Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Frage der Neugestaltung der sozialen Sicherheit der breiten Volksschichten ist eine Frage, die sofort nach der Beendigung des Krieges im Jahre 1945 an uns herangetreten ist. Damals war es der Kollege Richter mit einigen Freunden, die in Frankfurt eine neue Reichsversicherungsordnung aufgebaut haben und die sich damals in Wirklichkeit alle Mühe gaben, in das Dornengestrüpp unserer Sozialversicherung eine einfachere Ordnung zu bringen. Der Kollege Richter wird mir Recht geben, wenn ich ihm sage, daß er damals bei einem großen Teil der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter dafür gar kein Verständnis gefunden hat, vor allen Dingen bei den Bergleuten nicht, die nun einmal ihre besondere Sozialversicherung liebgewonnen haben und glauben, in ihr ein Instrument in den Händen zu haben, mit dem sie die besonderen Interessen der im Bergbau beschäftigten Menschen besser wahrnehmen können.
Wir haben dann im Jahre 1946 das Kontrollratsgesetz vor uns gehabt und hatten uns mit dieser Gesetzesvorlage zu beschäftigen, die von dem gesamten Kontrollrat ausgearbeitet war. Durch dieses Gesetz wollte man uns so etwas wie eine Einheitsversicherung in Deutschland geben, von oben herunter, von der Besatzungsmacht befohlen. Ich weiß, wie wir uns damals mil dieser Frage innerhalb der gewerkschaftlichen Organisationen und in Verbindung mit dem Sozialpolitischen Ausschuß des Zonenbeirats in Hamburg beschäftigt haben. Alle Probleme der Sozialversicherung waren aufgeworfen. Der Sozialpolitische Ausschuß des Zonenbeirats in Hamburg hat damals in seinem Gutachten ein sehr gutes Wort gesagt:
daß man nämlich eine wirkliche Neuordnung der Sozialversicherung erst dann vornehmen kann, wenn wir wieder den politischen und den wirtschaftlichen Boden unter den Füßen haben, um klar sagen zu können, was nun in Wirklichkeit aus dem Sozialprodukt für die Sozialversicherung entnommen werden kann. Damals war es der Deutsche Gewerkschaftsbund in der englischen Zone, der der amerikanischen und der englischen Besatzungsmacht ganz klar gesagt hat: Wenn diese Gesetzgebung über den Kontrollrat durchgeführt wird, werden wir in einem außerordentlichen Kongreß den deutschen Arbeitern sagen, was man mit ihnen vorhat. Daraufhin haben die Amerikaner und Engländer gesagt: Wenn es die Deutschen nicht wollen, dann wollen wir es ihnen auch nicht aufzwingen. So war damals die Situation.
Dann haben wir uns erneut in Frankfurt — Herr Kollege Richter war dabei — im Wirtschaftsrat mit der Problematik der Sozialversicherung beschäftigt. Damals hatten wir ein Sozialprodukt, das vielleicht bei 60 bis 70 % des normalen lag. Wir hatten nicht die Unterlage unter den Füßen, um in der Tat ein neues großes Gesetzeswerk schaffen zu können. Wir haben uns helfen müssen. Wir haben ein Übergangsgesetz geschaffen und waren uns darüber klar, daß man dann, wenn die wirtschaft-
liche Plattform breit und fest genug sei, an die Grundsätzlichkeit der ganzen Problematik herangehen müsse.
Selbstverständlich gibt es auf dem Gebiet der Sozialversicherung die verschiedensten Auffassungen, und man kann mit gutem Recht auf der einen oder auf der anderen Seite stehen. Das braucht absolut nicht dahin zu führen, daß der eine dem anderen Reaktionäres, der andere dem einen wieder Revolutionäres vorwirft. Gestern ist in diesem Hause bei einer anderen Gelegenheit ein gutes Wort gefallen, das lautete: Wir haben bei der Neugestaltung weniger die Form als vielmehr den zu betreuenden Menschen zu sehen.
Das scheint mir das Entscheidende zu sein.
Wenn man sich mit der Frage beschäftigt: Wie soll es nun werden? —, dann muß man die ungeheuren Schwierigkeiten sehen, die wir zu überwinden hatten, um überhaupt die größten Notstände überbrücken zu können; die sind Ihnen ja bekannt. Sie haben die großen Gesetze gemacht, durch welche wir den 4 Millionen kriegsbeschädigten Menschen eine Lebensbasis gegeben haben. Sie haben vor einigen Monaten das Gesetz über die Erhöhung der Renten beschlossen. Es waren ganz bestimmt keine kleinen Dinge, die damals herausgekommen sind, sondern hier haben wir vom Bund soziale Verpflichtungen übernommen, wie sie früher noch niemals von einem Parlament für den Staat zu beschließen waren.
Glauben Sie mir doch eines: die Menschen draußen sind nicht so, wie Herr Renner das hingestellt hat: eine Millionenmasse, die nur danach strebt, mehr zu bekommen. Nein, diese Leute wollen, soweit sie der Sozialversicherung angehören, soziale Gerechtigkeit.
Sie wollen für ihre eigene Beitragsleistung ein Äquivalent.
— Herr Kollege Renner, gehen Sie doch ruhig ins Ruhrgebiet und sprechen Sie einmal zu den alten Bergarbeitern. Die sagen Ihnen etwas ganz anderes, als Sie hier angeblich im Auftrag dieser Leute vortragen.
Diese Leute wissen, daß ihre Sozialversicherung ihren alten Kollegen eine Lebensbasis gibt, die weit über dem steht, was in dem Gebiet in Deutschland, wo Ihre Freunde herrschen, heute der Arbeiter in einer acht- oder zehnstündigen Arbeitszeit überhaupt verdienen kann.
Darum handelt es sich, meine verehrten Damen und Herren.
Deshalb müßten wir, wenn wir die Frage einer Studienkommission oder eines Beirats betrachten, uns immer wieder fragen: Dürfen wir das, was sich der Arbeitnehmer durch seine Beiträge und durch die Beiträge seines' Arbeitgebers als Rechtsansprüche erworben hat, in einer Studienkommission mit dem zusammenbringen, was der Staat an sozialen Verpflichtungen gegen diejenigen hat, die nicht für sich selbst sorgen konnten?
Man sollte auseinanderhalten, wo Rechtsansprüche auf Grund eigener Leistung gegeben sind und wo der Staat dem wirtschaftlich Schwachen, der sich nicht selbst helfen kann, staatliche Hilfe geben muß. Glauben Sie mir, wir haben im letzten Jahr in meinem Ministerium an der Frage der Neugestaltung und der finanziellen Sicherstellung unserer Sozialversicherung gearbeitet. Es ist Ihnen doch allen bekannt, welche Schwierigkeiten wir mit den Besatzungsmächten gehabt haben, um das in Berlin verwaltete Vermögen wieder in deutsche Hände zu bekommen. Sie wissen, was sich dort abgespielt hat.
Wenn wir heute die Frage zu prüfen haben, wie die kommende Sozialversicherung aussehen soll, dann sage ich Ihnen in aller Offenheit, daß wir natürlich als fortschrittliche Menschen unsere Sozialversicherung den Notwendigkeiten unserer Zeit anzupassen haben.
Aber auf keinen Fall darf man einem Phantom
nachjagen und nur sagen: Wenn man alles in einen
Pott gebracht hat, dann sind die Dinge erledigt.
Nein, unsere Menschen draußen wollen einfach in
einem Kreis ihre Sicherstellung finden, den sie
selbst übersehen können. Das ist das Entscheidende.
Deshalb sollte man sich über diese Problematik heute gar nicht allzusehr unterhalten — darin gebe ich dem Herrn Kollegen Richter recht —, sondern man sollte die Frage prüfen: Ist eine Studienkommission, wie sie von der Sozialdemokratischen Partei gefordert wird, oder ein Beirat das Richtige? Wir haben unsere Arbeit im Ministerium so eingestellt, daß wir in der zweiten Hälfte dieses Jahres die Gesetzesvorlage über die Neuordnung der Sozialversicherung vorlegen wollen. Dann aber ist es meines Erachtens unmöglich, daneben eine Studienkommission des Parlaments zu haben, die meiner Ansicht nach in einem halben Jahr noch nicht ein Drittel der Dinge durchgearbeitet haben kann, die durchgearbeitet werden müssen, wenn diese Kommission dem Parlament einen geeigneten Vorschlag machen will. Darauf kommt es doch letzten Endes an. Haben wir aber in unserem Ministerium einen Beirat, so können wir mit ihm einmal die uns noch gegebenen Grundlagen behandeln. Mit dem Beirat wäre allen Ernstes die Frage zu prüfen, ob sich die Sozialversicherung überhaupt an erster Stelle an den Staat oder an die Wirtschaft zu wenden hat. Wenn man darüber hinaus die Frage der organisatorischen Gestaltung mit den Leuten, die wirklich die besten Kenner unserer Sozialversicherung sein müssen, besprechen will, dann bin ich der Meinung, daß die Zusammenarbeit zwischen einem Beirat und dem zuständigen Ministerium viel schneller zu positiven Ergebnissen führt, als wenn man eine Studienkommission einsetzt.
Herr Professor Preller, Sie wissen doch genau so gut wie ich, daß man, als damals in England der Beveridge-Plan über die Bühne ging, von der großen Konzeption, die sich dort abzeichnete, in den verschiedensten Ländern sehr stark beeindruckt war. Man hat in der Schweiz eine Studienkommission eingesetzt, um die Frage zu prüfen, ob und in welcher Form man den Beveridge-Plan für die Schweiz übernehmen könnte. Genau dasselbe haben wir in Schweden gehabt, und wenn Sie heute
einmal die verantwortlichen Leute in diesen beiden Ländern fragen, dann sagen sie Ihnen, diese Studienkommissionen sind im Sande verlaufen.
— Sie sagen, das ist nicht wahr. Herr Professor Preller, Sie wissen, daß es wahr ist; denn Sie kennen den Stand der Sozialversicherung in der Schweiz und kennen den Stand der Sozialversicherung in Schweden wahrscheinlich genau so gut wie ich.
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, sollten wir bei unserer Arbeit schrittweise vorangehen. Wir sollten einem Beirat die Möglichkeit geben, in Verbindung mit dem Ministerium so schnell wie möglich, an einer Stelle anfangend, das ganze soziale Problem in Deutschland in eine neue Ordnung zu bringen. Ich bitte Sie daher, den einfacheren und zweckmäßigeren Weg zu gehen, und das ist der der Schaffung eines Beirates, der in engster Verbindung mit dem Ministerium bzw. mit der Regierung nachher Gesetzesvorlagen erarbeitet, die diesem Hohen Hause zur Verabschiedung vorgelegt werden können.