ihre Verkoppelung eine Zersplitterung in die bis dahin vollkommen einheitliche Front der deutschen Haltung gebracht wird.
Die sozialdemokratische Fraktion hat — um Ihnen das nur als kleinen Beweis für diese Behauptung zu sagen — am 25. April vorigen Jahres eine Interpellation eingebracht, die sich mit dem Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen im Westen befaßte. Wir hatten erwartet, daß die Bundesregierung den Anlaß dieser Interpellation benutzen würde, um in aller Klarheit die deutschen Forderungen herauszustellen, über die ja im großen und ganzen kaum Meinungsverschiedenheiten bestehen. Auf Wunsch des Herrn Professors Hallstein ist damals diese Interpellation in einen Antrag umgewandelt und dieser Antrag dem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten überwiesen worden. Der Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten hat sich damit befaßt und am 15. November 1951 klare Beschlüsse über diesen Antrag formuliert. Die Beschlüsse sind dem Herrn Bundeskanzler wohl am selben Tage mitgeteilt worden,
und der Herr Bundeskanzler hat dann zwei Monate später, am 15. Januar 1952, diese Mitteilung bestätigt. Aber, meine Damen und Herren, bis heute wartet der Bundestag noch auf die Erledigung dieses Antrages. Er wartet auf den Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, einen Bericht, der aber ohne die bündigen Erklärungen der Bundesregierung nicht erfolgen kann.
Wir haben die Frage zu stellen: Warum bleibt dieser Antrag unerledigt, während die mit dem Verteidigungsbeitrag in Zusammenhang stehende Große Anfrage der Deutschen Partei über einen ähnlichen Gegenstand auf die Tagesordnung gesetzt wird?
Ich kann es nicht glauben, daß die Rücksichtnahme beispielsweise auf die französische Empfindlichkeit oder auf die innerpolitische Situation der französischen Regierung dazu führen darf, daß die deutsche Stimme nicht mit aller notwendigen Klarheit und Deutlichkeit erhoben wird, wenn es um das Schicksal von Deutschen in fremdem Gewahrsam geht.
Der Herr Bundeskanzler hat als Grundsätze für die Behandlung dieser Frage herausgestellt: Zähigkeit, Ausdauer, Klugheit und Takt. Ich möchte ihn
bitten, diesen vier Grundsätzen noch den Grundsatz der Deutlichkeit und Klarheit hinzuzufügen.
Was ich fordere — ich sagte es schon vorhin — ist Gerechtigkeit. Herr Kollege Wahl hat in einer viel besseren Art und Weise, als ich das könnte, über einige Prinzipien gesprochen, die bei der Forderung nach Gerechtigkeit zugrunde gelegt werden müssen. Ich will ihm keine Konkurrenz auf diesem seinem ureigensten Gebiet machen und kann es auch gar nicht. Aber das ist selbst einem juristischen Laien klar, daß die Prozesse, deren Opfer diese Männer wurden, nicht dem Vollzug der Gerechtigkeit gedient haben, sondern daß sie politische Prozesse mit einem ad hoc geschaffenen Recht gewesen sind.
Sie dienten der Ausübung politischer Macht und politischer Gewalt. Das ist nicht etwa nur eine rein deutsche, eine einseitige Auffassung von diesen Dingen, sondern diese Auffassung wird von sehr angesehenen Juristen auf der ganzen Welt geteilt. Ich denke an die Äußerung des Richters am Obersten Bundesgerichtshof der Vereinigten Staaten William O. Douglas der am 28. Juni
1949 in der „New York Times" erklärte: Die Kriegsverbrecherprozesse sind lediglich ein Instrument politischer Machtausübung, und der Senator Taft, der ja selber Jurist ist, sagte:
„In diesen Prozessen haben wir die sowjetrussische Idee vom Zweck eines Prozesses angenommen, nämlich Regierungspolitik und nicht etwa Gerechtigkeit zu treiben; indem wir die Politik in die Form einer legalen Prozedur gekleidet haben, ist die Idee der Gerechtigkeit in Europa durch unser Verhalten für viele Jahre in Mißkredit geraten."
Das sagte er am 18. Juni 1948, und diese Auffassung wird bestätigt durch die Äußerung des amerikanischen Anklägers bei den Nürnberger Prozessen, des Generals Taylor , der im Jahre 1949 in Paris sagte:
„Die Prozesse haben einen beachtlichen Anteil der amerikanischen Außenpolitik gebildet und einen wichtigen Ausschnitt aus der Besetzung Deutschlands."
Ich denke dabei auch an den französischen Rechtsanwalt de 1 a Pradelle , der sich ja mit hundert seiner Kollegen um die Verteidigung der deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich außerordentlich verdient gemacht hat und der in einer Pariser Zeitschrift, „Ecrits de Paris", erklärt, daß die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich nur als Rechtsbruch und als Betrug angesehen werden könne; sie bedeute einen Bruch der französischen Verfassung und einen Verstoß gegen das Völkerrecht. Der französische Völkerrechtler Donnedieu de Vabres hat sich in ähnlichem Sinne geäußert. Ich denke auch an den Engländer, der in dem Prozeß gegen Erich von Manstein freiwillig und ohne Honorar die Verteidigung übernommen hat, Mr. Paget, Mitglied des Unterhauses. Dieser sagte in bezug auf den Prozeß Manstein etwas, was für alle diese Prozesse sehr typisch ist:
In diesem Prozeß wurde ein Recht angewendet, das gar nicht bestand, auf Tatsachen, die nicht bewiesen wurden und nicht bewiesen werden konnten, und vor einem Gericht, das
seine Zuständigkeit keiner andern Macht als der Gewalt verdankte.
Das sind die Kennzeichen der Kriegsverbrecherprozesse. Man glaubte, mit Hilfe der Macht aus Unschuldigen Schuldige machen zu können und was ist erreicht worden, meine Damen und Herren? Nichts anderes, als daß man aus Schuldigen Unschuldige gemacht hat, die heute bereits mit dem Glorienschein des nationalen Märtyrers auch dann umgeben sind, wenn sie tatsächlich schwerste Verbrechen begangen haben.
Nach dem Völkerrecht sind, auch von uns Deutschen stets anerkannt, Kriegsverbrechen immer solche Handlungen gewesen, die der Angehörige eines Staates gegenüber dem Angehörigen des feindlichen Staates oder gegenüber feindlichem Vermögen verübt, die das Strafrecht des eigenen Landes des Täters verletzen, sofern diese Tat zugleich auch die Regeln des Völkerrechts und die Gebräuche des Krieges verletzt; der Täter kann nur belangt werden, wenn er das für ihn allein geltende Strafrecht des eigenen Landes verletzt hat, und er kann nur von den Gerichten seines eigenen Landes bestraft werden, nachdem die Feindseligkeiten abgeschlossen sind und keine Kampfhandlungen mehr stattfinden. Deswegen hat auch das Reichsgericht nach dem ersten Weltkrieg immer diese Haltung eingenommen.
Dazu kommt als wichtige Einschränkung der Strafbarkeit, die dem Grundsatz des Völkerrechts und der Souveränität der Staaten entspringt, daß eine individuell strafbare Handlung nicht vorliegt, wenn der Täter auf Befehl seiner Regierung gehandelt hat; dann ist völkerrechtlich der gegnerische Staat verantwortlich.
Es ist bereits erwähnt worden, daß alle bedeutenden Friedensverträge der Neuzeit darauf verzichten, daß die Vertragschließenden Verfolgungen wegen der von Staatsangehörigen des andern Teils gegenüber denen des einen Teils begangenen strafbaren Handlungen einleiten. Herr Kollege Wahl ist sogar auf den Codex Iuris Canonici zurückgegangen, und ich bezweifle nicht, daß sich auch aus der altrömischen und vielleicht der altpersischen Geschichte noch Beispiele beibringen ließen. Nur der Versailler Vertrag enthielt in Art. 227 ff. Strafbestimmungen. Aber die Auslieferung, die damals von den Vertragsmächten beabsichtig war, scheiterte an der einmütigen Ablehnung des ganzen deutschen Volkes, und die Nationalversammlung tat etwas, was wir nach meiner Auffassung noch tun müssen: sie beschloß ein Gesetz über die Verfolgung von Kriegsverbrechen und -vergehen vom 18. Dezember 1919, in dem das Reichsgericht als erste und letzte Instanz für diese Verbrechen für zuständig erklärt wurde. Es ist interessant, einmal zu hören, was dabei herausgekommen ist. Die Alliierten haben damals 1800 Auslieferungsbegehren gestellt. Alle diese 1800 Fälle sind vor das Reichsgericht gezogen worden, einem Strafprozeß unterworfen worden, und nach sorgfältiger Prüfung sind von diesen 1800 Fällen ganze sechs Verurteilungen erfolgt. Ich frage Sie: wie hätte das Ergebnis ausgesehen, wenn die Auslieferung erfolgt wäre und wenn rechtswidrige Verfahren vor unzuständigen Gerichten durchgeführt worden wären? Damals hat die amerikanische Delegation diesem Art. 227 des Versailler Vertrags widersprochen, und zwar wegen des in ihm enthaltenen groben Verstoßes gegen den juristischen Grundsatz: nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege. Solche Hemmungen haben weder die Amerikaner noch die anderen im Jahre 1945 — leider müssen wir das heute sagen — gehabt. Aber etwas, was niemals im Völkerrecht diskutiert worden ist, das sollte nun der Anfang eines internationalen Strafrechts sein, nämlich daß nach dem Kriege der Sieger über den Besiegten zu Gericht sitzen soll.
Man hat es nun nicht dabei bewenden lassen, daß man auf die Deutschen, die man gefangennahm, das Strafrecht des Landes, in dem sie sich befanden, angewendet hat — schon das wäre ein Verstoß gewesen —, nein, man ist darüber hinausgegangen. Man hat für sie ein Sonderrecht geschaffen, ein Sonderrecht, das eine einzige grobe Verletzung allgemeiner Rechtsgrundsätze und des Völkerrechts ist. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10, belgische, dänische, französische, luxemburgische, niederländische und norwegische Gesetze sind alle, oft jahrelang nach dem Kriege — 1947, zum Teil 1948 — erlassen worden. Dieses nur für Deutsche geschaffene Ausnahmerecht ist unter gar keinen Umständen mit dem Völkerrecht und auch dem nationalen Recht vereinbar. Wir haben die Fragen, die für diese Beurteilung wesentlich sind, ja wiederholt in den Ausschüssen des Bundestags zur Debatte gestellt; ich brauche darüber nichts weiter zu sagen. Gerade Frankreich, das immer so großen Wert auf eine saubere Rechtspflege gelegt hat, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß es z. B. in dem Art. 5 seiner Verordnung vom 28. August 1944 ein allgemeines Rechtsprinzip der zivilisierten Welt verletzt hat, indem nämlich bestimmt wird, daß die Angehörigen der französischen Widerstandsbewegung richterlich beteiligt werden. Niemand darf in eigener Sache Richter sein, und die Nichtigkeitserklärung eines Urteils ist aus diesem Grunde jederzeit möglich.
Ich habe diese zweifelhaften Rechtsgrundlagen nur deshalb gestreift, weil sich allein schon aus ihnen — neben den anderen Gründen — ergibt, daß die gefällten Urteile nicht anerkannt werden können, sondern daß sie vom deutschen Standpunkt aus und vom Standpunkt des Völkerrechts aus als null und nichtig zu betrachten sind, soweit sie nach dem 8. Mai 1945 gefällt worden sind. Nur deutsche Gerichte hätten hier nach deutschem Recht wirklich Recht sprechen können.
Die Forderung nach der Heimsendung der Kriegsgefangenen, gegen die Verfahren schweben oder die verurteilt sind, ergibt sich nun allein, abgesehen von den politischen und menschlichen Erwägungen, schon aus den rechtlichen Erwägungen. Professor Wahl hat das ja auch in seinen Ausführungen deutlich dargetan.
Niemand will nun in Deutschland — auch das muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden —, daß Verbrecher ohne Strafe bleiben sollen. Denn es schadet der Gerechtigkeit und der Sache des Rechts, wenn Verbrechen ungesühnt bleiben. Deswegen ist die Forderung nach der Generalamnestie, die Forderung nach der tabula rasa, die einen Schlußstrich unter alles ziehen will, was in diesem Krieg und dem Verlaufe seiner Aktionen geschehen ist, nicht zu unterstützen. Sie würde gleichfalls einen Rechtsbruch und einen Verstoß gegen das Recht bedeuten. Es schadet aber der Sache des Rechts genau so, wenn Unschuldige bestraft werden und diese Strafe verbüßen müssen. Die Gewahrsamsmächte mögen zur Kenntnis nehmen, daß sie der Sache des Rechts auf alle Fälle
— das steht heute schon fest — einen unendlichen Schaden zugefügt haben und daß sie im Begriffe stehen, nun auch noch der Sache des Friedens und der Sache der Menschlichkeit einen gleich großen Schaden zuzufügen, wenn es ihnen nicht möglich ist, zu einer umfassenden Lösung in unserem Sinne zu kommen. Das wäre eine wahrhafte Handlung für den Frieden, einen Frieden, der aus ehrlichem Willen zur vertrauensvollen Zusammenarbeit auf dem Boden der Gleichberechtigung geboren ist, einen Frieden, der sich aber nicht begründet auf der größeren Macht des einen über die schwache Kraft des andern, der sich nicht begründet auf einer Diskriminierung des einen, der sich gegen die Diskriminierung nicht wehren kann, durch den andern. Wir müssen Schluß machen mit jeder Diskriminierung von Deutschen auch vor dem Gesetz, Schluß mit der Rechtspraxis, deren Grundlagen von dem Willen zur Rache und zur Vergeltung diktiert worden sind. Das bedeutet ohne Zweifel Opfer für alle Beteiligten, Opfer für die, die zu Unrecht sieben Jahre gesessen haben und die auf Schadensersatz und auf Rehabilitierung, soweit sie überhaupt notwendig sein sollte, verzichten müssen. Es bedeutet Opfer für die Gewahrsamsstaaten, die auf die Durchsetzung des Sühneprinzips, eben zugunsten eines höheren Prinzips, des Friedens, verzichten müssen. Das Kriegsgefangenenproblem war und ist auf dem Boden der internationalen Verhandlungen ein Prüfstein dafür, ob die Staaten sich inzwischen von den Ressentiments des Krieges gelöst haben, bevor sie seine Folgen liquidieren wollen. Die bisherige Haltung der Gewahrsamsstaaten ist trotz allen Entgegenkommens in einzelnen Fällen ein deutliches Zeichen dafür, daß man sich doch noch nicht ganz zu einem neuen Denken und zu einer neuen Konzeption des Zusammenlebens der Völker entschließen kann. Gerade der Inhalt des Generalvertrages in diesem Punkt ist der Beweis dafür. Denn die Schaffung dieser Gemischten Kommmission ist, wie schongesagt wurde, ein Kompromiß; sie ist keine klare Lösung. Die Schaffung dieser Gemischten Kommission verquickt wiederum rechtliche und politische Probleme miteinander und verursacht eine ungeheure Zeitversäumnis. Denn abgesehen von der gewöhnlichen Langsamkeit der internationalen Rechtspflege müssen hier über 600 Urteile nachgeprüft werden. Es kann sein, daß bei allseits gutem Willen diese Kompromißlösung sich zum Guten auswirken wird. Der Herr Bundeskanzler hat ja schon bei Gelegenheit seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, daß sie das tun wird. Aber eine schnellere und viel einfachere Lösung wäre, wenn dieser Kommission überhaupt keine große Arbeit mehr übertragen zu werden brauchte, sondern wenn sie sich nur noch mit den Fällen zu beschäftigen haben würde, bei denen es sich um gemeine Verbrechen aus niedrigen Gesichtspunkten handelt. Wenn die unschuldig Verurteilten und solche, bei denen die Verfahren überhaupt noch nicht angelaufen sind, entlassen werden, dann ist auch eine Lösung der Fälle möglich, in denen offenkundige Verbrechen begangen worden sind. Ich denke nur an die Form des Auslieferungsverfahrens oder an andere Verfahren.
Das Schicksal der Kriegsgefangenen im Westen kann nun nicht isoliert betrachtet werden von dem Schicksal der Kriegsgefangenen im Osten. Der Herr Bundeskanzler hat das schon angedeutet. Eine ungleich höhere Zahl von Menschen befindet sich noch im Gewahrsam der Sowjetunion. Auch diese Kriegsgefangenen — zum allergrößten Teil verurteilt — sind das Opfer einer Willkürjustiz und Opfer einer Justiz, die nichts mit dem Völkerrecht zu tun hat. Die Sowjetunion wird auf eine Strafvollstreckung an diesen bedauernswerten Menschen eher verzichten können, wenn auch die Westmächte sich zu einer umfassenden Aktion durchgerungen haben. Ich glaube, daß eine solche Aktion das Schicksal der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion wesentlich günstiger und auch wesentlich schneller beeinflussen würde als die gewiß verdienstvollen und dankenswerten Ausschußberatungen der Vereinten Nationen, die ohne sowjetische Beteiligung stattfinden und die deswegen überhaupt vor unüberwindlichen Schwierigkeiten stehen. Die Westmächte hätten gerade in dieser Kommission und vor dem Forum der Vereinten Nationen eine wesentlich bessere Möglichkeit, sich für die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion einzusetzen, wenn sie sich nicht fortgesetzt sagen lassen müßten, daß sie ja genau das, was sie den Sowjets vorwerfen, selber praktizieren.
Noch ein Wort an die Bundesregierung bei dieser Gelegenheit. Niemand weiß besser als ich, was an Maßnahmen für die Verteidigung und Betreuung von Kriegsgefangenen von seiten der Bundesregierung geschieht und was früher von seiten des Länderrates und des Vereinigten Wirtschaftsgebietes geschehen ist. Aber die Betreuung und die Sicherstellung der Verteidigung allein genügen nicht. Es genügt, glaube ich, auch nicht, in einzelnen Verhandlungen den einen oder anderen Fall einer günstigen Klärung zuzuführen. Alles das muß sein; aber es muß noch etwas dazukommen. Es muß nämlich hinzukommen, daß dieses Problem und die sich aus ihm ergebenden deutschen Forderungen auf dem internationalen Boden vollkommen klar angemeldet werden.
Ich will Ihnen an einem Beispiel zeigen, wie ich das meine. Im September 1949 erwartete z. B. der französische Direktor des Gefängnisses Cherche Midi in Paris, daß nach der Bildung der deutschen Bundesregierung bis zum 31. Oktober 1949 alle Gefangenen entlassen sein würden.
Ein Untersuchungsrichter am Pariser Militärgericht stellte seine Arbeit mit dem Hinweis ein: Sie haben ja jetzt wieder eine Regierung; damit dürfte sich für mich die weitere Arbeit erübrigen, da j a ohnehin in Kürze auf Forderung Ihrer Regierung das sogenannte Kriegsverbrecherproblem politisch gelöst und alle deutschen Gefangenen entlassen werden.
Damals war diese Forderung nicht möglich; damals waren eine Menge Zuständigkeiten nicht gegeben, und das war praktisch nicht zu machen, was man dort erwartet hat. Heute ist die Situation aber eine vollkommen andere. Heute muß die klare Forderung der Regierung, die auf diesem Gebiet wohl im Namen des allergrößten Teils des deutschen Volkes spricht, angemeldet werden. Die Ergebnisse der Londoner Besprechungen, die der Herr Bundeskanzler am 20. Februar bekanntgegegeben hat, sind nicht befriedigend und stellen keine Lösung dar, sondern sie sind ein Kompromiß, und darüber hinaus bedeuten sie eine Komplizierung der ganzen Angelegenheit. Ich weiß nicht, ob die von ihm damals vorausgesagten zweiseitigen Verhandlungen mit der französischen Regierung inzwischen zustande gekommen sind. Wir wollen es hoffen und auch wünschen, daß sie günstige Aus-
wirkungen haben werden. Mir liegen aber Briefe der Kriegsgefangenen in Werl und Loos bei Lille vor, die von dem Inhalt der Verträge Kenntnis erhalten haben und deren sich nun nicht etwa Zuversicht und Hoffnung, sondern grenzenlose Verbitterung und Hoffnungslosigkeit bemächtigt hat.
Die Verbindung der Kriegsgefangenenfrage mit dem Deutschlandvertrag war ohne jeden Zweifel ein Fehler. Aber es ist noch nicht zu spät, diesen Fehler wiedergutzumachen, diese Frage jetzt — unabhängig von diesen Verträgen und ihrem Schicksal — einer Lösung zuzuführen. Dazu gehört aber eben eine kompromißlose Entschiedenheit und klare Sprache, die sich, wie ich schon sagte, in dieser Frage auf den wirklich einhelligen Willen des deutschen Volkes gründen kann. Denn wir wollen Gerechtigkeit und wir wollen Frieden. Beides gehört zusammen. Nur das Gerechte schafft dauernden Frieden, und nur ein Höchstmaß an Gerechtigkeit bietet das höchste Maß von Friedensgarantie.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit der Bundesregierung etwas anderes zu bedenken geben, was in der Fragestunde vorhin schon angesprochen worden ist. Entgegen dem klaren Wortlaut des Völkerrechts, wie er im Genfer Abkommen niedergelegt ist, haben die Gewahrsamsstaaten den verurteilten deutschen Soldaten den Kriegsgefangenenstatus aberkannt und sie dadurch zahlreicher Vorteile, vor allen Dingen des Schutzes des Völkerrechts beraubt. Die Bundesregierung sollte alles unterlassen, was diese Auffassung der Gewahrsamsstaaten unterstützen könnte. Sie sollte vor allen Dingen unterlassen, den aus Landsberg, Werl und Wittlich entlassenen Soldaten entgegen dem klaren Wortlaut des Heimkehrergesetzes die Heimkehrereigenschaft nur unter großen Schwierigkeiten zuzuerkennen.
Auf diesem Gebiet, meine Damen und Herren, haben gewagte Winkelzüge irgendeines tüchtigen Juristen keinen Platz. Wir sollten den Gewahrsamsmächten auch nicht den geringsten Vorwand aus unserer eigenen gesetzgeberischen Tätigkeit und der Ausführung unserer Gesetze geben, damit sie womöglich darin noch die Grundlagen für ihre eigenen bösen Sitten finden.
Wir ersuchen die Bundesregierung dringend, unabhängig von dem Schicksal dieser beiden Verträge und von den Verhandlungen darüber alles Erdenkliche dafür zu tun, daß allen deutschen Kriegsgefangenen Gerechtigkeit widerfährt, und dafür zu sorgen, daß sie nicht auf dem Altar der Politik geopfert werden.