Rede von
Dr.
Konrad
Adenauer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Meine Damen und Herren, ich mache weiter aufmerksam auf den Art. 9, der ein Schiedsgericht einsetzt, und endlich auf den Art. 10, der eine Revision des Deutschlandvertrags vorsieht, insbesondere für den Fall der Wiedervereinigung Deutschlands oder der Bildung einer europäischen Föderation. Es bedarf wohl keiner näheren Erläuterung, warum in einem solchen Falle z. B. der Wiedervereinigung Deutschlands eine Revision nötig ist. Die ganzen Vorbehaltsrechte werden dann überflüssig geworden sein.
Was die Zusatzverträge zu dem Deutschlandvertrag angeht, so darf ich aus dem Truppenvertrag hervorheben, daß er im großen und ganzen den Verträgen nachgebildet ist, die mit den einzelnen NATO-Staaten hinsichtlich des Aufenthalts von fremden Truppen in ihrem Lande abgeschlossen sind. Es ist wohl ohne weiteres einleuchtend, daß der Aufenthalt fremder Truppen in einem Lande eine Fülle von Tatbeständen mit sich bringt, die vertraglich geregelt werden müssen.
Für die der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft angehörenden Truppen ist eine besondere Regelung in dem Truppenvertrag der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vorgesehen. Die französischen Truppen in unserem Gebiet werden für eine kurze Übergangszeit, nämlich für die Zeit bis zum 30. Juni 1953, nach den Bestimmungen des Truppenvertrags zum Deutschlandvertrag behandelt werden. Von da an unterliegen sie den Bestimmungen des Truppenvertrags der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.
Da die ganze Materie des Truppenvertrags außerordentlich kompliziert ist und man erst Erfahrungen sammeln muß, ist für den Truppenvertrag eine Überprüfung nach zwei Jahren vorgesehen.
Über den Finanzvertrag wird Herr Bundesfinanzminister Schäffer im Laufe der Debatte sprechen.
Was den Überleitungsvertrag angeht, so muß ich auch hier zunächst auf die in den Ausschüssen stattfindenden Beratungen verweisen. Ich möchte hier nur eins hervorheben. Das Problem des Auslandsvermögens ist nicht etwa durch den Abschluß dieser Verträge aufgeworfen. Das Auslandsvermögen ist leider schon, wie nach 1918, seit geraumer Zeit beschlagnahmt und wird zur Tilgung der Auslandsschulden verwendet.
Es ist aber gelungen, hinsichtlich des in neutralen Staaten beschlagnahmten deutschen Vermögens nunmehr Verhandlungsmöglichkeiten zu ihrer Freigabe zu schaffen.
Der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist nach meinem Dafürhalten der
wichtigere der beiden Verträge, die Ihnen vorgelegt worden sind. Er ist deswegen der wichtigere,
weil er ganz losgelöst von den Problemen, die die Niederlage Deutschlands und die bedingungslose Kapitulation mit sich gebracht haben, in allererster Linie dazu bestimmt ist, für 50 Jahre in Westeuropa einen Krieg unter den europäischen Völkern unmöglich zu machen.
Der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft wird viel zu sehr nur unter dem Gesichtspunkt der Abwehr einer etwaigen sowjetrussischen Aggressionsabsicht angesehen. Er dient bei weitem, in erster Linie
und in der Hauptsache dem eben von mir gekennzeichneten Zweck der Befriedung Europas.
Er ist ein Instrument des Friedens von denkbar größter Bedeutung.
Der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sieht den Verzicht der Teilnehmerstaaten auf ihr wichtigstes Souveränitätsrecht, nämlich die Aufstellung eigener Streitkräfte, vor. Er sieht weiter die Übertragung dieses Rechts auf eine supranationale Stelle vor.
Er wird von weittragendsten Konsequenzen für die Schaffung eines vereinten Europa sein. Durch ihn wird gleichsam automatisch eine Angleichung der Teilnehmerstaaten in außenpolitischen und in wirtschaftlichen Fragen herbeigeführt, die zumit dem Schumanplan und anderen im Stadium der Beratung befindlichen Projekten sehr bald zu einer europäischen Föderation oder Konföderation führen wird. Dieser Vertrag über den Abschluß der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ist ein Akt, der einzig ist in der langen Geschichte Europas,
dieses Europas, das immer wieder von kriegerischen Wirren erschüttert wurde, dem aber jetzt, nachdem es durch die beiden letzten Kriege an den Rand des Abgrunds gebracht worden ist, ein dauernder Friede und ein neues Leben gegeben werden soll.
Lassen Sie mich aus der Präambel dieses Vertrags zwei Abschnitte im Wortlaut vorlesen:
Sie
— das sind die Unterzeichnerstaaten —
werden es sich dabei angelegen sein lassen, die geistigen und sittlichen Werte zu wahren, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind, und sie sind überzeugt, daß in der gemeinsamen Streitmacht, die ohne unterschiedliche Behandlung der beteiligten Staaten gebildet wird, die Vaterlandsliebe der Völker nicht an Kraft verlieren, sondern sich vielmehr festigen und in erweitertem Rahmen neue Gestalt finden wird.
Sie tun diesen Schritt in dem Bewußtsein, hiermit einen weiteren und bedeutsamen Schritt auf dem Wege der Schaffung eines geeinten Europas zurückzulegen.
Es gibt, meine Damen und Herren — lassen Sie mich das nochmals nachdrücklich aussprechen —, in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft keine Diskriminierung eines Teilnehmerstaats. Im Art. 38 des Vertrags sind der Versammlung und dem Rat der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sowie den Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmte befristete Verpflichtungen auferlegt, Vorschläge zur Bildung eines vereinigten Europas auszuarbeiten. Alle diejenigen, meine Damen und Herren, die für den europäischen Gedanken, für die Bildung einer europäischen Gemeinschaft sind, müssen der Schaffung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in herzlicher Freude zustimmen.
Wie ich bereits ausgeführt habe, handelt es sich für Sie um eine politische Entscheidung, die zu treffen ist. Lassen Sie mich die theoretischen Möglichkeiten klarlegen. Wir können zwischen folgenden Möglichkeiten wählen: erstens Bejahung der Verträge und damit Anschluß an den Westen, zweitens Ablehnung der Verträge, um damit den Anschluß an den Osten oder die Neutralisierung Deutschlands zu erreichen,
und drittens: Herauszögern einer Entscheidung, um eventuell neu zu verhandeln.
Um eine richtige Entscheidung treffen zu können, muß man zuerst versuchen, die zur Zeit bestehende Lage bei uns, in der Sowjetzone, in Europa und in der ganzen Welt klar zu sehen; denn alle Entwicklungen, die zur gegenwärtigen Lage geführt haben, und die zur Zeit bestehenden Spannungen in der Welt hängen eng miteinander zusammen. Man sieht die Probleme nicht richtig und kann daher nicht zu ihrer richtigen Beurteilung kommen, wenn man diesen Zusammenhang nicht berücksichtigt. Auch das Problem Deutschland darf man nicht als ein für sich allein stehendes betrachten; es ist ein sehr wichtiger Teilabschnitt in der großen Spannungslinie Ost-West.
Man muß ferner untersuchen, wie es zur gegenwärtigen Situation gekommen ist, ob und welche Richtungs- und Entwicklungstendenzen zu erkennen sind, um aus ihnen auf die kommende Entwicklung zu schließen. Man muß untersuchen, ob nach Annahme des Vertragswerks eine Lage eintritt, die eine friedliche Weiterentwicklung und schließlich eine für uns annehmbare Lösung des Deutschlandproblems verspricht. Man muß sich endlich über die Folgen einer Ablehnung der Verträge klarwerden, sei es daß man damit eine Neutralisierung oder eine Option für den Osten will.
Schließlich muß man sich gewissenhaft prüfen, ob ein Hinauszögern der Entscheidung zum Zwecke von neuen Verhandlungen möglich und mit den deutschen Interessen vereinbar ist. Dazu möchte ich eines schon jetzt sagen. Eine sachlich nicht gerechtfertigte Verschiebung einer Entscheidung kommt immer einem Ausweichen gleich.
Sie ist bei der allgemeinen politischen Lage in der Welt nicht möglich. Man kann nicht erwarten, daß, nachdem nunmehr zwischen den Regierungen von acht Staaten in mühsamster Arbeit eine Einigung erzielt ist, einzelne Teilnehmerstaaten die Ratifizierung auf die lange Bank schieben können. Das
gilt verstärkt, nachdem inzwischen der amerikanische Senat seine Zustimmung fast mit Einstimmigkeit beschlossen hat.
Die Welt geht weiter; wir können ihren Gang nicht aufhalten.
Sachlich unbegründete Verzögerung ist nichts anderes als eine in eine andere Form gekleidete Ablehnung, und sie wird auch dementsprechend empfunden werden.
Ich werde nunmehr versuchen, die Entwicklung, die seit 1945 eingetreten ist und die zu der gegenwärtigen Lage geführt hat, durch Wiedergabe der markanten und entscheidenden Tatsachen zu zeichnen. Wir alle haben zwar diese Entwicklung miterlebt; aber sie ist in so stürmischem Tempo erfolgt, daß es sich empfiehlt, sie sich noch einmal vor Augen zu führen, um dann die nötigen Schlüsse daraus zu ziehen.
Die wirtschaftliche und politische Entwicklung in der Bundesrepublik sind nicht voneinander zu trennen. Die wirtschaftliche Vernichtung Deutschlands war zuerst von den Alliierten geplant als politisches Instrument. Im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 wurde bestimmt:
. . . bei der Organisierung der deutschen Wirtschaft das Hauptgewicht auf die Entwicklung
der Landwirtschaft und der einheimischen für
friedliche Zwecke arbeitenden Industrien zu
legen.
Als Richtschnur sollte dienen, daß der Lebensstand in Deutschland nicht höher sein dürfte als in dem Durchschnitt aller europäischen Länder ausschließlich Großbritanniens und der Sowjetunion,
aber einschließlich der südeuropäischen und osteuropäischen Länder. Deutschland sollte die Produktion aller seetüchtigen Schiffe verboten werden. Die Produktion von Metallen, Chemikalien, Maschinen und anderen Gütern, die für eine Kriegswirtschaft unmittelbar notwendig sind, sollte einer strengen Kontrolle unterworfen, die Produktionsstätten sollten zum großen Teil demontiert oder zerstört werden. Eine derartige Umänderung und Niederhaltung der deutschen Wirtschaft war und ist natürlich nur möglich durch ein vorgesehenes ausgedehntes und strenges Kontrollsystem. Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß die Sowjetunion in dem zur Zeit laufenden Notenwechsel zwischen ihr und den Westmächten verlangt, daß das Potsdamer Abkommen zur Grundlage des Friedensvertrages mit Deutschland gemacht wird.
Die Beschlüsse von Potsdam wurden zunächst in dem Industrieplan vom März 1946 im einzelnen ausgearbeitet, und dieser Industrieplan fand die Zustimmung des Viermächtekontrollrats. Nach diesem Plan sollte die Höhe der Industrieproduktion Deutschlands etwa 50 bis 55 % der Produktionshöhe von 1938 betragen. Alle darüber hinausgehenden Produktionskapazitäten sollten demontiert und entweder als Reparationsgüter ins Ausland gebracht oder an Ort und Stelle zerstört
werden.
Die wichtigsten Industriebeschränkungen wurden in folgenden Ziffern festgelegt: Stahlkapazität 7,5 Millionen Tonnen jährlich, chemische Grundstoffe 40 % der Kapazität von 1936,
Werkzeugmaschinenindustrie 11,4 % der Kapazität von 1938,
Nach dem Scheitern der Moskauer Friedenskonferenz im März 1947 begannen die 3 westlichen Besatzungsmächte — jetzt für sich allein handelnd — einen neuen und etwas liberaleren Industrieplan für ihre Besatzungszonen auszuarbeiten. Dieser Plan wurde am 27. August 1947 veröffentlicht. Nach diesem Plan sollte die deutsche Industrieproduktion in den Westzonen auf 90 bis 95 % des Standes von 1936 gehoben werden. Im einzelnen wurde festgelegt: Stahlprodukt ion 10,7 Millionen Tonnen jährlich, schwere Maschinen 80% der Vorkriegserzeugung, wovon aber 35 % als Reparationen abgeführt werden sollten. Trotzdem sollten nach diesem Plan noch 918 Industriewerke demontiert werden, und zwar 338 als sogenannte Kriegsindustrien und 580 Werke als sogenannte überschüssige Betriebe. Der größte Teil der zu demontierenden Werke — nämlich 496 —
lag in der britischen hen Zone, darunter Walzwerke, Eisenbahnzulieferungswerke, Röhrenwerke, Bergbauzulieferungswerke.
Im Juli 1947 kam eine Wendung. Damals machte der amerikanische Außenminister General Marshall in einer Rede in Harvard den Vorschlag, daß die Völker Europas sich zu einem gegenseitigen wirtschaftlichen Hilfs- und Wiederaufbauprogramm zusammenschließen müßten. Die Vereinigten Staaten seien bereit, die hierzu nötige Wirtschaftshilfe zu leisten. Deutschland sollte in dem Programm eingeschlossen sein.
Auf der bald darauf in Paris zusammengetretenen Konferenz der europäischen Länder versagte der damalige sowjetische Außenminister Molotow schon nach den ersten Verhandlungstagen die Mitarbeit der Sowjet-Union und verließ Paris.
Die Satellitenstaaten Polen und Tschechoslowakei wurden gezwungen, ebenfalls ihre Mitarbeit zu versagen.
Der Marshallplan wurde dadurch praktisch auf Westeuropa begrenzt.