Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist offenbar unvermeidlich, daß hier bei einer solchen Gelegenheit lange und vor allen Dingen laute Reden gehalten werden, von denen einige den Charakter von Deklamationen haben, obwohl es doch um eine sehr nüchterne Angelegenheit geht, um Tatsachen, die genau umschrieben sind. Aber abgesehen von der Zeit, die das kostet, und abgesehen von der Zumutung, die das an die Geduld aller Zuhörer stellt, ist es wahrscheinlich immer noch besser als die Ruhe eines Kirchhofes, wie sie überall da herrscht, wo es kein Parlament und kein solches Verfahren gibt.
Es ist eine Reihe von Bemerkungen gemacht worden, auf die ich nur mit einem Satz eingehen will, um den Rest meiner Zeit auf die Auseinandersetzung mit ein paar Behauptungen zu verwenden, die mir das wert zu sein scheinen.
Zunächst mal eins: Die Beratungen über den Lastenausgleich scheinen mir die allerschlechteste Gelegenheit zu einer Geschichtsklitterung zu sein, um nicht zu sagen einer Geschichtsfälschung. Es kann doch gar kein Zweifel darüber sein, daß die Ursache des Elends, mit dem wir uns hier auseinanderzusetzen haben, da liegt, wo die Nazis und alle, die so dumm oder so schlecht waren, mit ihnen mitzuhalten, zu schreien anfingen, wir seien ein Volk ohne Raum, und das s o lange, bis wir wirklich ein Volk ohne Raum geworden sind.
Wer nicht imstande ist und nicht den Mut oder die Intelligenz hat, das einzusehen, der schneidet uns den Weg ab, aus den Fehlern unserer Geschichte etwas zu lernen. Das ist das größte Verbrechen, das man am eigenen Volke begehen kann.
In der gleichen Preislage bewegen sich diejenigen, die uns hier immer wieder das finnische Beispiel vor Augen halten zu können glauben. Die möchten doch wenigstens das eine von denen lernen, die in Finnland gewesen sind: darüber nicht mehr zu reden. Es hat sich nämlich bei der Lokalbesichtigung herausgestellt, daß davon keine Rede sein kann, die Finnen hätten das gleiche Problem schon gelöst, das wir noch nicht gelöst haben. Wer wirklich weiß, worum es sich da handelt, weiß auch, daß sich das eine mit dem andern nicht vergleichen läßt. Und man muß uns dann schon bessere Vorschläge machen, als immer wieder um das finnische Vorbild herumzureden. Das mag sich in Versammlungen gut machen. Aber wenn man die Tatsache kennt, kann man sich damit höchstens blamieren.
Eine andere Angelegenheit. Ich habe jedenfalls nicht gesagt, das, was am letzten Sonntag und bei einigen anderen Gelegenheiten an Demonstrationen passiert ist, sei mit der bitteren abweisenden Kritik erledigt, das sei so die Stimme der Straße. Nein, meine Damen und Herren! Es wird auf der Straße mitunter ganz was Gescheites geredet, und schon deshalb würde ich das nicht sagen. Meine Kritik an solchen Veranstaltungen richtet sich nicht gegen die Teilnehmer, sondern gegen die Veranstalter. Ich bin mit Herrn Kather nur in einem einig: tatsächlich ist mit den Vokabeln, mit denen da herumgeworfen worden ist, dem Problem nicht zu Leibe zu rücken. Ich möchte mir wahrlich nicht die Bemerkung zu eigen machen, mit der der Herr Bundesfinanzminister dort aufgewartet hat. Aber mir scheint die Replik, die wir heute darauf gehört haben, daß dort nur ein Mann mit einem guten Anzug gewesen sei, der aus der grauen Masse hervorgestochen habe, mindestens nur von gleicher Überzeugungskraft zu sein.
Nun zu ein paar Dingen, die wahrscheinlich wichtiger sind. Wenn hier der Appell losgelassen wird, man möge doch dieses schwerwiegende Problem rein sachlich behandeln, dann steckt dahinter im Grunde doch immer der Wunsch, das Problem aus den Zusammenhängen herauszulösen. Aus den Zusammenhängen kann es aber nicht herausgelöst werden, und diejenigen, die imstande sind, politische Argumentationen von Demagogie oder reiner Propaganda zu unterscheiden, werden meinem Freund Ollenhauer nicht den Vorwurf machen können, daß er zu diesem Thema nicht sachlich geredet hat.
Auf der andern Seite mußte sich manch einer sagen lassen, daß die vielen, vielen schönen Worte, die hier gefallen sind, mit dem Thema Lastenausgleich wahrhaftig nichts zu tun haben.
Dann würde ich dringend empfehlen, nicht immer mit der sozialen Marktwirtschaft als positivem Beweis zu operieren. Denn das, was aus dieser sozialen Marktwirtschaft am meisten ins Auge fällt und was den Beifall derjenigen am meisten heraufbeschwört, die an dieser Marktwirtschaft am meisten profitieren, ist gerade das, was den Vertriebenen und den übrigen Kriegssachgeschädigten mit besonderem Nachdruck unter die Nase reibt, wie sehr sie hinten heruntergerutscht sind. Man soll sich nicht nur über die vielen Arbeitsplätze freuen, die gewonnen worden sind. Das ist sehr viel. Ob das von der Leistung der Regierung abhängt, wollen wir im Augenblick nicht diskutieren. Manche Leute haben ja die Neigung, sogar die Tatsache, daß es im Sommer wärmer ist als im Winter, dem Bundeswirtschaftsminister, der die Kohlen zu verteilen hat, zuzuschieben.
Wir haben das auch von ihm selber schon einmal gehört.
Also vertiefen wir das bitte nicht und verlassen wir nicht den Rahmen, um den es sich handelt, sondern machen wir es, wie es Herr Kollege Kunze vorgeschlagen hat, Punkt für Punkt. Ich würde zunächst einmal dringend vorschlagen, daß wir alle miteinander aufhören, diese Rechenkunststückchen mit der Gesamtbilanz zu machen, diese 60 Milliarden da herumzuschieben und dann zu sagen: Diese 600 Millionen, die von uns — den besonderen Trägern des Gerechtigkeitsprinzips — reserviert worden sind, spielen dabei gar keine Rolle. Wir wissen doch alle miteinander, daß es sich gar nicht um die 60 Milliarden und um die Gesamtbilanz handelt, sondern das es sich nur um das handelt, was in den nächsten Jahren zu erwarten ist, und um den Einsatz dieses Aufkommens in den nächsten Jahren für die Aufgaben, die in den nächsten Jahren vordringlich sind. Und da sage ich Ihnen noch einmal: nicht im Laufe der 30 Jahre und nicht bezogen auf die 60 Milliarden sind diese Sonderleistungen, die über den Regierungsentwurf hinausgehen, für die berühmten 50 000 Menschen — das sind ja Zahlen, die Sie genau so gut kennen wie ich — so aufregend. Sie sind deshalb aufregend, weil — ich wiederhole mich hier — die größten Schäden am schnellsten festgestellt werden und weil die von Ihnen in dieses Gesetz hineingeschriebenen Rechtsansprüche dann gerade von den Leuten mit besonderem Nachdruck geltend gemacht werden. Das wird sich nicht auf 30 Jahre verteilen, das wird Ihnen viel schneller über den Hals kommen. Das wird Ihnen viel schneller präsentiert werden, als es Ihnen, Herr Kunze, selber lieb ist. Darum unser Bemühen, das Verfahren zu ändern und diese Gefahr zu beseitigen.
Ich habe auch nicht recht verstehen können, warum Sie gesagt haben, wir seien uns doch einmal darin einig gewesen, daß der Regierungsentwurf in der Angelegenheit der Hauptentschädigung unzweckmäßig sei, und nun seien wir auf den Regierungsentwurf zurückgefallen. Herr Kunze, wir waren uns darüber einig, daß das kein vernünftiger Vorschlag war, alle aus ganz verschiedenen Motiven. Den einen war es nicht genug, weil sie sich auch zugunsten der 50 000 noch für das Prinzip der Gerechtigkeit einsetzen wollten. Uns waren die 15 Schadensgruppen zuviel, weil es ein zu umständliches Verfahren ist. Wenn wir Ihnen jetzt vorschlagen, auf den Regierungsentwurf zurückzugehen, dann ist das von uns ein Kompromißangebot, und — ich habe es Ihnen vorhin zugerufen — es wäre vielleicht schön, wenn Sie sich auch darauf zurückziehen könnten. Dann wäre das mindestens noch ein erträgliches Übel. Dann könnte man die Auswirkungen davon noch einigermaßen übersehen, während Sie überhaupt nichts mehr übersehen können, wenn Sie hier, sowohl bei der Anrechnung der erlittenen Kriegsschäden bei erhalten gebliebenem Vermögen wie auch bei der Regulierung von Schäden in Form einer Hauptentschädigung, alle Grenzen fallenlassen. Also, bitte, wollen wir doch die Dinge nicht so darstellen, als wären wir zunächst einer Meinung gewesen und als wären wir zurückgefallen. Wir möchten Ihnen nur entgegenkommen und hoffen, daß sich das hier auszahlt.
Ich habe alles Verständnis dafür, daß man stolz darauf ist, wenn in irgendeinem deutschen Parlament einmal so ein Werk wie das BGB gemacht worden ist. Ich glaube allerdings nicht, daß das eine Entschuldigung dafür ist, daß der Lastenausgleich so lange gedauert hat. Denn die unterschiedliche Bedeutung liegt nicht in der Zahl der Paragraphen, sondern in der Materie, um die es sich handelt; und s o kompliziert ist der Lastenausgleich nun auch wieder nicht wie die Regelung der Fragen, die im BGB geregelt werden, Herr Kollege Kunze.
— Sehr kompliziert, aber doch nicht s o kompliziert, Frau Kollegin Weber! Wir haben es ja immerhin verstanden; und ich glaube nicht, daß jeder das vom BGB für sich in Anspruch nehmen kann.
— Na ja, Sie können vielleicht beides! Mir reicht der Lastenausgleich, muß ich sagen.
Man fordert uns immer wieder auf, nachdem es so lange gedauert hat, es doch mit der Richtigkeit nicht mehr so genau zu nehmen und uns dafür mit der Fixigkeit zu trösten.
Meine Damen und Herren, diese Fixigkeit ist mehr eine Fixigkeit des schlechten Gewissens. Man will die Sache losschaffen, und wir werden über Novellen aus diesem Hause heraus, das ist meine Überzeugung, ganz sicher nicht mehr reden, es sei denn, daß rechtzeitig vor dem nächsten Wahlkampf solche Gesetzentwürfe eingereicht werden, mit denen man dann draußen das sehr üble Spiel der Versprechungen, der Verheißungen und im Grunde doch nur der Täuschungen fortsetzt, das sich durch soundso viel Wahlkämpfe ja schon dahin ausgewirkt hat, daß in die Parlamente Mehrheiten gekommen sind, die für sich nicht in Anspruch nehmen können, auch die Mehrheit der Bevölkerung zu vertreten, sondern die eine Minderheit vertreten.
Deswegen, meine Damen und Herren, mag es zu den Spielregeln der Demokratie zweifellos gehören, daß die Mehrheit — —
— Ja, das sage ich auch: die armen Wähler! Was
die sich so zusammengewählt haben, Herr Schütz!
Davon haben wir ja heute hier wieder einige Kostproben gehabt, wer sich alles darauf berufen kann, gewählt zu werden. Wenn die Leute zugleich auch die Argumente sagen würden, die sie damals vorgetragen haben und auf Grund deren sie gewählt worden sind, und wenn man sie mit ihrem hiesigen Verhalten dann daran messen könnte, dann wäre es vielleicht noch lehrreich für die Wähler.
Ich möchte zu Ende kommen, denn wir werden im Laufe der Debatte ja noch einige Anträge zu begründen haben, und ich möchte nicht alles hier vorwegnehmen. Nur noch soviel:
Herr Kollege Farke, es war gar nicht nötig, daß Sie wie ein Löwe um den Hausrat kämpfen mußten. Die Hausratentschädigung stand schon im Gesetz drin. Ich bin Ihnen nur dankbar, daß Sie nicht widersprochen haben, als meine Freunde den Vorschlag machten, die von der Mehrheit schon gewählte Regelung abzukürzen und ein Verfahren zu wählen, das einer größeren Zahl von Geschädigten einen größeren Haushaltsschadenersatz gibt, als es noch vorher in der zweiten Beratung vorgesehen war. Dafür sind wir dankbar, und das erkennen wir gern an. Wir möchten uns auch in Zukunft, wie gesagt, bemühen, derartige Verbesserungen noch in letzter Minute durchzusetzen.
Eines möchte ich Ihnen noch als Warnung bzw. als Erinnerung sagen: Seien wir nicht zu stolz darauf und berufen wir uns nicht so viel — und vor allen Dingen nicht von allen Seiten — darauf, daß wir nun noch gemeinsam diese Rente geschaffen haben. Wenn es eine Bandaufnahme aus den Ausschußberatungen gäbe, dann würden auf diesem Band mehrere vorkommen, die es ausdrücklich bedauert haben, daß man in Frankfurt damals diese Tatsachen geschaffen hat, von denen man nicht wußte, wie man davon herunterkommen sollte.
Nun, meine Damen und Herren, lassen wir es dabei. Diese Rechtsansprüche sind keine bedauerlichen Tatsachen! Es ist sogar ausgezeichnet, daß wir es gemacht haben. Lassen Sie uns das als ein Stück wirklich guter und unter Beweis gestellter Gesinnung einen Grundsatz auch für die endgültigen Beratungen in diesem Hause sein: Versuchen Sie einmal, daß wir hier aus der gleichen mutigen Bereitschaft zum Schluß mit diesem Gesetz so fertig werden, wie wir in Frankfurt — einige von uns waren ja dabei — gerade in der letzten Lesung damit fertig geworden sind, ohne Rücksicht darauf, daß darüber Freundschaften — politische Freundschaften — in die Brüche gegangen sind, die wahrscheinlich auch sonst nicht sehr viel inneren Wert haben.