Meine Damen, meine Herren! Die Genehmigungsgesetze zum Deutschlandvertrag und zum Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft mit ihren Annexen sind dem Hohen Hause zugegangen. Aus den Ihnen weiter zugegangenen Abmachungen hebe ich besonders hervor den Bündnisvertrag mit Großbritannien, die Vereinbarungen mit NATO, die Sicherheitserklärungen der Vereinigten Staaten.
Die Entscheidung, die Sie, meine Damen und Herren, zu treffen haben, ist von wahrhaft geschichtlicher Bedeutung. Ihr Ja wie Ihr Nein wird entscheidend sein für das Schicksal Deutschlands und Europas. Ich werde, um nicht die Hauptprobleme in ihrer Bedeutung zurücktreten zu lassen oder gar zu verdunkeln, in diesem Stadium der Beratungen nicht eingehen auf die Auffassung des Bundesrates, daß sämtliche Genehmigungsgesetze Zustimmungsgesetze seien. Ich werde aus dem gleichen Grunde in diesem Stadium nicht eingehen auf die Frage, ob das Zustimmungsgesetz zum Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft verfassungsändernd ist oder nicht. Auf diese Frage möchte ich im gegenwärtigen Augenblick auch deshalb nicht eingehen, weil sich das Bundesverfassungsgericht, wie Sie wissen, mit ihr beschäftigt.
Im gegenwärtigen Augenblick sind wir dem deutschen Volke und der Weltöffentlichkeit eine klare Stellungnahme zu den grundlegenden Prinzipien des Vertragswerks selbst schuldig. Das
deutsche Volk soll selbst sehen und soll klar
sehen, worum es im Grunde geht. Es sollen nicht
die Wucht der Tatsachen, die gefahrvolle Lage
Deutschlands und Europas verschleiert und unklar
gemacht werden durch juristische Ausführungen,
die zur gegebenen Zeit ihre Bedeutung haben werden. Dem Volke selbst muß durch diese Bundestagsverhandlungen Klarheit gegeben werden über die Grundprobleme, damit es sich ein Urteil bilden kann über die Stellungnahme des Bundestages und der Bundesregierung. Sein Urteil, meine Damen und Herren, wird es zum Ausdruck bringen bei den Bundestagswahlen des kommenden Jahres. Ich sehe diesem Urteil nicht nur mit Ruhe, ich sehe ihm mit Zuversicht entgegen, weil ich weiß, daß das deutsche Volk in seiner großen Mehrheit den Weg bejaht, den wir gehen.
Bei der Frage, ob Genehmigung der Verträge oder nicht, handelt es sich — in wenigen Worten kurz zusammengefaßt — darum, ob sich die Bundesrepublik Deutschland an den Westen anschließen soll oder nicht; ob sie sich den Schutz des atlantischen Verteidigungssystems sichern soll oder nicht; ob sie die Integration Europas einschließlich Deutschlands will oder nicht; ob sie die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit in einem freien Europa will, oder ob sie bereit ist, eine Teilung Deutschlands oder eine Wiedervereinigung Deutschlands in Unfreiheit hinzunehmen.
Die Einzelheiten der Verträge sind natürlich nicht gleichgültig, und sie müssen studiert und geprüft werden. Aber diese Prüfung muß sich in der Hauptsache meines Erachtens darauf erstrecken, ob die Verträge eine geeignete Grundlage für die Erhaltung des Friedens und der Freiheit, die Schaffung Europas und die Wiedervereinigung Deutschlands sind und ob sie der Bundesrepublik die Basis dafür geben, als gleichberechtigter Partner an diesem Werk teilzunehmen. Diese Verträge müssen als Ganzes gesehen, als Ganzes geprüft, als Ganzes genehmigt oder verworfen werden.
Ich sagte schon: sicher haben auch die einzelnen Bestimmungen ihre Bedeutung. Es wird Aufgabe der Ausschüsse sein, sie zu prüfen, Aufgabe der Bundesregierung, in den Ausschüssen die verlangten Aufklärungen zu geben. Bei der Prüfung der Einzelbestimmungen wird man sich meines Erachtens vor Augen halten müssen, w i e das Werk zustande gekommen ist: daß es sich in sehr vielen und naturgemäß in den verwickeltsten Fällen darum handelte, ein Kompromiß — manchmal unter Vieren, wie beim Deutschlandvertrag; manchmal unter Sechsen, wie beim Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft — zu finden. Kompromisse haben es nun einmal ihrer Natur nach an sich, daß niemand dabei hundertprozentig mit seiner Ansicht durchdringt. Aber zum Schluß der Beratungen in den Ausschüssen werden die Fragen, die Sie sich stellen werden, nicht Fragen über die Abänderung dieser oder jener Einzelbestimmung sein. Ich versichere Ihnen, meine Damen und Herren, daß auch ich bei manchen Bestimmungen eine andere Fassung lieber gesehen hätte als diejenige, auf die man schließlich im Wege des Kompromisses abgekommen ist. Aber ich kann nur nochmals betonen: die Entscheidung wird nur über die Vertragswerke
als Ganzes getroffen werden können. Das liegt bei internationalen Vereinbarungen von solchem Umfang und bei der Vielzahl der Vertragspartner in der Natur der Sache. Die Fragestellung bei der endgültigen Beschlußfassung wird meines Erachtens folgende sein müssen: Gestatten diese Abmachungen die Erreichung der eingangs von mir skizzierten Ziele und bringen sie die Bundesrepublik ihnen näher, oder aber, meine Damen und Herren, gibt es einen anderen, einen besseren Weg, der diese Ziele schneller und sicherer erreichen läßt? Wenn man einen solchen anderen Weg nicht sieht und wenn die Prüfung ergibt, daß man auf dem mit diesen Verträgen eingeschlagenen Wege unseren Zielen näherkommt, dann muß man den Mut haben, diese Entscheidungen zu treffen und ja zu ihnen zu sagen!
Lassen Sie mich nunmehr einige Ausführungen über den Zusammenhang zwischen Deutschlandvertrag und EVG-Vertrag machen. Keine Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist möglich mit einem Staat, der unter Besatzungsstatut steht. Daher ist die Aufhebung des Besatzungsstatuts Voraussetzung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Umgekehrt gilt aber auch: Aufhebung des Besatzungsstatuts durch die Westmächte kann diesen vernünftigerweise bei der zwischen Ost und West nun einmal bestehenden Spannung nicht zugemutet werden; es kann ihnen nicht zugemutet werden, auf Rechtspositionen, die sich für sie aus der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands ergeben haben, zu verzichten, solange die Bundesrepublik sich nicht in den Westen eingliedert. Es besteht, meine Damen und Herren, ein innerer Zusammenhang zwischen den beiden Verträgen. Es handelt sich nicht etwa um eine äußere, künstlich konstruierte Verkoppelung. Man kann sie beide nur im Zusammenhang betrachten, nicht das eine bejahen und das andere ablehnen.
Lassen Sie mich hier einschieben, daß, wenn Deutschland und Frankreich zugestimmt haben, die Ratifizierung des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft durch die anderen Teilnehmerstaaten sich aber aus irgendwelchen Gründen zu lange hinausziehen sollte, zwischen den Teilnehmern des Deutschlandvertrages überlegt werden soll, welche Bestimmungen des Deutschlandvertrages schon vorzeitig in Kraft gesetzt werden sollen.
Um nicht zuviele und damit verwirrende Einzelheiten zu bringen, unterlasse ich es, alle Abmachungen einzeln aufzuzählen; sie sind ja in Ihren Händen. Ich werde mich damit begnügen, die wichtigsten Abmachungen und Bestimmungen hervorzuheben und zu erläutern.
Ich beginne bei meinen Darlegungen mit dem Deutschlandvertrag, weil er, wie ich eben schon ausführte, die Grundlage für die Schaffung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist.
Aus der Präambel des Deutschlandvertrages ist zunächst folgendes hervorzuheben. Es wird vereinbart, daß das gemeinsame Ziel der Unterzeichnerstaaten — also Englands, Frankreichs, der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland — ist, „die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage der Gleichberechtigung in die europäische Gemeinschaft zu integrieren". Weiter wird in der Präambel erklärt, „daß die Wiederherstellung eines völlig freien und vereinigten Deutschlands auf friedlichem Wege und die Herbeiführung einer frei vereinbarten friedensvertraglichen Regelung ... ein grundlegendes und gemeinsames Ziel der Unterzeichnerstaaten bleibt".
Im Art. 1 ist die grundlegende Bestimmung enthalten, daß die Bundesrepublik volle Macht über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten hat, vorbehaltlich der Bestimmungen des Vertrages.
Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, meine Damen und Herren, ergibt sich, daß im Zweifelsfall die Vermutung für die Souveränität der Bundesrepublik spricht.
Die Ausnahmen, die sogenannten Vorbehaltsrechte, sind im Art. 2 enthalten. In Art. 2 ist festgelegt, daß sich die Drei Mächte im Hinblick auf die internationale Lage die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte in bezug auf die Stationierung von Streitkräften in Deutschland und den Schutz von deren Sicherheit, auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands in einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten.
Der Vorbehalt dieser Rechte, meine Damen und Herren, liegt auch in unserem Interesse.
Der Hauptgrund dieses Vorbehaltsrechts ist, Sowjetrußland
nicht den Vorwand zu geben, bei seiner Politik gegenüber der Sowjetzone den Standpunkt einzunehmen, die Drei Mächte hätten sich ja selbst von allen vertraglichen Bindungen, die sie mit Sowjetrußland in bezug auf diese Fragen eingegangen seien, gelöst, daher sei auch Sowjetrußland völlig frei in der Verfügung über die Sowjetzone. Insbesondere das Vorbehaltsrecht bezüglich Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung geht davon aus, daß eine Wiedervereinigung nur im Wege der Verhandlungen — auch mit Sowjetrußland — möglich ist und daß sich daher die drei Mächte in unserem Interesse das Recht vorbehalten, in diesem Sinne — aber mit uns gemeinsam — mit Sowjetrußland zu verhandeln.
Im Art. 3 des Deutschlandvertrags ist die Aufnahme der Bundesrepublik in die UNO vorgesehen.
Der Art. 5 behandelt einen etwa auftretenden Notstand bezüglich der Sicherheit der im Bundesgebiet stationierten Streitkräfte.
Die Drei Mächte haben in einem solchen Fall nur dann die Möglichkeit, Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die Ordnung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen und die Sicherheit ihrer Streitkräfte zu gewährleisten, wenn die Bundesrepublik und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft außerstande sind, der Lage Herr zu werden.
Die Ziffer 6 des Art. 5 gibt der Bundesrepublik das Recht, den Rat der Nordatlantikpakt-Organisation zu ersuchen, die Lage zu überprüfen und
zu erwägen, ob der Notstand beendet werden soll. Wenn der Rat zu dem Ergebnis kommt, daß die Aufrechterhaltung des Notstands nicht länger gerechtfertigt ist, so haben die Drei Mächte den Normalzustand so schnell wie möglich wiederherzustellen.
Dieser Notstandsartikel gibt den Drei Mächten nicht das Recht, die volle Gewalt wieder an sich zu nehmen, wie sie das nach dem Besatzungsstatut getan haben. Er schafft weiter eine Instanz zur Nachprüfung der etwa getroffenen Maßnahmen mit dem Ziel, den Normalzustand wiederherzustellen.
Der Art. 6 dient dem besonderen Schutze Berlins.
Der Art. 7 ist von so großer Bedeutung, daß ich ihn wenigstens teilweise wörtlich vorlesen möchte: Die Bundesrepublik
— so heißt es —
und die Drei Mächte sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll.
Sie sind weiterhin darüber einig, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß.
Bis zum Abschluß der friedensvertraglichen Regelung werden die Bundesrepublik und die Drei Mächte zusammenwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung ähnlich wie die Bundesrepublik besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist.
Im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands . . . werden die Drei Mächte die Rechte, welche der Bundesrepublik auf Grund dieses Vertrages und der Zusatzverträge zustehen, auf ein wiedervereinigtes Deutschland erstrecken und werden ihrerseits darin einwilligen, daß die Rechte auf Grund der Verträge über die Bildung einer integrierten europäischen Gemeinschaft in gleicher Weise erstreckt werden, wenn ein wiedervereinigtes Deutschland die Verpflichtungen der Bundesrepublik gegenüber den Drei Mächten oder einer von ihnen auf Grund der genannten Verträge übernimmt.
Meine Damen und Herren, ich bitte, daraus zu entnehmen, daß das wiedervereinigte Deutschland die Freiheit hat, sich entscheiden, was es tut.