Rede von
Grete
Thiele
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(KPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (KPD)
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Frau Dr. Ilk hat sich durch ihre Rede zur Verteidigung der Jugendpolitik der Regierung, glaube ich, nicht in eine gute Lage gebracht; denn man konnte dieser Rede wohl das klassische Zitat voranstellen: „Ihr laßt den Armen schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein."
Man muß bei der Erörterung dieses Problems einmal untersuchen, aus welchen Ursachen heraus die Jugend in einem solchen Ausmaß straffällig geworden ist. Leider ist es mir im Rahmen der 5 Minuten Redezeit nicht möglich, ausführlich Stellung zu nehmen. Ich muß mich auf einige Fragen beschränken.
Die in dem Entwurf vorgesehene Unterstellung der Heranwachsenden unter das Reichsjugendgerichtsgesetz betrachten auch wir als einen Fortschritt gegenüber der Nazi-Gesetzgebung. Der Mangel liegt aber darin, daß bei der Ausübung verschiedener Funktionen die Jugendpflegeorganisationen und die Jugend selber ungenügend berücksichtigt worden sind. Das gilt auch z. B. in bezug auf den Bewährungshelfer, dessen Einschaltung beim Jugendrichter und bei verantwortlichen Organen in dem Entwurf vorgesehen ist. Wir sind der Auffassung, daß diese Funktion ohne Schwierigkeiten Jugendamtsausschüsse, Jugendorganisationen und Jugendpflegeorganisationen ausüben könnten. Damit wäre auch eine bessere Beratung und eine größere Hilfe für den jungen Menschen gewährleistet. Vor allem aber ist es notwendig, daß in der Jugendgerichtshilfe die Organisationen der Jugendpflege und der Jugend selber zur verantwortlichen Mitarbeit herangezogen werden.
In diesem Zusammenhang noch einige Bemerkungen darüber, welche Verhältnisse das Anwachsen der Kriminalität in einem solchen Maße verursachen. Ich möchte hier einen Bericht aus der „Welt" zitieren, worin gesagt wird, daß die Straffälligkeit der Jugend gegenüber 1933 um 87 % zugenommen hat, daß 64 419 Jugendliche unter achtzehn Jahren allein im Jahre 1950 vor Gericht gestanden haben und weitere 50 000 Jugendliche in Fürsorgeanstalten leben. Die meisten Menschen empfinden es bereits als eine Selbstverständlichkeit, wenn in den Zeitungen täglich Meldungen zu lesen sind, daß junge Menschen Raubüberfälle, Bandendiebstähle und solche Straftaten begehen. Das ist ein Zustand, mit dem sich der Bundestag und mit dem sich alle verantwortlichen Stellen und Organisationen sehr ernsthaft beschäftigen müssen. Wenn das geschieht, dann muß man sich Gedanken darüber machen, woher das kommt. Die Gründe liegen erstens in der Tatsache von Kriegen, zweitens in den Kriegsfolgen, drittens in den sozialen Verhältnissen und der Tatsache, daß keine ausreichende Hilfe zur Lösung des Jugendproblems da ist, viertens —
viertens und nicht zuletzt — und wir sind der Auffassung, daß das ein entscheidender Grund ist — in der amerikanischen Einfuhr von Gangsterfilmen, von Verbrecherfilmen, von allen diesen Literaturerzeugnissen, diesen Schunderzeugnissen, die dazu dienen, in der westdeutschen Jugend wieder den Trieb zum Verbrechen, zum Töten zu wecken, damit sie reif gemacht wird für die Selbstverständlichkeit des Kriegführens. Diese Dinge tragen wesentlich dazu bei, daß unsere jungen. Menschen auf einen solchen Weg gelangen. Die Lösung liegt
nicht in einem Schund- und Schmutzgesetz oder wie das heißen mag, sondern die Lösung liegt darin, daß der Bundestag, daß die Bundesregierung konsequent den Kampf gegen die Einfuhr solcher Erzeugnisse führen, konsequent auch dafür sich einsetzen, daß wertvolle Filme, wertvolle Literatur und wertvolle Erziehungsmöglichkeiten der Jugend gegeben werden.
Darüber hinaus ist es auch notwendig, daß der Strafvollzug endlich auf einer fortschrittlichen und wirklich humanen Basis aufgebaut wird,
damit nicht die Strafe die jungen Menschen noch weiter in die Kriminalität hineinführt.
— Ich werde bei der zweiten Lesung auf diese Dinge zurückkommen und Ihnen einiges erzählen, wie in der Deutschen Demokratischen Republik der Strafvollzug an jungen Menschen
in einer fortschrittlichen, wirklich humanen Weise geführt wird.
Zum Schluß möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhang noch etwas sagen. Es ist auch notwendig, daß endlich Schluß gemacht wird mit der Praxis eines Herrn Dr. Lehr, daß junge Menschen, so z. B. die, die auf Helgoland die Fahne für Deutschland gehißt haben,
ohne Recht und Gesetz verhaftet und wochenlang in Gefängnissen behalten werden. Das ist die alte Nazipraxis, unter der wir ebenfalls als junge Menschen zu leiden hatten.