Rede von
Dr.
Eduard
Wahl
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das sogenannte Kriegsverbrecherproblem beschäftigt uns seit Jahren immer wieder. Im Auswärtigen Ausschuß ist für diese Frage ein besonderer Unterausschuß gebildet. Der Ausschuß selbst hat sich schon in vielen Sitzungen mit dem Gegenstand beschäftigt. Heute gibt die Große Anfrage der DP und FDP und die eingehende Antwort des Herrn Bundeskanzlers den Anlaß, zur gegenwärtigen Situation Stellung zu nehmen. Bei der ersten großen Wehrdebatte trat ich — übrigens im Sinne der Beschlüsse des Unterausschusses — für meine Fraktion dafür ein, daß keine Generalamnestie kommen solle, weil wir keine Veranlassung haben, für Leute einzutreten, die gemeine Verbrechen begangen haben; und wer möchte leugnen, daß es bei den furchtbaren Untaten, mit denen der deutsche Name befleckt wurde, auch solche Deutsche gegeben hat? Bei der ersten Lesung des Vertragswerkes hat Herr Kollege Bazille von der SPD sich im gleichen Sinne geäußert, daß seine Partei und auch die Kriegsteilnehmer nichts anderes wollen als Gerechtigkeit. In diesem Sinne hat auch die Regierung gearbeitet und in Art. 6 des Überleitungsvertrages die damals von mir geforderte
gemischte deutsch-alliierte Kommission als Überprüfungsausschuß herausgehandelt. Natürlich ist diese Kommission als Ergebnis schwieriger Verhandlungen ein Kompromiß; aber die Wiederaufrollung der Verfahren im ordentlichen Prozeß sollte aus naheliegenden Gründen vermieden werden.
Heute ist der entscheidende Punkt, ob auch die Alliierten bereit sind, als Ziel der Arbeiten dieses Ausschusses die Entlassung aller derer herbeizuführen, die keine gemeinen Verbrechen begangen haben. Das entspricht genau den Beschlüssen des Verbandes ehemaliger Angehöriger des Deutschen Afrika-Korps, die gestern die Zeitung gemeldet hat. Jedenfalls ist das der Leitgedanke, der meine Freunde bewegt. Wenn wir zu der Vereinbarung ja sagen, so tun wir es in der Erwartung und in der Annahme, daß auch die Gegenseite sich diesen Leitgedanken zu eigen macht.
Lassen Sie mich zur Problematik der Kriegsverbrecherfrage, die so außerordentlich viele Seiten hat, nur auf wenige Punkte hinweisen, die hier in aller Ruhe vorgetragen werden sollen.
Gottlob ist die Kriegspsychose in den westlichen Ländern im Abklingen, wie insbesondere die vorjährige Tagung der Europäischen Bewegung in Hamburg gezeigt hat, bei der die französische Delegation den Hitlerismus in besonders engen Zusammenhang mit den Friedensverträgen nach dem ersten Weltkrieg gebracht hat. Das läßt hoffen, daß auch für rechtliche Erwägungen eine gewisse Aufnahmebereitschaft da ist, und das gibt mir den Mut zu meinen Ausführungen, die die Dringlichkeit der Bereinigung der Frage unterstreichen sollen.
In der Öffentlichkeit wird manchmal so getan, als ob die deutsche Forderung nur durch das Vertragswerk hätte aufkommen können und als ob hier nur ein politisches Geschäft gemacht werden sollte. Wir bedauern im Interesse des Rechts, daß dieser Eindruck entstehen konnte. Wir haben schon zu einer Zeit für das Recht gekämpft, als noch niemand an den deutschen Verteidigungsbeitrag dachte.
Die Nürnberger Gerichte standen vor einem völlig neuartigen Rechtsproblem, ebenso auch die sonstigen alliierten Gerichte, nämlich wie sich der Bürger in einem Gewaltregime verhalten muß, das vor Verbrechen nicht zurückschreckt, ja sie in Form von Gesetzen den Staatsorganen und Staatsbürgern vorschreibt und sie dadurch zu einem Bestandteil der Ordnung des Gemeinschaftslebens macht. Damit ist das Problem des état criminel gestellt, für den die Strafgesetze, die sich den Verbrecher als Individuum und das Verbrechen als Einzelvorgang vorstellen, keine Lösung haben. Wenn dieser état criminel zugleich ein aus Propaganda und Terror gemischtes System der Menschenbeeinflussung und -beherrschung entwickelt hat, dann tauchen Sachverhalte auf, denen gegenüber das bisherige Strafrecht ratlos ist.
Der einzelne kann die Verbrechen, an denen er mitwirken soll, durch eigenes Wohlverhalten gar nicht verhindern, während sonst im Strafrecht das Abstandnehmen des einzelnen Verbrechers von seinem Vorhaben auch einen günstigen Erfolg herbeiführt. Aber hier tritt an die Stelle des Widersetzlichen, dem es gelingt, sich der Erfüllung des
Gesetzes zu entziehen, sofort 'ein anderer als willfähriges Werkzeug. Dadurch hat der einzelne das Gefühl, daß sein Anteil an dem Geschehen eigentlich bedeutungslos ist. Man erlebt die Gewalt eines übermächtigen Staatsapparats, den der einzelne in seiner Ohnmacht wie ein über ihn gekommenes unentrinnbares Verhängnis empfindet.
Im I.G.-Farben-Prozeß hat das Gericht das Problem besonders klar gesehen, als es ausführte, daß, wenn man bloß auf den Fortgang des Lebens in solchen Gemeinwesen schaue, eigentlich alle sich der Teilnahme schuldig machen. Aber da man diese Folgerung nicht ziehen kann, „weil" — und ich zitiere wörtlich — „dies der Billigung des Begriffs der Kollektivschuld gleichkäme und daraus logischerweise Massenbestrafung folgen müßte, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gebe", stehe man vor der schweren Aufgabe, die Umstände näher zu präzisieren, die die strafbare Teilnahme begründeten.
Da man andererseits darauf bestand, nicht nur an der engsten Führerclique Vergeltung zu üben, hat man diejenigen zur Strafe herangezogen, die unmittelbar mit der Ausführung der verbrecherischen Akte betraut oder in besondere zu ihnen gerückt waren. Das führt zu dem Ergebnis, daß es oft ein Zufall ist, wer diese Voraussetzungen erfüllte. Damit kommt eine gewisse Willkür in die Auswahl der von den Prozessen betroffenen Personen. War etwa ein militärischer Führer gerade in Urlaub, als gewisse verbrecherische Befehle ausgeführt werden sollten, ist er straffrei. Dann tritt sein Vertreter im Dienst auch in die strafrechtliche Verantwortung ein. Daraus ergibt sich zweierlei: einmal das weitverbreitete Mitgefühl mit dem Kameraden, der aus eigenem Antrieb nie ein Verbrechen begangen hätte, dem aber durch das System die Verantwortung dafür aufgezwungen worden ist, wobei der Gedanke mitschwingt, daß einem selbst das gleiche hätte widerfahren können, andererseits aber auch die merkwürdige Tendenz zum Gesinnungsstrafrecht, der sich hier niemand entziehen kann, weil der äußere Erfolg aller Widerstandsbemühungen gegenüber diesem mächtigen System von Anfang an sehr gering war und deshalb über die Strafwürdigkeit des einzelnen letztlich nur seine innere Gesinnung entscheidet.
Die einzige allgemeine Äußerung aus früherer Zeit zu diesem schwierigen Problem findet sich im Corpus Iuris Canonici. Papst Innozenz I. schrieb am 13. Dezember des Jahres 414 in der stürmisch bewegten Zeit der Völkerwanderung an die mazedonischen Bischöfe:
Wenn von Völkern oder einer großen Menge gesündigt wird, so pflegt dies ungesühnt durchzugehen, da wegen der großen Zahl nicht gegen alle vorgegangen werden kann. Deshalb, sage ich, muß das Vergangene dem Urteil Gottes überlassen bleiben und für die Zukunft mit äußerster Anstrengung vorgebeugt werden.
Ein bekannter Autor weist darauf hin, daß durch die Aufnahme dieses Briefausschnittes in das Corpus Iuris Canonici dem Leser auch eine juristische Erkenntnis vermittelt werden sollte, und er schließt mit dem Satz: ,.Es ist nicht wahrscheinlich, daß unsere Zeit die Weisheit dieses Rates widerlegen wird."
Das zweite große Problem, das im Völkerrecht liegt, ist die Behandlung des totalen Krieges. Die
Haager Landkriegsordnung baute auf dem Grundsatz von Kombattanten und Nichtkombattanten auf mit dem Bestreben, die Nichtkombattanten so weit wie möglich aus dem Kriegsgeschehen herauszuhalten. Nun kommt der totale Krieg, der in der Form des Luftkriegs die Zivilbevölkerung und ihre Rechtsgüter vom Leben bis zu ihrem Besitz zum Angriffsobjekt macht, sie im Zeichen des Wirtschaftskrieges auch dem Zugriff der feindlichen Besatzungsmacht auf ihre Arbeitskraft und ihre Wirtschaftsgüter aussetzt und sie — mindestens auf den östlichen Kriegsschauplätzen — systematisch im Kampfe verwendet. Darüber ist kein Zweifel, daß die Haager Landkriegsordnung für diese massenhaft auftretenden Phänomene, die geradezu das Gesicht des Krieges bestimmten und seine Entscheidung herbeiführten, keinerlei passende Regeln enthält, da nach ihrer Auffassung solche Erscheinungen höchstens als bedauerliche Einzelvorkommnisse in Betracht kommen. Für das Gericht ein wahrhaft dorniges Problem! Soll es die Entwicklungen bejahen und daraus folgern, daß große Teile der Haager Landkriegsordnung obsolet geworden sind, oder vor der tatsächlichen Entwicklung die Augen verschließen in der Hoffnung, daß durch das Festhalten an den alten Sätzen wenigstens nachträglich der Schutz der _Zivilbevölkerung sich im gerichtlichen Nachspiel durchsetzt? In den Vereinten Nationen ist eine Kommission ins Leben gerufen worden, die das Völkerrecht neu formulieren soll, weil das alte Recht für die modernen Gestaltungen insbesondere der Kriegführung nicht mehr paßt.
Die grundsätzlichen Zweifel wegen des Okkupationsrechts hatte zuerst der Amerikaner Feilchenfeld dargelegt, allerdings ohne die Folgerung daraus zu ziehen, daß die Stringenz der Vertragsregelungen dadurch gelockert sei. Die Feststellung des IG-Urteils, daß der technische Fortschritt der Waffen und der Luftkrieg das Besatzungsrecht doch nicht ändern könnten, ist in dieser Simplifikation offensichtlich nicht genügend.
Zum Partisanenkrieg ist zu bemerken, daß man sich unter dem Franktireur einen Zivilisten vorstellte, der aus eigenem Antrieb zur Waffe greift, um dem Landesfeind entgegenzutreten. Im Osten war der Partisanenkrieg von der feindlichen Regierung selbst organisiert worden, obwohl sie wußte, welches furchtbare Schicksal sie damit nach Kriegsrecht für die Zivilisten heraufbeschwor. Ja, die deutschen Truppenkommandeure wurden durch grausamste Verstümmelungen abgesprengter Truppenangehöriger zu schwersten Vergeltungsmaßnahmen provoziert, um durch diese die Bevölkerung der Kriegsgebiete von jeder Kollaboration mit den Deutschen abzuhalten. In der Organisation dieses Partisanenkrieges liegt einer der schwersten Verstöße gegen das Kriegsrecht. Andererseits erwies er sich als ein außerordentlich wirksames Mittel zur Schwächung der kämpfenden Truppen. Es soll durchaus nicht geleugnet werden, daß die geübte Vergeltung oft jedes Maß vermissen ließ, aber hier muß das Verschulden der Gegenseite, die nun einmal das Verhalten ihres Volkes völkerrechtlich verantwortlich gesteuert hat, zumindest als Milderungsgrund stärker beachtet werden.
Noch eine Bemerkung über die prozessuale Seite. Es ist ein alter Grundsatz des internationalen Rechts, daß die Verfahrensfragen besonders ernst genommen werden müssen; denn beim Zusammenwirken von Juristen aus verschiedenen Ländern prallen in einem Verfahren verschiedene na-
tionale Rechtssysteme aufeinander, und dadurch gewinnen die Prozeßfragen eine Bedeutung, die sie im nationalen Bereich nicht haben. Bei den Nürnberger Prozessen kann man zu dem Ergebnis kommen, daß die ordinance Nr. 7 als Prozeßgesetz schlechter war, als was die Gerichte daraus gemacht haben, wenn auch das Übergewicht der Anklage gegenüber der Verteidigung unerträglich gewesen ist. Aber was in Dachau und bei anderen Militärgerichten an fundamentalen Prozeßverstößen geschehen ist, ist bisher nur ungenügend gutgemacht, und hier wird die Gemischte Kommission noch eine große Aufgabe zu erfüllen haben; denn der Gedanke, daß hier noch acht Jahre nach Kriegsschluß noch Menschen sitzen, die vielleicht unschuldig sind, weil ihre angebliche Überführung nach rechtsstaatlichen Maßstäben jeder Glaubwürdigkeit entbehrt, ist unendlich bedrückend.
Der Bruch des zwanzigsten Jahrhunderts mit den Traditionen der Vergangenheit ist auf kaum einem Gebiet so sinnfällig gewesen wie auf dem der Kriegführung. Das Recht, das auf Erfahrung beruht, konnte sich daher den neu auftauchenden Anforderungen nicht gewachsen zeigen. In dem Neuland der jüngsten Geschichte unter dem Gestrüpp von alten Gesetzen und neuen Gestaltungen. in dem Gewirr ethischer Postulate und politischer Tendenzen den engen und steilen Pfad der Gerechtigkeit zu finden und keinen Fußbreit davon abzuweichen, geht offenbar über menschliche Kraft. Aber der ungemessenen Gewaltanwendung des Kriegs das Recht entgegenzusetzen, entspricht dem sittlichen Bedürfnis des Menschen, und je grauenhafter die Formen des Krieges werden, um so dringender wird die Aufgabe des Kriegs- und Kriegsverhütungsrechts, schon um der Selbsterhaltung der Menschen willen.