Rede von
Dr.
Richard
Hammer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Meine Damen und Herren! Die sogenannte Studienkommission, die der Herr Kollege Renner vorhin „die hohle Hand" genannt hat, hat in der Sozialgeschichte Europas in den letzten Jahrzehnten einige Vorgänger gehabt. Gestatten Sie mir, an die schwedische Vorgängerin dieser Kommission kurz zu erinnern. Sie hat im Jahre 1949 ein Résultat herausgebracht, das Sie interessieren dürfte, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei. Darin steht nämlich, daß ein solches Unternehmen, eine so umfassende Fürsorge und Versorgung der gesamten Bevölkerung nur auf kommunaler Ebene gelöst werden könne. Und als vor einigen Tagen Ihr Parteifreund Zinnkann aus London zurückkam und in Hessen in Versammlungen auftrat, da berichtete er über seine Erlebnisse in Großbritannien und traf dabei eine ganz interessante Feststellung. Er sagte, dieses System komme doch für uns nicht in Frage,
denn das bedeute ja das Ende unserer Versicherungsträger. Ich bitte doch einmal zu überlegen und in Ihrer Partei Umfragen anzustellen, Herr Professor Preller, ob die Konsequenz, die zum Ende unserer Ortskrankenkassen führen würde, eigentlich die Konsequenz ist, die im Zuge Ihrer Parteipolitik liegt.
Die schwedische Kommission hat 1949, als diese Resultate bekanntgegeben wurden, gerade zehn Jahre bestanden. Ich glaube, sie lebt jetzt noch; dann wäre sie im 14. Lebensjahr. Kommissionen haben eine merkwürdige Fähigkeit, sich zu erhalten. Sie pflegen zu reisen, sie pflegen außerordenliche Diäten und Unkosten zu verursachen. Ich kann mir vorstellen, daß diese Kommission wenigstens zu Herrn Melas nach Wien, wahrscheinlich aber auch nach Neuseeland fahren würde, und unser Etat würde reizend aussehen, wenn wir uns auf ewig einen derartigen Kostgänger zulegten.
Und im übrigen was für einen Kostgänger! Eine Studienkommission mit objektiven Aufgaben! Diese wunderbare Idee der voraussetzungslosen Wissenschaft — und dann nach dem d'Hondtschen System gewählt —, ist das nicht überhaupt ein Witz, der in die Faschingszeit hineinpaßt?
Ich habe nicht die Absicht, das zu wiederholen, was in so vorzüglicher Form zur Frage des Versicherungsgedankens von meinen Freunden in der Koalition hier vorgetragen worden ist. Nur eine Bemerkung. Der Herr Kollege Preller hat vorhin davon geredet, daß man demjenigen, der Fürsorgeleistungen empfange, auch ein Recht darauf geben solle. Meine Damen und Herren, mit keiner positivistischen Gesetzgebung können Sie jemals das Rechtsempfinden der Menschen ändern. Das menschliche Gewissen bewertet nun einmal die Gegenleistungen, die man auf Grund eigener Leistungen von anderen zu beanspruchen hat, als wertvoller als die Fürsorgeleistung. Wenn sie tausendmal in einem Gesetz verankert ist, sie wird immer Almosen bleiben.
Zu dem materiellen Inhalt der Dinge, zu dem, was wir uns von dieser Kommission, die beim Arbeitsministerium gebildet werden soll, versprechen, einige Vorstellungen und einige Wünsche: Ich bitte Sie, an den § 1250 der Reichsversicherungsordnung zu denken. Darin steht:
Regelleistungen sind Renten, Beitragserstattungen und Heilverfahren.
Wir wünschten, daß dieser neue Rat uns sehr bald Vorschläge macht, in welcher Form zu diesen alten klassischen Regelleistungen noch andere kommen, nämlich der Anspruch des Versicherten auf die Erstattung der Kosten, die zu seiner Umschulung gehören. Die Umschulung, die die Rente erspart, kann nie teuer genug bezahlt werden. Nicht allein der finanziellen Vergleiche halber! Die Rente hat eine merkwürdige Eigentümlichkeit. Wir gewähren sie, um zu helfen, nach formellen Pflichten und nach menschlichen Pflichten des Staatsbürgers. Aber wir teilen sehr oft ein merkwürdiges Geschenk aus, eine Frucht, die süß schmeckt und nahrhaft ist und die hinterher Durchfall macht. Vielleicht ist es Ihnen klar, was eine Rente bedeutet, wenn Sie einmal nachprüfen, in welchem Dauerzustand sich der Bezieher einer Teilrente befindet. Er bekommt
seine Rente für einen ganz bestimmten Funktionsausfall und ist gezwungen, wenn er diese Rente weiterbeziehen will, diesen Funktionsausfall ständig nachzuweisen. Er wird gezwungen, das Bild der Krankheit immer wieder vorzuführen, es sei denn, daß er bereit ist, auf die Rente zu verzichten.
Er braucht den Krankenschein in jedem Vierteljahr,
um den Beweis zu führen. Er braucht den „Zugeteiltenschein", und der Beamte, der seine 25 %ige Beschädigung immer nachweisen will, braucht alle Vierteljahr die Krankmeldung, um immer wieder den Beweis seiner geminderten Dienstfähigkeit geführt zu haben.
In jeder Rente liegt eine unerhörte Verführung und Verlockung. Wenn wir einem Menschen auch mit dem Aufwand weit größerer Geldmittel einen Ersatz für Rente geben können, so sollten wir ihm trotzdem diesen Ersatz geben. Es ist eine bessere und ehrlichere Entschädigung für den Anspruch, den der Betreffende erworben hat.
Vor einigen Tagen — ich glaube, es war am 14. Februar stand in einer süddeutschen Tageszeitung, im „Mannheimer Morgen" folgende kleine Notiz, die ich mir herausgeschnitten habe:
Würzburg. In der Gemeinde Bernreuth wurden im letzten Jahr 50 Geburten registriert. 17
davon waren unehelich. Die Eltern dieser
außerehelichen Kinder wollen nicht heiraten,
da sich sonst ihr Einkommen aus Unterstützungen oder Renten wesentlich verringert.
Aus dieser Meldung können Sie ablesen, daß eine Rente, die gewährt wird, um zu helfen, Schaden bringen kann. Der Schaden ist hier ganz einfach zu definieren: die Vorteile der Rentengewährung oder der drohende Entzug der Rente hat diese armen Frauen in eine merkwürdige Situation gebracht, hat sie so weit getrieben, daß sie auf eine der segensreichsten Ordnungsformen unseres Daseins, nämlich auf die Ehe, Verzicht geleistet haben, zweifellos nicht freiwillig und nicht mit Begeisterung.
Wir wünschen also, daß in den Überlegungen zur kommenden Reform der Sozialversicherung das Problem der Familie angefaßt wird. Wir möchten den Familienlastenausgleich, weil wir überzeugt sind, daß jede Leistung, die von Vater zu Kind oder von Kind zu Mutter gegeben wird, eine bessere und eine echtere Leistung, eine höherstehende Leistung ist als irgendeine Leistung, die von einem Institut oder einer Versicherungsanstalt jemals gewährt werden wird.
Es ist immer wieder darauf hinzuweisen, daß alle Vorteile unserer Sozialversicherung — die gar nicht abgestritten werden — mit einem entsetzlichen Preis zu bezahlen sind. Darf ich Ihnen das an einem kleinen Beispiel klarmachen. Wenn ich jetzt den Krankenschein erwähne, so habe ich nicht die Absicht, über ihn zu sprechen, weil er ein in Deutschland im Umlauf befindliches entwertetes Zahlungsmittel ist. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit nur darauf lenken, daß auf diesem Krankenschein eine bestimmte Rubrik: „Diagnose — Krankheitsangabe — bitte auf deutsch — vorgedruckt ist. Da muß nach unserer Rechtslage in Deutschland hingeschrieben *erden: Schwindsucht, Schweißfuß, Säuferwahnsinn, Syphilis, Krebs und Krätze. Die persönlichsten Nachrichten über jene unglücklichen Kranken geraten nun in die Mühle der Bürokratie, angefangen von den Angestellten der kassenärztlichen Vereinigungen, endlose Bürokratensäle durchlaufend, Dinge, die einmal persönlichstes menschliches Geheimnis waren. Das ist einer der Preise, die für die soziale Sicherheit gezahlt werden.
Sie möchten mir sagen, auch die Angestellten der Sozialversicherung stehen unter der Schweigepflicht. Gewiß! Aber das gilt nur zu 25 %. Erstens kann man die Verwirklichung einer Schweigepflicht in bezug auf Notizen, die ganze Büroräume mit Dutzenden von Angestellten durchlaufen, über- hauet nicht mehr erzwingen. Ist es zweitens nicht sehr interessant: wenn ein Angestellter einer Krankenkasse oder einer kassenärztlichen Vereinigung die Schweigepflicht verletzt, wird er mit drei Monaten Gefängnis bestraft, der Arzt dagegen mit zwölf Monaten? Also hier ist der Wert des Geheimnisses nur noch 25 % von dem, den es sonst hat. Auch hier erleben Sie wieder die Verwirklichung des Gesetzes, nach dem eben Leistungen, die von Versicherungsträgern gewährt werden, Leistungen in einfachster Ausführung sind. Der Herr Arbeitsminister braucht keine Angst zu haben, daß ich ihm Vorschläge mache, diese Angabe der Diagnose über Nacht zu verbieten. Aber auch das muß einmal kommen; die Sozialversicherung der westlichen Länder respektiert ja auch die Schweigepflicht.
Versicherte werden immer Leute sein. die mit einem minderen Recht dastehen. Wir sollten uns hüten, ohne dringenden Grund irgend jemand in diese Lage zu bringen. Wir sollten uns überlegen, mit welcher Steigerung des Hilfeleistungseffekts wir an unserer Sozialversicherung Änderungen vornehmen können. Wir sollten aber nicht versuchen, endlos weiter diesen Traum eines organisatorischen Perfektionismus zu träumen, fasziniert an jede bürokratische Zusammenballung dieser Apparate zu denken. Es droht uns wahrscheinlich etwas Entsetzliches. Nicht nur Sie, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, sind von dieser Verführung bedroht; wir Politiker kennen ja alle miteinander die Versuchung, die darin liegt, organisatorisch neue Einheiten und bürokratische Überspitzungen zu schaffen.
Ich darf Sie zum Abschluß daran erinnern, wie einer unserer größten deutschen Politiker die Gefahr gesehen hat, die aus dieser organisatorischen Überentwicklung entsteht. Vor etwa 42 Jahren hat in einem Aufsatz zur Religionssoziologie Max Weber folgende drei Sätze geschrieben:
Niemand weiß, ob am Ende dieser Entwicklung stehen wird: mechanisierte Versteinerung mit einer Art krampfhaftem Sich-wichtigNehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für das Wort zur Wahrheit werden: „Fachmenschen die „letzten Menschen" dieser Kulturepoche ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: Dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben."