Rede von
Dr.
Eugen
Gerstenmaier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Vorlage dieses Vertragswerkes an die oberste frei gewählte gesetzgebende Körperschaft Deutschlands und mit der sie begleitenden großen Rede des Herrn Bundeskanzlers ist die politische Auseinandersetzung in Deutschland, wie wir meinen, zu ihrem Kern vorgedrungen und in ein Stadium der Entscheidung eingetreten. Welches auch immer die rechtlichen Zuständigkeiten und Verfahrensweisen anderweitig beteiligter Instanzen der Bundesrepublik sein mögen, — wir werden sie respektieren, wie es die Verfassung gebietet. Wir möchten aber keinen Zweifel darüber lassen, daß nach unserer Überzeugung dieses Haus dazu berufen ist, die Entscheidung zu treffen, die ihm mit der Vorlage dieser Verträge abverlangt wird.
Es handelt sich hier nicht nur um ein Recht, sondern zugleich um eine Pflicht der politischen Entscheidung, die dem Deutschen Bundestag nicht abgenommen werden können. Weder die Exekutive noch ein oberstes Gericht, weder der Bundesrat noch eine sogenannte Volksentscheidung, auch wenn sie sich in der Form von Neuwahlen zum Bundestag vollzöge, kann und darf diesen Bundestag des Rechtes, der Pflicht und der Würde entkleiden, die weitaus bedeutsamste politische Entscheidung zu treffen, die ihm die Geschichte offenbar zugedacht hat. Wir gehen jedenfalls in die Debatte dieser Verträge in dem vollen Bewußtsein der diesem Haus auferlegten Verantwortung und in dem Willen, uns diese Entscheidung von niemand abnehmen zu lassen.
Meine Damen und Herren, schon der bisherige Verlauf der außerparlamentarischen Debatte hat gezeigt, daß weit wichtiger als die Einzelbestimmungen der Verträge der politische Ort ist, von dem aus sie entworfen sind, und das politische Leitbild oder Thema, dem sie in der Vielfalt der von ihnen behandelten Probleme folgen. Die Diskussion auch noch so bedeutender Einzelfragen ist richtigerweise auch zurückgetreten hinter der Frage, welche Konsequenzen denn dieses Vertrags-
werk für die Entwicklung Deutschlands, und zwar des ganz en Deutschlands, hat. Wird es der Wiedervereinigung Deutschlands zuträglich oder wird es ihr abträglich sein? Das Thema der Verträge ist die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit in einem vereinigten Europa. Das politische Leitbild, dem das ganze Vertragswerk folgt, ist dementsprechend eine auf die Einbeziehung Gesamtdeutschlands gerichtete freie europäische Integration.
Der politische Ort, von dem aus die Verträge entworfen sind, ist nicht die bedingungslose Kapitulation vom 8. Mai 1945, sondern er ist das Ereignis der europäischen Bewegung.
Sie entstammt der geschichtlich weitaus wichtigsten und bedeutsamsten politischen Idee des 20. Jahrhunderts: der Schaffung der Vereinigten Staaten 'von Europa. Was wir auch im ganzen und im einzelnen zu dem Vertragswerk kritisch zu bemerken haben werden, zu diesem Thema und zu diesem Leitbild des Vertragswerkes sagen wir ja.
Wir halten es für ein Ereignis von höchstem geschichtlichem Rang, daß dieses Vertragswerk dem grauenhaft simplen Gesetz von Schlag und Gegenschlag in der Geschichte endlich absagt, indem es, wenn auch erst nach bitteren Erfahrungen und wenn zunächst auch nur für den größeren Teil Deutschlands, die Epoche der Unterwerfung der Besiegten beendet.
Dieses Werk will fortan weder Sieger noch Besiegte kennen, sondern nur noch Bundesgenossen. Sie sollen die Träger einer gemeinsamen Zukunft, eines gemeinsamen freien europäischen Vaterlandes sein, das wiederum überdacht und geschützt ist von der Bundesgenossenschaft der freien atlantischen Welt. Weil wir dieses Leitbild nicht respektieren, sondern weil wir uns zu ihm als zu unserer eigenen Sache bekennen, deshalb billigen wir die Grundkonstruktion des Vertragswerkes, das einen Voroder Teil-Friedensvertrag mit einem Bündnisvertrag verbindet.
Wir sprechen dieses Ja also nicht deshalb aus, weil wir der Meinung wären, daß das Vertragswerk im ganzen und in den Einzelheiten ein deutscher Triumph wäre. Das ist es nicht. Es gibt Einzelheiten in den Verträgen, die für uns nur unter Aufbietung aller Entschlossenheit zum Ziel der Verträge tragbar sind. Aber wir sind auf der andern Seite tief davon überzeugt, daß das Bekenntnis zu einem vereinigten Europa das Bekenntnis zu unserer eigenen Epoche und zu der uns aufgegebenen Geschichte ist. Wenn es redlich gemeint ist, darf es niemals nur ein Lippenbekenntnis sein, das vor den ersten Schwierigkeiten kapituliert.
Schon weil diese Verträge also unter dem Leitbild der europäischen Vereinigung entworfen sind, verbietet sich ihnen gegenüber die Ablehnung a priori, und schon deshalb fordern sie unsere ernste aufgeschlossene Prüfung. Für uns Deutsche ist diese Prüfung aber nun, wie ich meine, unter zwei Gesichtspunkten vordringlich, nämlich erstens unter der Frage: Was leistet dieses Werk für die Bewältigung der bedingungslosen Kapitulation? und zweitens: Was leistet dieses Werk für die Wiedervereinigung Deutschlands? Die meisten Friedensverträge, die in den letzten hundert Jahren geschlossen wurden, insbesondere aber die Pariser Vorortverträge nach ,dem ersten Weltkrieg, zeigen, daß es keineswegs selbstverständlich ist, daß blutige Katastrophen zwischen den Völkern abgeschlossen werden nicht nur mit dem redlichen Willen zur Versöhnung, sondern — was weit mehr ist — auch mit dem vertraglich niedergelegten Willen zur Vereinigung ihres künftigen Schicksals.
Man kann bei dem vorliegenden Vertragswerk an diesem oder jenem Kritik üben. Aber wer es etwa mit Versailles in einem Atem nennt, der weiß nicht, was er tut.
Die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers hat bereits in unwiderleglicher Weise dargelegt, daß mit dem Deutschlandvertrag die Folgen der bedingungslosen Kapitulation, zunächst wenigstens für die Bundesrepublik, in entscheidenden Punkten bewältigt werden. Die Aufhebung des Besatzungsstatuts bringt der Bundesrepublik definitiv jenes Maß von Rechtshoheit und völkerrechtlicher Handlungsfreiheit, das wir uns nicht scheuen würden als Souveränität anzusprechen, wenn uns der Begriff der nationalstaatlichen Souveränität nicht in einem so hohen Maß suspekt geworden wäre.
Wir erklären frei, daß uns wenig Sinn und Weisheit darin zu liegen scheint, wenn man sich auf der einen Seite zu der europäischen Vereinigung bekennt und auf der andern Seite sich dem Begriff der Souveränität verpflichtet fühlt. Unter dem Leitbild der europäischen Vereinigung darf man die nationalstaatliche Souveränität nicht zum Maß aller Dinge machen.
Die Frage, ob unter Anwendung der Begriffe
etwa des 19. Jahrhunderts der Deutschlandvertrag uns die volle Souveränität der alten Nationalstaaten bringt, ist uns deshalb weit weniger interessant als die andere Frage, nämlich die, ob uns diese Verträge die volle, uneingeschränkte Gleichberechtigung mit unseren bislang doch gewiß als souverän geltenden Partnern bringen. Wenn auf diese Frage mit ja geantwortet werden darf, dann halten wir dafür, daß die Zeit der bedingungslosen Kapitulation vorbei ist und eine Zeit der nationalen Katastrophe und — scheuen wir uns nicht, das auszusprechen! — auch der nationalen Unehre sich ehrenvoll gewendet hat.
Wir glauben also, daß diese Wiederherstellung unserer Rechtshoheit so bedeutsam ist, daß diesem Haus alles daran gelegen sein muß, so schnell wie möglich aus dem Schatten des 8. Mai 1945 herauszutreten und Deutschland nicht nur de facto, sondern auch de jure seine Freiheit wieder zu verschaffen.
Es ist kein Geheimnis, daß die Zeit des Besatzungsstatuts nicht nur deshalb für Deutschland erträglich war, weil es einen Bundeskanzler gab, der sich ihm gewachsen zeigte, sondern vor allem auch deshalb, weil sich in diesen Jahren eine echte Gemeinsamkeit der Interessen zwischen den Drei Mächten und Deutschland herausgebildet hat. Wer diese Gemeinsamkeit stört oder seine Macht in ihr zu überziehen versucht, der läuft Gefahr, daß er nicht zu neuen Verhandlungen mit besseren Ergebnissen kommt — ich sage: er läuft Gefahr! —, sondern daß er zurückgeworfen wird in einen
Zustand, den wir mit Mühe — und hoffentlich auch einiger Weishheit — für immer hinter uns gebracht haben.
Aber nun hören wir: Über den Deutschlandvertrag läßt sich reden, denn — so sagt einer seiner vornehmen Kritiker — er bringt Deutschland unzweifelhaft ein Mehr an staatsrechtlichen Befugnissen. Aber der Verteidigungsvertrag! Zwar, meine Damen und Herren, wird auch hier nicht bestritten, daß sich sein Inhalt vertreten läßt; aber die Verbindung der Verträge, das Junktim, wird für schlechterdings untragbar erachtet.
Ich will mich hier weder mit den rechtlichen noch mit den politischen Sonderfragen des Verteidigungsvertrages auseinandersetzen; darüber werden in diesem Hause andere — ich nehme an: sachlich Berufenere - sprechen. Ich möchte lediglich ein Wort zu dem politischen Begründungszusammenhang sagen, der die beiden Verträge umspannt. Es ist nicht nur unsere Pflicht, alles zu tun, um die oberste Gewalt in Deutschland wieder in deutsche Hand zu bringen, sondern es ist ebenso unsere Pflicht, diese oberste Gewalt und ihren Vollzug mit der auf ihr beruhenden rechtsstaatlichen Ordnung zu sichern. Daß wir eine Garantie unserer Sicherheit von anderen von dem Augenblick ab nicht mehr verlangen können, in dem wir uns weigern, das Unsere für den Schutz dieser unserer Sicherheit beizutragen, ist doch ganz selbstverständlich. Wir stehen noch dazu, was wir im August 1950 in Straßburg auf die an uns ergangene Aufforderung hin erklärt haben: daß wir nämlich nicht von anderen verlangen, daß sie für uns etwas tun, was wir selbst für uns zu tun nicht bereit sind.
Ich glaube, im deutschen Volk hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß es schon die Selbstachtung gebietet, entweder auf die Sicherheitsgarantie der drei Mächte auf die Dauer zu verzichten oder aber uns an ihrer Verwirklichung aktiv zu beteiligen.
Von Anfang an, meine Damen und Herren, hielten wir — ich glaube mich dabei in einer breiten Übereinstimmung mit diesem Hause zu befinden — den Gedanken einer deutschen Nationalarmee nicht für vollziehbar, und zwar nicht deshalb — lassen Sie mich auch das einmal aussprechen —, weil wir vor den auch heute noch in der Welt vorhandenen Vorbehalten gegenüber einer deutschen Armee kapitulierten oder weil uns das deutsche Soldatentum als solches etwa selbst suspekt wäre. Nichts von alledem! Vielmehr glauben wir, daß sich eine deutsche Armee auch in der Zukunft der großen Tradition echten deutschen Soldatentums würdig erweisen würde. Aber es ist einfach nicht mehr an der Zeit, in diesem Augenblick der geschichtlichen Entwicklung Europas Nationalarmeen aufzurichten. Es ist vielmehr an der Zeit, auch in dieser Hinsicht Konsequenzen zu ziehen, und zwar Konsequenzen zu ziehen nicht nur aus der gegenwärtigen Situation, sondern vor allem aus dem politischen Leitbild, zu dem wir uns bekennen.
Schon die gegenwärtige Lage macht die Wiederholung alter Formen und Lösungen einfach unmöglich. Zur Schaffung einer modernen deutschen
Nationalarmee fehlen Deutschland so gut wie alle materiellen Voraussetzungen. Die Russen wissen mit ihrem so großzügig aussehenden Angebot einer wahrscheinlich übrigens dauernder auswärtiger Kontrolle unterworfenen deutschen Nationalarmee recht gut, daß in der Zeit der Atomwaffen 100 000 Mann oder mehr, unzureichend bewaffnet, nichts anderes sind als Hellebardenträger gegenüber Maschinengewehren. Wir haben nicht die Absicht, meine Damen und Herren, uns auf ein solches Abenteuer einzulassen. Wir haben nicht die Absicht, uns zu Hellebardenträgern von Rußlands Gnaden machen zu lassen, selbst dann nicht, wenn man uns eine noch so gute Militärmusik großzügig dazu konzediert.
Aber selbst wenn die materiellen Voraussetzungen dafür vorhanden wären, würden wir es für eine der größten Fehlentscheidungen halten, in Europa die Tradition der Nationalarmeen fortzusetzen.
Europa ist so klein geworden, seine vitalen Lebensinteressen liegen so ineinander, die freien Völker Europas sind so unabweisbar aufeinander angewiesen, daß sie in Zukunft nur noch die Möglichkeit haben, gemeinsam zu leben oder nacheinander unterzugehen.
Wenn wir Deutsche uns schon entschließen, das Unsrige für die Aufrechterhaltung unserer Freiheit und Sicherheit zu tun, so müssen wir uns auch entschließen, es in der Gestalt zu tun, die heute unserem politischen Leit- und Zielbild am ange
messensten ist, d. h. aber eben in der Form der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Mehr als die Montan-Union und wirkungsvoller, als es bis jetzt der Europarat vermochte, ist die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ein erstrangiges Instrument der europäischen Vereinigung.
Ihr Wert und ihre Bedeutung als Element und Antriebskraft der europäischen Integration ist für uns mindestens ebenso wichtig wie ihre Bedeutung als ein defensives Bündnis neuer Art — meine Damen und Herren, beachten wir: neuer Art —, als ein neuer Schutzbund der freien Völker unseres alten Kontinents. Ich glaube, daß der Herr Bundeskanzler kein Wort zuviel gesagt hat, wenn er darauf hinwies, daß dieser Vertrag mehr als alles andere das Gesicht Europas verändern wird. Es ist wahr, er wird es, weil er etwas qualitativ anderes ist als die politischen und militärischen Allianzen des 19. Jahrhunderts und weil er etwas völlig anderes ist als die Koalitionen des 20. Jahrhunderts, die wir his jetzt erlebt haben.
Diese Verteidigungsgemeinschaft hat ihr höheres Ziel verfehlt und sie hat ihren eigentlichen Sinn verloren, wenn sie nicht — dürfen wir es wagen, das auszusprechen? — noch im Laufe des nächsten Jahrzehnts überdacht und umfaßt wird von der Gemeinschaft, auf die sie angelegt ist, nämlich auf die europäische Föderation.
Nun muß die Europäische Verteidigungsgemeinschaft leider einstweilen gelten lassen, daß auch sie keine Garantie für eine allgemeine Abrüstung im Weltmaßstab darstellt. Aber sie ist ohne jeden
Zweifel die denkbar beste Garantie dafür, daß das Schießen, das wir erlebt haben, das Schießen über den Rhein, über die Alpen und über den Belt für immer ein Ende hat!
Neue Massenfriedhöfe in Flandern, um Verdun und um den Hartmannsweilerkopf wird es danach nie mehr geben, wenn dieser Vertrag in Kraft ist. Und ist das wirklich so wenig?
Meine Damen und Herren, die wirkliche Entscheidung, vor die wir mit diesem Vertragswerk gestellt sind, fängt also nicht an bei der Notstandsklausel und sie hört nicht auf bei den Entflechtungsbestimmungen, sondern diese Entscheidung beginnt und endet mit der Frage, wo wir Deutsche selber unsere Zukunft suchen. Es hieße unsere Vergangenheit, ihre Größe und ihr Elend unterschätzen, wenn wir der Meinung wären, daß sich unter dem Aspekt der Einigung Europas nunmehr alle Schwierigkeiten und Widerstände leichthin überwinden ließen. An dem ist es leider nicht. Die Wiederaufrichtung des Reiches als eine unabhängige Großmacht zwischen West und Ost halten manche immer noch für das einzig erlaubte Leitmotiv aller deutschen Politik. Da und dort mögen auch späte, überspäte Träumer ihre RapalloTräume weiterpflegen.
Auch dort, wo mehr Verstand vorausgesetzt werden darf, liegt seit einiger Zeit die Vermutung nahe, daß der Abstand vom Westen, der stillschweigende oder praktische Verzicht auf die europäische Integration vielleicht nicht nur die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichen, sondern auch irgendwann die Chance bieten werde, zwischen West und Ost noch einmal eine eigene deutsche Politik zu betreiben. Es würde eine Politik des nationalen Revisionismus sein, von der mancher träumt, daß sie zum Zünglein an der Waage zwischen Ost und West werden könnte.
Diejenigen, die so offen oder geheim der Politik der europäischen Föderation zugunsten einer Politik des nationalen Revisionismus abgesagt haben oder abzusagen im Begriffe sind, muß man daran erinnern, daß dieser Weg ein sehr gefährlicher Weg ist. Es ist die Schuld und die Tragödie des Versailler Vertrags, daß er ein berechtigtes deutsches Revisionsbegehren schuf, das Demagogen sondersgleichen zu einer Leidenschaft entfachte, die nicht ruhte und nicht rastete, bis jener Fackelzug durch die Wilhelmstraße in Berlin zog, jener Fackelzug, an dem sich schließlich ein Weltbrand entzündet hat.
Und nun meinen wir, meine Damen und Herren, daß diese Erfahrung uns alle verpflichtet. Den Siegern, die im Begriffe waren, nach dem Rezept eines Mannes namens Morgenthau ein Super-Versailles in die Welt zu setzen, begann es Gott sei Dank zu dämmern. Wir sollten dem unbefangenen Mut der Vereinigten Staaten von Amerika mit Respekt begegnen, dem Mut nämlich, der es fertiggebracht hat, weit verbreitete und vertiefte Gefühlskomplexe und festgefahrene Anschauungen im eigenen Lande ohne jede Rücksicht auf sogenanntes Prestige so zu verwandeln, daß von dem Gebäude Morgenthaus sieben Jahre nach dem Kriege kaum noch ein Stein auf dem andern geblieben ist.
Aber es wäre ein Irrtum, wenn daraus bei uns gefolgert würde, daß die anderen ihrer Sache nicht mehr sicher seien und deshalb die Politik des nationalen Revisionismus die chancenreichste und mithin die gebotene sei. Wir glauben, daß trotz der vorliegenden Verträge und über sie hinaus auch einiges, ja vielleicht noch vieles von erheblicher Bedeutung in Deutschland zu revidieren ist. Ich sage nur Saar und Oder-Neiße. Man könnte anderes hinzufügen. Aber es kann kein Zweifel sein, daß auch dieser sittlich und politisch gebotene Revisionswille nicht zu einem Ergebnis gelangen kann gegen den Geist und gegen die Partner dieser Verträge, sondern nur in der Verständigung mit ihnen. Mit anderen Worten: die Chancen für die Durchsetzung der berechtigten Revisionsanliegen des deutschen Volkes auch in der Zukunft sehen wir nur auf dem Boden dieser Verträge und in der Treue zu ihrem politischen Leitbild. Aber wir sehen sie nicht in einer Politik, die sich vermißt, das Zünglein an der Waage im Spiel der Weltmächte zu sein. Wir sehen sie erst recht nicht in dem Versuch einer völlig deplacierten Wiederholung deutscher Großmachtpolitik. Ob diese Politik sich nun mit dem Gedanken der bewaffneten oder der unbewaffneten Neutralität verbindet, sie ist und bleibt gleich reaktionär und gleich gefährlich. Auf dem Wege einer Politik des nationalen oder nationalistischen Revisionismus steht seit Hitlers Tagen nicht nur ein Stopp-, sondern ein Verbotsschild. Es steht dort nicht deshalb, weil es uns die Sieger hingesetzt hätten, sondern es steht dort nach unserem Willen, weil wir Deutsche nicht taub und blind durch die Geschichte unserer Größe und unseres Elends taumeln, sondern weil wir willens sind, dieses Mal aus eigener Einsicht die rechte Richtung zu halten, und das heißt: hin zur europäischen Vereinigung!
Aber nun, meine Damen und Herren, bewegt uns alle seit Jahr und Tag die Frage des Gewissens: Ist dieser Verzicht auf Neutralisierung, auf autonomen Revisionismus nicht zugleich der Verzicht auf die Wiedervereinigung Deutschlands? Damit stehen wir vor dem anderen vordringlichen Gesichtspunkt der Überprüfung dieses Vertragswerkes, nämlich vor der Frage: Was leistet es für die Wiedervereinigung? Zunächst eine Feststellung in Gestalt einer Frage. Was ist denn eigentlich von russischer Seite bislang auf die immer wieder und wieder unternommenen Bemühungen — ich denke etwa an die Bemühungen der Kirchenführer oder anderer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Deutschland — um die Wiedervereinigung geschehen? Es ist doch so lange nichts geschehen, bis durch die Politik, die von der Bundesregierung — es wäre leider zuviel gesagt, wenn ich nun sagen würde: und von diesem Hause — getragen wird
— nun, so sage ich: von der Mehrheit dieses Hauses getragen wird —, neue Tatbestände geschaffen wurden,
Tatbestände von so plastischer und konkreter Bedeutung, daß sich sogar die Sowjets schließlich bemüßigt fühlten, ihre intransigente Ablehnung des
deutschen Einheitsverlangens aufzugeben oder
wenigstens zu tarnen. Es ist doch eine Tatsache,
die merkwürdigerweise bis jetzt viel zu wenig
beachtet wird, daß die Russen eigentlich erst von dem Augenblick an ihre Noten zu schreiben und sich einigermaßen ins Zeug zu legen begannen, als sie sahen, daß der Westen, durch die Schüsse von Korea und einiges andere mehr aus seiner Apathie aufgeschreckt, planvoll zu handeln begann und sogar nicht davor zurückscheute, Deutschland die gleichberechtigte Partnerschaft anzubieten.
Es wird auch in diesen Tagen darüber geredet werden, ob oder daß es richtiger wäre, um den Preis des Verzichts auf einen deutschen Wehrbeitrag die Sowjets zum Abzug zu bringen. Das Bemerkenswerte, meine Damen und Herren, an diesem Vorschlag ist, daß an dem Fortgang der politischen und wirtschaftlichen Einigung Europas festgehalten, auf die Teilnahme an der militärischen Integration aber verzichtet werden soll. Auch in diesem oppositionellen Kompromißvorschlag wird Moskau ein Preis angeboten, der zunächst ausschließlich ein Ergebnis der so hart bekämpften Politik des Herrn Bundeskanzlers und der drei Mächte ist. Ob dieses Angebot — und das scheint mir nun weit wichtiger — von den Russen indessen als ausreichend oder als nicht ausreichend betrachtet wird und ob der Preis von unserer Seite als erbringbar angesehen werden kann, das, meine Damen und Herren, ist eine offene Frage.
Nun erlauben Sie mir einmal, auch in diesem Hause folgendes zu sagen. Ich glaube, es ist der Augenblick, in dem wir alle nun doch noch einmal mit denkbar großem Nachdruck aussprechen müssen, daß wir, ich glaube, wie wir hier versammelt sind, von ganzem Herzen nicht für die Aufrüstung in der Welt, sondern für die Abrüstung in der Welt sind.
Was uns betrifft, würden wir in der Tat die politische Integration ausschließlich etwa auf dem Weg, den die entschlossenen Föderalisten Europas in Straßburg seit Jahr und Tag unverdrossen zu gehen versuchen — also mit einer europäischen Verfassung und einer europäischen Legislative, mit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Wirtschaftspolitik —, bei weitem allem anderen vorziehen. Die total abgerüsteten Vereinigten Staaten von Europa in einer ebenso total abgerüsteten Welt, — das ist das Ideal unserer Herzen!
Nun hat der Herr Bundeskanzler schon mit Recht auf den Tatbestand hingewiesen, der zum Nachteil der freien Welt, zum Nachteil der Freiheit und der Rechtssicherheit in der Welt überhaupt jahrelang ignoriert wurde, auf den Tatbestand nämlich, daß nach dem zweiten Weltkrieg niemand ernsthaft abgerüstet hat als ausgerechnet die drei Großmächte, die nun unsere Partner sein werden.
Während sie abgerüstet haben, hat Rußland mit seinen Satelliten — ganz gleichgültig, ob es ihnen gefiel oder nicht gefiel; ich bin der Meinung, daß es ihnen nicht gefallen hat — in einem unerhörten Umfang weiter aufgerüstet.
Abrüstung aber muß, wenn sie einen Sinn haben soll, auf beiden Seiten durchgeführt werden. Das sollten uns nun endlich auch die zugestehen, die uns immer im Verdacht haben, daß wir irgend etwas für die Aufrüstung übrig hätten. Wir haben
gar nichts für die Aufrüstung übrig, wir haben aber etwas für die Überlegung übrig, daß Abrüstung, wenn sie einen Sinn haben soll, auf beiden Seiten in gleichem Maße durchgeführt werden muß.
Und wie steht es hier? Ich weiß nicht, ob Sachverständige und Militärexperten dazu das Wort nehmen. Sie werden uns vielleicht eine Bilanz über die Ergebnisse der Abrüstung in der Welt aufmachen können.
Ich sage also, ein Verzicht auf den deutschen Wehrbeitrag würde bei dieser Lage der Dinge weder die Abrüstung im Osten noch im Westen zur Folge haben. Er würde lediglich bedeuten, daß wir Niemandsland würden,
daß wir ein Objekt strategischer Erwägungen und
militärischer Maßnahmen anderer würden, bei
denen wir ganz bestimmt nichts zu sagen hätten.
Bei näherem Zusehen erweist sich deshalb auch dieser zunächst ansprechende Vorschlag, der an dem Gedanken der europäischen Integration festzuhalten wünscht, de facto leider als nichts anderes als eine Variante der Neutralisierung; denn die Verteidigungsgemeinschaft unter Beteiligung der Bundesrepublik ist heute, wie gesagt, ein so integraler Bestandteil der europäischen Einigung, daß der Ausfall dieses Verteidigungsbeitrags den Integrationsprozeß überhaupt, insbesondere in politischer Hinsicht, schwer beeinträchtigen, ja wahrscheinlich zerstören müßte. Täte er das nicht, dann wäre nämlich auch nicht einzusehen, was sich die Russen von diesem Teilverzicht versprechen sollen.
Denn es ist nun doch wahr: weit bedeutsamer als 12 Divisionen mehr oder weniger ist schließlich auch für die Russen, ob die Einigung der freien Völker Europas überhaupt zustande kommt oder ob die Stunde dafür vertan wird und dem einheitlich organisierten und hochgerüsteten kommunistischen Rußland und Asien ein Haufen von europäischen Nationalstaaten gegenüberliegen wird, die sich untereinander in häuslichen Fehden und Wirtschaftskämpfen bekriegen und im Flitterglanz ihrer überfällig gewordenen nationalen Souveränität dem Untergang zutreiben.
Gesetzt den Fall, die europäische Integration würde scheitern und die USA würden aufhören, den damit verbundenen politischen Bankrott Europas unbegrenzt zu sanieren, wer würde denn dann in der Lage sein, einem vom Rhein bis zur Oder vereinten Deutschland Freiheit und Rechtssicherheit zu gewährleisten?
Wenn wir die überwältigende Mehrheit der deutschen Männer und Frauen, der alten und der jungen, hinter dem Eisernen Vorhang in ihrer Knebelung richtig verstanden haben, so ist es doch nicht nur der Wunsch, daß sie mit uns in dem vereinten Vaterland endlich wieder zusammenleben können, sondern es ist die Sehnsucht, daß sie in einem vereinten Deutschland in Freiheit und Frieden leben dürfen.
Wenn im Falle der Wiedervereinigung nicht gewährleistet ist, daß nachher in Leipzig ebenso gelebt werden kann wie jetzt in Düsseldorf oder in München, sondern wenn die Gefahr besteht, daß
sich über kurz oder lang die Dinge in Düsseldorf oder in München den jetzigen Zuständen in Leipzig oder Magdeburg nähern, dann, meine Damen und Herren, hat die Vereinigung vielleicht nicht jeden, wohl aber ihren entscheidenden Sinn verfehlt.
Deshalb ist es doch unsere legitime, gar nicht abweisbare Aufgabe, Tag und Nacht nicht nur an die Wiedervereinigung zu denken, sondern auch auf die Mittel und Wege zu sinnen, auf denen diese Vereinigung in Freiheit und Frieden zustande gebracht und gesichert werden kann.
Ich glaube, daß auch in der Art, wie der Gedanke einer Viermächtekonferenz über die Wiedervereinigung Deutschlands in der Bundesrepublik aufgenommen wurde, der gute Wille zur friedlichen Wiedervereinigung soeben einen überzeugenden Ausdruck gefunden hat. Aber nun hat man leider auch versucht, der Bundesregierung eine Schlinge daraus zu drehen, daß sie sich freimütig und von Herzen immer wieder zur Wiedervereinigung bekannt hat. Wenn es ihr höchstes Ziel sei — so wird gesagt —, diese Wiedervereinigung herbeizuführen, dann müsse sie auch bereit sein, auf die Ratifizierung der Verträge mindestens so lange zu verzichten, bis alle Möglichkeiten der Viermächtekonferenz erschöpft seien. Nun will ich hier über die dergestalt heraufbeschworene Rangordnung der Termine oder der dahinterliegenden Werte nicht rechten. Ich will deshalb nicht streiten, weil es sich hier in Wahrheit nicht um eine Hierarchie der Werte handelt, nämlich etwa Wiedervereinigung Deutschlands Numero eins. europäische Integration Numero zwei oder umgekehrt. Das Wesenhafte unserer deutschen Politik. wie es sich in dem hier angesprochenen politischen Leitbild darstellt. beruht gerade in der polaren Zusammenspannung beider. Auf der polaren Zusammenspannung beider Werte, beider Grundaufgaben, beruht das politische Leitbild. dem wir folgen. Um es einfach zu sagen: wir halten dafür. daß die Wiedervereinigung Deutschlands unlösbar verbunden, ia hineingewickelt ist in das Problem der europäischen Integration und daß umgekehrt die europäische Integration unter keinen Umständen darauf verzichten kann, Deutschland als Ganzes zu integrieren.
Auch einem anerkannten Europäer wie M. Aron gegenüber muß ich darauf verweisen. daß die europäische Integration unter keinem Betracht über Anfangs- und Mittelstufen hinauskommt, solange sie nicht Deutschland als ganzes zu erfassen vermag; und wenn unser verehrter luxemburgischer Kollege Herr Margue in der Beratenden Versammlung des Europarats in einem bewundernswert klaren und einprägsamen Bericht — den ich nur Ihrem Studium empfehlen kann — über die europäische Verteidigungsgemeinschaft dargelegt hat, daß Deutschland es eben hinnehmen müsse, sich heute nur partikulär den Aufgaben der europäischen Integration zuwenden zu können. so besagt uns auch das nicht, daß wir eine Rangordnung anzuerkennen bereit wären von der Art: Integration in erster Linie. Wiedervereinigung in zweiter Linie. Das können und wollen wir Deutsche nicht tun.
Aber wer sagt uns eigentlich, daß wir es zu tun bhrauchen? So liegen die Dinge doch genau nicht. Würde nämlich der Antrieb der europäischen Einigung hinfällig, so könnte ich nicht mehr sehen,
was die Russen noch veranlassen könnte, über ihren Abzug, sagen wir einmal, bis wenigstens hinter die Oder-Neiße-Linie ernsthaft mit sich reden zu lassen. Andererseits ist einstweilen auch die Behauptung nicht zu widerlegen, daß ohne den garantierten definitiven Verzicht Deutschlands, und zwar auch Gesamtdeutschlands, auf die Teilnahme an der europäischen Integration die Russen nicht räumen werden. Was folgt daraus? Zunächst nur dies, daß jene Rangordnung, wie sie uns — sei es polemisch, sei es reflektierend — vorgehalten wird, eben eine Abstraktion ist. Hingegen ist es eine Tatsache: das einzige Element der Bewegung, das im seitherigen status quo der Zweiteilung Deutschlands erschienen ist, ist geboren aus der Politik der Integration und wirkt einstweilen geradezu automatisch als ein Anstoß zur Wiedervereinigung.
Der Einwand, der von mancher Seite in diesen Wochen gegen diese Politik laut geworden ist, hat sich schließlich dahin zusammengefaßt, daß die Ratifizierung so lange unterbleiben müsse, bis die Viermächtekonferenz — sei es mit, sei es ohne Ergebnis — beendet sei. Wenn man aber schon von einer derartigen Abstraktion ausgeht und wenn man sich schon für die alternative Behandlung von Ratifizierung und Viermächtekonferenz ausspricht, dann muß gefragt werden, ob damit die Bereitschaft verbunden werden soll, im Namen etwa der Priorität der Wiedervereinigung auch den definitiven Verzicht auf die deutsche Mitwirkung an der europäischen Integration zu erbringen. Denn wenn schon bezahlt werden soll und wenn man schon bereit ist, auf russische Forderungen einzugehen, dann sehe ich nicht, was Moskau daran hindern sollte, wirksame Garantien gerade für diesen definitiven Verzicht Deutschlands auf die Beteiligung an der europäischen Föderation zu verlangen. Sollte der Kreml so schlecht über die freiheitliche Grundrichtung der überwältigenden Mehrzahl der 18 Millionen zwischen Elbe und Oder unterrichtet sein, daß er nicht wüßte, daß eine gesamtdeutsche Regierung, daß eine deutsche Nationalversammlung, daß die 18 Millionen, wenn sie sich mit uns einmal in Freiheit vereinen könnten, sich alsbald auch mit uns für das in Freiheit geeinte Europa entscheiden würden?
In Anbetracht dieser Sachlage halten wir dafür, daß der wahrscheinlich beste Beitrag, den wir Deutsche für diese Viermächtekonferenz liefern können, der unbeirrte Vollzug der Ratifizierung dieser Verträge ist. Denn Ratifizierung heißt: Schach den Verhandlungsmethoden der Sowjets, wie sie sie in Osterreich exerzieren, heißt Schach den Verhandlungsmethoden der Sowjets, wie sie im Marbre-Rose-Palais in Paris angewandt wurden, und heißt schließlich auch Schach den Methoden, wie wir sie in den Waffenstillstandsverhandlungen in Korea seit mehr als einem Jahr erleben. Wir glauben, daß man — genau umgekehrt, wie Sie, meine Herren von der Opposition, es wollen — sagen muß: in dem Maße, in dem das Leitbild der europäischen Integration mit Deutschland sich verwirklicht, in dem Maße steigen die Chancen für eine ernsthafte Verhandlung mit Rußland.
Zu den seltsamen, aber realen gedanklichen Tatbeständen, mit denen wir es in dieser Gesprächssituation in Deutschland immer wieder zu tun haben, gehört die Anschauung, daß mit der voll-
zogenen Ratifizierung der Verträge die Möglichkeit für Verhandlungen mit der Sowjetunion ein für allemal vorbei sein werde. Meine Damen und Herren, es gibt nichts, aber auch gar nichts, was diese Annahme auch nur annähernd zu rechtfertigen vermöchte. Steht hinter diesem Gedanken nicht doch vor allem die apokalyptische Angst, daß die Ratifizierung den Krieg, und zwar den Angriffskrieg von seiten Rußlands auslösen könnte? Auch dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. Diese Angst ist nicht nur ein Ergebnis des Erbes aus dem letzten Krieg; sie ist auch ein Ergebnis unserer ungemeisterten Nervosität und des mit allen Mitteln — auch mit allen unerlaubten Mitteln — geschürten politischen Kampfes.
Wir sind der Meinung, daß die Viererkonferenz angestrebt werden muß. Wir sind das nicht nur den 18 Millionen hinter dem Eisernen Vorhang schuldig - ihnen vor allem und zuerst —, sondern wir sind es uns selber und Europa schuldig, daß wir allen Ernstes und mit dem nachdrücklichsten Willen alles tun, was wir vermögen, um nicht nur zum Zustandekommen, sondern auch zum Gelingen dieser Konferenz beizutragen. Aber man täte denen hinter dem Eisernen Vorhang, uns und Europa einen schlechten Dienst, wenn man sich dabei unter Verzicht auf unerläßliche Voraussetzungen zum Objekt des russischen Verfahrens machte. Darum sind wir den 18 Millionen gleichermaßen die Ratifizierung schuldig. Sie schafft auch insofern keine neue Situation gegenüber Rußland, als nicht einzusehen ist, warum Rußland nicht auch nach der Ratifizierung und selbst nach einer gescheiterten Viererkonferenz immer wieder verhandeln würde.
Was uns betrifft, so sollten auch wir frei und
unbefangen dazu bereit bleiben, weil die Wiedervereinigung und die europäische Integration heute schon tatsächlich ineinanderliegen und ineinandergreifen wie ein Gelenk. Darum muß auch die Konsequenz daraus gezogen werden, daß die Verwirklichung unseres politischen Leitbildes und unser ernstes und nachdrückliches Bestreben zur Wiedervereinigung Deutschlands miteinandergehen. Im Blick auf die Verträge bedeutet das, daß wir revisionsbereit und revisionswillig sind, insbesondere im Blick auf die Fragen, ja die Nuancen, die es mit der Wiedervereinigung Deutschlands zu tun haben. Wir bekennen uns also zu einer Politik der ruhigen, aber der festen Hand in Sachen der deutschen Wiedervereinigung. Wir sind der Meinung, daß dieses Vertragswerk dafür eine brauchbare Grundlage schafft.
Wir sprechen aber auch frei aus, daß uns kein noch so ansprechender oder auch abschreckender Begründungszusammenhang dazu veranlassen kann, an die Wiedervereinigung Deutschlands anders als mit den Mitteln des Friedens zu denken. Kreuzzugstheorien finden bei uns keinen Boden.
Wir kennen den Krieg so sehr, daß wir gewillt sind, alles zu seiner Verhinderung beizutragen. auch dort, wo er uns selber möglicherweise oder voraussichtlich sogar verschonen würde. Aber so entschieden wir jeden Gedanken an Kreuzzug und Gewalt abweisen, so sehr werden wir der Tyrannei widerstehen, der Tyrannei, meine Damen und Herren, die wir auch kennengelernt haben und deren Male noch mancher unter uns am Leibe trägt. Wir werden der Tyrannei widerstehen, wo sie den Versuch macht, nach uns und unserer Freiheit zu greifen. Es ist wahr — es ist vielleicht leider wahr —: zur Entschlossenheit eines solchen Widerstandes gehören auch Waffen. Aber weit wichtiger als sie ist uns — ich wiederhole es —jeder friedliche Schritt zur Einigung Deutschlands und Europas. Nicht nur durch unser Volk, sondern durch die Völker der Welt — ich glaube, diesseits und jenseits des Vorhangs — geht ein unüberhörbar tiefes Bedürfnis und Sehnen nach Frieden und nach einer gefestigten Ordnung der Freiheit. Daran teilzunehmen, daß sich diese Sehnsucht noch zu unseren Lebzeiten erfüllt und in unserm Kontinent eine gemeinsame politische, wirtschaftlich und sozial vollziehbare Gestalt gewinnt, das ist unser Wille.
Wir glauben mit dem Herrn Bundeskanzler, daß in dem Maße, in dem eine solche Einigung zum Hort der Freiheit wird, die Chancen für den Frieden und die friedliche Vereinigung aller Deutschen in einem vereinten Europa wachsen. Denen aber, denen dieser Begriff Europas als Mythos verdächtig sein sollte oder die glauben, ihn bagatellisieren zu können, weil er sich in seiner einstweiligen Gestalt leider nur auf den europäischen Kontinent zu begrenzen scheint, möchten wir doch sagen, daß uns die Theorie des „Alles oder nichts" keinen Eindruck macht, am wenigsten in der Politik und angesichts der Aufgabe, vor die wir gestellt sind.
Wir sagen auch zu diesem Kontinentaleuropa ja, weil hier in der Gemeinschaft der sechs Vertragspartner der Montanunion und der Verteidigungsgemeinschaft Europa endlich in seinem Kern Wirklichkeit wird. Auch eine solche Wirklichkeit ist uns noch immer unendlich viel mehr als jedes noch so schöne Konzept eines Gesamteuropas, das leider einstweilen in den Sternen steht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einer persönlichen Bemerkung schließen. Als ich im April 1945 den Kerker verließ, da wehten über den Dörfern und Städten Deutschlands die weißen Fahnen. Die Sieger des letzten Krieges haben uns nut einer freundlichen Geste längst die Fahne des Bundes konzediert. Aber es ist kein Geheimnis, meine Damen und Herren, daß diese Lehne, so-large es ein Besatzungsstatut gibt, mehr als ein Zeichen der Verheißung denn als ein Symbol der verbürgten Freiheit über uns weht. Nun, die Zeit der weißen Fahne ist für Deutschland vorüber und muß vorüber sein! Lassen Sie uns die Fahne einer schwer errungenen Freiheit nunmehr so über unserem Vaterlande befestigen, daß sie von keinem Sturm der Zeit geworfen werden kann und daß sie nicht nur uns, sondern auch den 18 Millionen Deutschen in der Knechtschaft täglich und stündlich das Zeichen ist für die auch ahnen mit Gottes Hilfe schlagende Stunde der Freiheit.
Wir, meine Damen und Herren, sagen ja zu diesem Vertragswerk.