Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe zunächst den Auftrag, namens der Regierungsparteien den von uns eingebrachten Änderungsantrag zu dem Antrag der sozialdemokratischen Fraktion zu begründen. Des weiteren bin ich beauftragt, namens der Regierungsparteien einige grundsätzliche Erklärungen vorauszuschicken.
Herr Kollege Dr. Preller hat an mehreren Stellen seiner Darlegungen mit Recht betont, daß der Fragenkomplex, den wir heute hier erörtern, voller Problematik steckt und sowohl sozial als wirtschaftlich, aber auch politisch gesehen von allergrößter Bedeutung ist. Wir befinden uns in voller Übereinstimmung, wenn gesagt wird, daß. wir an die Erörterung dieser Probleme mit dem ganzen Ernst und mit der ganzen uns obliegenden Verantwortung herangehen müssen. Herr Dr. Preller hat in dem Schlußteil seiner Ausführungen u. a. auf die Annahme von internationalen Empfehlungen durch den Bundestag abgehoben; er hat auf die Vorschläge für Beschlüsse zu einem Übereinkommen über Mindestnormen zur sozialen Sicherung
abgehoben, wie sie im vergangenen Jahre von der Internationalen Arbeitskonferenz erarbeitet worden sind.
Ich möchte bei meinen knappen Darlegungen von der 103. Sitzung dieses Hohen Hauses am 16. November 1950 ausgehen, in der die Empfehlungen der Beratenden Versammlung des Europarates zur Diskussion gestanden haben, die diese Hohe Versammlung im Verlauf des ersten Teils ihrer Tagung von 1950 angenommen und den Parlamenten der beteiligten Länder zugeleitet hat. Der Bundestag hat damals in einer mit Mehrheit angenommenen Entschließung diese Empfehlungen begrüßt und sie als wichtige Beiträge zur Verwirklichung einer europäischen Föderation bezeichnet. Er hat der Bundesregierung empfohlen, die in ihrem Vermögen stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um die den Empfehlungen zugrunde liegenden Absichten unter Berücksichtigung der besonderen Lage der Bundesrepublik zu fördern.
Unter diesen Empfehlungen hat sich auch eine solche über die Schaffung einer europäischen Sozialversicherungsordnung befunden. Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten darf ich den Wortlaut dieser bedeutsamen Empfehlung in ihrem wesentlichen Teil in Ihr Gedächtnis zurückrufen. Die Beratende Versammlung des Europarates hat damals beschlossen:
1. Die Versammlung erklärt sich für die Schaffung einer europäischen Sozialversicherungsordnung, die nicht die Standardisierung der Sozialgesetzgebung in den verschiedenen Ländern bewirken, sondern in jedem Lande mit verschiedenartigen Methoden eine Erhöhung der sozialen Sicherheit bis zur Erreichung eines gleichmäßig hohen Niveaus in Übereinstimmung mit den im Anhang des vorliegenden Dokuments niedergelegten allgemeinen Grundsätzen anstreben soll.
2. Die Versammlung ist der Auffassung, daß diese Ordnung in der Form einer Konvention des Europarats in Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeitsorganisation ausgearbeitet werden soll, deren Unterlagen der gesamten Arbeit des Europarats auf diesem Gebiet zugrunde zu legen wären.
So weit das — nicht vollständige — Zitat aus dieser Empfehlung.
Die Regierungsparteien empfinden eine besondere Befriedigung darüber, daß sich diese Empfehlung ausdrücklich gegen eine Standardisierung in den verschiedenen Ländern ausspricht
und die auch von uns vertretene Meinung wiedergibt, daß eine Erhöhung der sozialen Sicherheit in den einzelnen Ländern mit verschiedenartigen, ich möchte sagen, ihnen angemessenen Methoden erstrebt werden soll.
Die internationale Arbeitskonferenz, von der vorhin die Rede war, hat, wie gesagt, Vorschläge für Mindestnormen ausgearbeitet. Es handelt sich zunächst nur um Vorschläge. Aber ich betone: wenn man den Leistungsgrad unserer deutschen Sozialversicherung wie unserer Sozialgesetzgebung überhaupt mit diesen Mindestnormen vergleicht, dann ist die Feststellung berechtigt, daß unsere in Jahrzehnten entwickelten sozialen Leistungen als mustergültig bezeichnet werden können.
Dabei ist selbstverständlich einzuräumen, daß wir das Maß des Erstrebenswerten in dieser oder jener Beziehung natürlich noch nicht erreicht haben. Eine kritische Beurteilung der sozialen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland muß, wenn sie ehrlich Und objektiv sein will, jedoch anerkennen, daß die Bundesregierung und dieser Bundestag im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten alles getan haben, um den begründeten Erfordernissen gerecht zu werden.
Daß uns auch in dieser Beziehung Schranken gesetzt sind, wird jeder vernünftige und verantwortungsbewußte Mensch einsehen müssen, sofern er einen Begriff davon hat, was die Abwicklung der uns vom Nationalsozialismus hinterlassenen furchtbaren Erbschaft bedeutet.
Meine Damen und Herren! Wir befinden uns seit 1945 in der konkreten Auseinandersetzung um die Neugestaltung unserer Sozialversicherung und darüber hinaus um die Fortentwicklung unserer Sozialgesetzgebung überhaupt. Erfahrungen, wie sie in diesen Jahren in dem Teil Deutschlands gemacht werden mußten und noch gemacht werden, in dem unsere Gesetze leider keine Geltung haben, und auch die Lösungen in verschiedenen europäischen Ländern, die man uns gelegentlich gern zur Nachahmung empfiehlt, können uns nicht veranlassen, einen solchen Weg zu gehen.
Die SPD — das hat Herr Kollege Dr. Preller vorhin im einzelnen erläutert — fordert ein fortschrittliches, klares System der sozialen Sicherung. Gemeint ist damit ein alle Staatsbürger umfassender Gesundheitsdienst, eine allumfassende Fürsorge oder Versorgung. Die Regierungsparteien bedauern, einen solchen Sozialplan wie in der Vergangenheit so auch jetzt und für die Zukunft ablehnen zu müssen.
Wir sehen dagegen nach wie vor in der bestehenden Sozialversicherung, die wieder zu einer echten Versicherung gestaltet werden muß, das geeignete Mittel, den sozial Schutzbedürftigen der Bevölkerung die nötige Versorgung im Falle der Krankheit, des Unfalls, der Invalidität und des Alters angedeihen zu lassen. Im Vordergrund steht für uns die Frage der finanziellen Sicherung, nicht zuletzt der Rentenversicherung. Hier wird eine wirkliche Sanierung und damit auch die Wiederherstellung einer echten Versicherungsbasis sehr wohl möglich sein. Darin, glaube ich, unterscheiden wir uns grundsätzlich von der Meinung, wie sie anderweit vielfach vertreten wird. Diese Sanierung wird sehr wohl möglich sein, allerdings unter der Voraussetzung, daß den Rentenversicherungsträgern seitens des Bundes ein angemessener Ersatz für die verlorengegangene Kapitalsubstanz eingeräumt wird.
In der Zusammenfassung aller bisherigen Träger der Sozialversicherung zu einem Einheitsträger sowie in der Ausdehnung des Kreises der Versicherungspflichtigen auf alle sehen wir keine brauchbaren Mittel für die Neugestaltung der Sozialversicherung.
Meine Damen und Herren, ich möchte das damit
ganz eindeutig gesagt haben. So verlockend auch
die Darlegungen des Herrn Dr. Preller sein mögen, wenn man die Dinge nur an der Oberfläche sieht, —
wir haben, glaube ich, in der Zwischenzeit genügend
Erfahrungen gesammelt dafür, daß diese Rezeptur
nicht zur Gesundung der Verhältnisse geführt hat.
Die Art des Versicherungsschutzes und der jeweils verschiedenartige Kreis der Schutzbedürftigen bedingen technisch und organisatorisch die Seibständigkeit der einzelnen sozialen Versicherungseinrichtungen. Damit will ich nachdrücklich sagen, daß diese Dinge nicht einfach etwa als technischorganisatorische Maßnahmen schlechthin bezeichnet werden können, vielmehr gehören sie grundsätzlich naturnotwendig zur Sache selber.
Die Krankenversicherung muß den Versicherten nahe sein. Wohl kaum eine Art der Sozialversicherung muß den versicherten Menschen so unmittelbar nahekommen wie gerade die Krankenversicherung.
Dies bedingt eine gesunde Dezentralisation und rechtfertigt ihre heute in der Reichsversicherungsordnung verankerte Gliederung.
In der Unfallversicherung hat sich die berufsständische Aufgliederung auf das beste bewährt und ist nach unserer Überzeugung beizubehalten. Die Tatsache, daß wir im Gesetz über die Wiederherstellung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung auch der Angestelltenversicherung eigene Selbstverwaltungsorgane zugestanden haben, ist gleichzeitig ein Bekenntnis dafür, daß wir diesen Versicherungsträger grundsätzlich beibehalten wissen möchten. Nach Auffassung der Regierungsparteien sind alle jene Bestrebungen abzulehnen, die auf eine weitere Vermassung und Entseelung des Volkes unter persönlicher Entrechtung des einzelnen hinauslaufen.
Das Ziel einer gesunden Sozialpolitik muß die. weitgehende Förderung der Selbständigkeit und der Selbstverantwortung des einzelnen Menschen sein.
Deshalb muß geprüft werden, inwieweit in der Sozialversicherung dem Prinzip der genossenschaftlichen Selbsthilfe noch mehr als bisher Geltung verschafft werden kann.
Daher darf auch der Versicherungsschutz außerhalb der Sozialversicherung nach freiem Entschluß nicht unmöglich gemacht werden.
Wenn ich im Anschluß hieran auch nicht auf zu viele Details eingehen will, so seien mir doch noch ein paar Einzelbemerkungen gestattet. Bei vielen Einzelfragen, die Herr Dr. Preller in seiner Begründungsrede angeführt hat, befinden sich die Regierungsparteien zweifellos in Übereinstimmung mit den Antragstellern. Es gibt eine Reihe von Dingen, die nur einheitlich beurteilt werden können. Worauf es bei der Neugestaltung und der Reform der Dinge auch sehr maßgeblich ankommt, ist — wenn ich einmal so sagen darf — die Entflechtung von vielerlei Bestimmungen, die in den vergangenen Jahren so ineinander und durcheinander gelaufen sind, daß sich heute in Wahrheit kaum
noch jemand hineinfindet. Deshalb muß .vor allen Dingen Bedacht darauf genommen werden, daß Überschneidungen von Versicherungsleistungen da, wo sie nicht gerechtfertigt sind, beseitigt werden. Allerdings glauben wir — wohl im Gegensatz zu den Antragstellern —, daß eine klare Abgrenzung von Versicherung, Versorgung und Fürsorge unter allen Umständen notwendig ist.
Wir befinden uns darin in Übereinstimmung mit den Antragstellern, daß — wie von ihnen gesagt worden ist — zur Lösung des Problems auch die Frage gehört, wie man die Sozialleistungempfänger, soweit sie arbeitsfähige Menschen sind, in stärkerem Maße als bisher in den Arbeitsprozeß einzugliedern in der Lage ist. Im Zuge einer Neuordnung muß also auch darauf Bedacht genommen werden, wie man zu vermehrten Arbeitsmöglichkeiten kommt.
Ich glaube, auch die Frage bedarf einer besonderen Prüfung, wie es mit einer stärkeren Mitwirkung der Sozialversicherung bei der Finanzierung des sozialen Wohnungsbaues bestellt ist, um auch über diesen Weg letztlich wieder zu vermehrten Arbeitsplätzen und zu stärkerem Arbeitseinsatz zu kommen.
Schließlich brauchen wir ganz ohne Frage eine leichter verständliche Neufassung unserer gesamten Sozialversicherungsgesetzgebung wie der Bestimmungen über die Sozialversicherungsleistungen überhaupt.
Ich würde in meinen Ausführungen unvollständig sein, wenn ich nicht noch erwähnte, daß in den Kranz der Aufgaben, vor denen wir stehen, selbstverständlich auch die alsbaldige Erledigung der Frage der Kinderbeihilfen bzw. der Schaffung von Familienausgleichskassen hineingehört.
Gerade mit der Erledigung dieser Frage, die ja bereits in mehreren Vorlagen dem Sozialpolitischen Ausschuß zur Bearbeitung überwiesen wurde, wird, wie ich glauben möchte, eine sehr erhebliche Lücke in dem System der sozialen Sicherung und der Sozialleistungen überhaupt geschlossen werden. Ich möchte dem Wunsche Ausdruck geben, daß es diesem Parlament in möglichst naher Zukunft vergönnt sein möge, diese Frage in einer vernünftigen und im Maße des Möglichen großzügigen Art und Weise zu regeln.
Nun ein paar Gedanken zu unserem Änderungsantrag selber. Wenn wir geglaubt haben, dem Antrag der sozialdemokratischen Fraktion nicht zustimmen zu können, so — das will ich als ersten Grund anführen — in gewisser Hinsicht aus verfassungsrechtlichen Bedenken. Wir sind der Meinung, daß sich die Bildung derartiger Studienausschüsse oder Sachverständigenkommissionen mit den Artikeln 43 und 44 des Grundgesetzes wie mit dem Grundgesetz überhaupt eigentlich nicht in Übereinstimmung bringen läßt. Wir sehen im Rahmen des Grundgesetzes keine klare Möglichkeit dafür, abweichend von den sonstigen Regelungen, die das Parlament hinsichtlich der Ausschüsse zu treffen berechtigt ist, auch noch derartige Studienkommissionen — als ausgesprochene Einrichtungen und Auftragsangelegenheiten dieses Parlaments — zu bilden.
Darüber hinaus sind wir aber auch der Meinung, daß wir die Bundesregierung in dieser Beziehung nicht aus der Verantwortung entlassen sollten, die gerade ihr in erster Linie bei der Prüfung der Lösungsmöglichkeiten für eine vernünftige Neu-
ordnung obliegt. Wir meinen, daß deshalb das zuständige Ressortministerium, das Bundesarbeitsministerium, die federführende und in erster Linie verantwortliche Stelle für die Durchprüfung dieser großen und schwierigen Problematik sein muß. Auf dieser Grundlage baut unser Änderungsantrag auf. Wir wollen den Herrn Bundesarbeitsminister beauftragen, bei seinem Ministerium einen aus 15 Personen bestehenden Beirat zu berufen, dessen Mitglieder mit besonderer Erfahrung auf diesem genannten Gebiet ausgerüstet sein müssen. Selbstverständlich wird der Herr Bundesarbeitsminister, wie ich überzeugt bin, es vermeiden, diesen Beirat etwa in unzulässig einseitiger Weise zusammenzusetzen. Er wird Bedacht darauf nehmen müssen — und wird das sicherlich tun —, daß in dem Beirat alle Auffassungen, die über die künftige Neuregelung dieser Dinge innerhalb unserer Bundesrepublik vorhanden sind, auch ihren Niederschlag finden, so daß damit Gelegenheit gegeben ist, auch diese grundsätzlichen, auch auseinandergehenden Meinungen innerhalb des Beirats gründlich zu erörtern und zu studieren. Unserem Antrag liegt nicht etwa die Absicht zugrunde, einen Beirat zu bilden, der je nach Belieben des Herrn Bundesarbeitsministers irgendwann einmal einberufen wird. Auch wir, die Antragsteller, sind davon ausgegangen, daß diesem Beirat der ganz konkrete Auftrag gegeben werden muß, in eine unverzügliche Durchprüfung dieses umfassenden Gebietes einzutreten. Der Beirat soll, auch wenn er unter der Federführung, unter dem Vorsitz des Bundesarbeitsministers steht, doch in der Art und der Möglichkeit der gründlichen Arbeit auch eine gewisse eigene Zuständigkeit haben.
Was wir dabei geprüft wissen wollen, geht aus dem Antrag selber hervor: in erster Linie die finanziellen Sicherungsmöglichkeiten für unsere bestehende Gesetzgebung selbst. Wir sind nicht etwa der reaktionären Meinung, daß alles so bleiben müsse, wie es seit ehedem ist.
Im Grundsatz möchten wir, wenn der Ausdruck in dem Zusammenhang noch einmal gebraucht werden darf, an der sogenannten klassischen Sozialversicherung als der Grundlage selbstverständlich festhalten. Daß aber die Neugestaltung auch in der Richtung einer fortschrittlichen Entwicklung, einer Anpassung an aus den Zeiterfordernissen gegebene Notwendigkeiten zu erfolgen hat, ohne dabei das Grundprinzip zu verletzen, das, meine Damen und Herren, ist unsere feste Überzeugung; auch im Hinblick auf die Notwendigkeit und die Aufgabe dieses Beirats und auf die Erfordernisse, die eine künftige Gesetzgebung erfüllen soll.
Damit möchte ich meine Darlegungen beschließen. Ich darf die beiden Hauptgründe, die ich angeführt habe, noch einmal hervorheben. Wir haben unseren Antrag gestellt einmal, um jeder Gefahr aus dem Wege zu gehen, daß wir etwa mit dem Grundgesetz auch nur am Rande in Kollision kommen könnten, und zum zweiten aus der Erkenntnis heraus, daß die initiative Verantwortung und die Verantwortung für der Federführung bei der Bundesregierung verbleiben soll, daß ihr aber in diesen 15 Sachverständigen und in den Sachverständigen, die der Beirat darüber hinaus noch hören kann, der Sachverstand und die beratende Mitarbeit an die Hand gegeben wird, deren die Bundesregierung, wenn sie vernünftige gesetzliche Maßnahmen vorschlagen will, auch ihrerseits nicht wird entraten können.
Ich bitte das Hohe Haus, unserem Änderungsantrag seine Zustimmung zu geben.