Rede von
Hans
Tichi
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn der Herr Bundesminister für Vertriebene der Meinung ist, daß mit seinen Darlegungen die Situation gerettet und seine und der Bundesregierung Schuld an dem Zusammenbruch der Umsiedlungsaktion aus der Welt geschafft sei, dann hat er sich schwer getäuscht. Herr Minister, die Wurzeln des Übels liegen viel tiefer, und wir haben alle Ursache, diese Eiterbeule aufzustechen. Der Herr Bundeskanzler hat am Sonnabend in einer großen Kundgebung des Bundes vertriebener
Deutscher in Hannover zu uns gesprochen. Ich hätte gewünscht, daß er bei der Arbeitstagung, die am nächsten Tage stattfand, die schwere Anklage meines Parteifreundes, des Abgeordneten Dr. Gille aus Schleswig-Holstein, gegen die Bundesregierung wegen ihrer Umsiedlungspolitik gehört hätte. Herr Minister Lukaschek hat sie gehört, wahrscheinlich auch gut verstanden, und hat die Stimmung der Delegierten vernommen, die aus ganz Westdeutschland zusammengekommen sind.
•Eines muß mit aller Klarheit gesagt werden. Man ist in Regierungskreisen ernstlich besorgt wegen des wachsenden Radikalismus, aber man bemuht sich keineswegs ebenso ernstlich um die Beseitigung einer sozialen Kluft, die in ihren Ursachen die Quelle des Radikalismus ist. Wenn die durch Jahre hindurch vertrösteten und hingehaltenen Heimatvertriebenenmassen nun zur Selbsthilfe greifen und, wie wir hören, vorläufig in SchleswigHolstein Trecks organisieren, um in die Aufnahmeländer zu ziehen, dann muß man verstehen, daß es um eine begreifliche Notwehr der Enterbten und um eine sehr ernste Sache geht. Wir haben keinen Grund, diese begreifliche Notwehraktion zu unterbinden oder aufzuhalten. In Schleswig-Holstein gehen Listen von Haus zu Haus. Von der dänischen Grenze bis nach Niedersachsen hinunter tragen sich die Flüchtlinge und Vertriebenen darin ein. Sie setzen ihre Unterschrift unter folgenden Text:
Das Scheitern der offiziellen Umsiedlungsaktion infolge des restlosen Versagens der Regierungen und Parteien hat bei den unterzeichneten Heimatvertriebenen den Wunsch hervorgerufen, zur Selbsthilfe überzugehen und im Frühjahr 1952 zusammen mit anderen Schicksalsgenossen in einem geschlossenen Treck nach Süddeutschland zu ziehen, um aus der jetzigen trostlosen Lage herauszukommen. Zu diesem Entschluß sind wir vor allem durch die Erkenntnis gekommen, daß wir hier zur Dauerarbeitslosigkeit verurteilt sind und eine menschenwürdige Unterbringung auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird. Vor allem aber wollen wir unsere Kinder nicht weiterhin im Elend aufwachsen und unter den jetzigen Verhältnissen seelisch und körperlich verkommen lassen.
Diese Aktion hat bereits nach Niedersachsen herübergegriffen und wird wahrscheinlich auch in Bayern nicht ausbleiben.
Wenn es zu dieser revolutionären Tat kommen sollte, dann gebe ich den Herren Landbürgermeistern und Landräten, vor allem aber der einheimischen Bevölkerung der Aufnahmeländer den gutgemeinten Rat, diesen armen, von der Not gepeitschten Menschen und ihren Familien Tür und Tor zu öffnen und sie nicht vor ihnen zuzuschlagen.
Ich habe in meiner Heimat etwas Ähnliches erlebt, als unmittelbar nach dem ersten Weltkriege die ersten Trecks aus Siebenbürgen über Österreich zu uns kamen. Da habe ich gesehen, daß viele begüterte Bauern die Türen zuschlugen und daß diese armen Teufel damals im Freien kampieren mußten. Die Menschen, die heute als Heimatlose hier in Westdeutschland Zuflucht suchen müssen, sind dieselben Bauern, die damals herzlos waren. Das sollte zur Warnung dienen. Denn wir wissen nicht, was noch über die deutschen Lande kommen wird. Was nützen uns die Kundgebungen der Kirchen, was nützen uns die Bischofskonferenzen
über das Flüchtlingsproblem, wenn nicht wahre Nächstenliebe und Christentum in die breiten Massen jener christlichen Bevölkerung eindringen, die alles behalten und nichts verloren hat und nun der Schicksalsgemeinschaft eines gemeinsam verlorenen Krieges aus dem Wege geht?
Es ist für jeden Bewohner der Bundesrepublik, dessen Herz nicht zu Stein geworden ist, untragbar, und er kann es nicht verstehen, daß heute, sieben Jahre nach dem Kriege, bei dem wirtschaflichen Aufschwung Deutschlands seit 1948 wieder Züge des Elends und der Verzweiflung durch die deutschen Lande ziehen müssen. Ein Volk, das sich Luxusautomobile, Luxuslokale und Luxusgeschäfte in solcher Zahl leistet, Paläste, Kinos und Residenztheater baut, kann sich nicht Millionen Unzufriedene leisten, die einen Staat ablehnen, von dem sie ungerecht behandelt werden.
Der Zusammenbruch der Umsiedlung ist vom staatspolitischen Standpunkt betrachtet mehr, als die verantwortlichen Stellen zugeben wollen. Dieses Fiasko ist nicht nur ein schwerer Schlag gegen unsere Flüchtlingspolitik, sondern ein Bankrott unserer föderalistischen Staatspolitik als solcher.
Wenn der Staat von seinen Bürgern verlangt, daß sie seine Gesetze befolgen, dann muß er auch so viel Autorität haben, daß die Minister, die Staatssekretäre und die Bürokraten in den Aufnahmeländern ein Gesetz respektieren, das der Bundestag einmütig beschlossen hat und das vom Bundespräsidenten sanktioniert worden ist.
Eines ist schon grotesk: die Interpellation, über die wir heute verhandeln, wurde von der Fraktion der CDU/CSU eingebracht, somit von einer Partei, die die Regierung in den Aufnahmeländern beherrscht,
die heute hier unter Anklage stehen, einer Partei, der auch der Bundesvertriebenenminister Dr. Lukaschek angehört. Daher haben wir den Eindruck, daß es sich hier um eine Flucht vor der Verantwortung handelt und um nicht mehr. Es muß doch allen Verantwortlichen klar sein, um was es geht. Heute leben 300 000 Heimatvertriebene in Lagern und in Massenquartieren, oft 20 bis 40 Personen in einem Raum. Was das für die Moral der Familie und der Kinder bedeutet, kann nur der verstehen, der diese Lager besucht hat. Von 7 600 000 Heimatvertriebenen leben allein 60 %, das sind 4 700 000, in den Ländern Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Von 450 000 arbeitslosen Vertriebenen befinden sich vier Fünftel, das sind 360 000, in diesen Ländern. Die Situation wird noch dadurch erschwert, daß jährlich 200 000 Flüchtlinge aus der Ostzone hereinströmen, die man, auch wenn sie illegal kommen, nicht mehr herausbringen kann und vielleicht auch nicht soll.
Die Aufnahmeländer machen die Aufnahme weiterer Vertriebener davon abhängig, daß ihnen der Staat die notwendigen Wohnungsbaumittel zur Verfügung stellt. Wir haben wohl eine andere Auffassung. Von den Mitteln für den allgemeinen Sozialen Wohnungsbau wurden in den drei Abgabeländern 80 bis 90 % für Wohnungen für Vertriebene verwendet, während der Bundesdurchschnitt 37,5 % für Vertriebenenwohnungen beträgt. Daher kann man annehmen, daß in den Aufnahmeländern höchstens 20 bis 30% von den ihnen zugeteilten Mitteln des allgemeinen Sozialen Wohnungsbaues für Vertriebene verwendet wurden.
Der Herr Bundesfinanzminister Schäffer hat den Ländern verschiedene Mittel gesperrt, weil sie nach seiner Meinung ihre Pflicht nicht erfüllen. Die Bundesregierung hätte es demnach in der Hand, den Aufnahmeländern die Mittel für den allgemeinen Sozialen Wohnungsbau zu sperren, solange sie nicht das ihnen auferlegte Soll von Heimatvertriebenen übernehmen.
Die Aufnahmeländer bestreiten auch, daß bei ihnen Wohnraum vorhanden sei. Auch das ist nicht richtig. Auch die einheimische Bevölkerung in Bayern, in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein mußte sich in ihrem Wohnraum einschränken, als die großen Massen der Vertriebenen aus den anderen Ländern hereinfluteten,
während es bekannt ist, daß in den Aufnahmeländern noch Tausende von Wohnungen vorhanden sind, die man aber nicht erfassen will.
Wir wollen auch nicht — und das sei deutlich gesagt —, daß Mittel der Soforthilfe — und es geht um Hunderte von Millionen — für andere Zwecke als für Wohnungen für Vertriebene verwendet werden, wie es geschehen ist.
Und noch eines. Der Herr Bundesminister für Vertriebene hat heute und vor einigen Tagen im Rundfunk über das Problem der Umsiedlung gesprochen. Sein Appell an die Aufnahmeländer, ihre Pflicht zu erfüllen, war so schwach, daß er kaum eine Wirkung haben wird. Das wissen wir. Es fällt schwer, anzunehmen, daß auch nur einer der Betroffenen die Mahnung des Herrn Ministers ernst nehmen wird. Das einzige, was wir bewundern, ist das Vertrauen, das Herr Bundesminister Dr. Lukaschek in die Geduld der Heimatvertriebenen setzt. Diese Geduld, Herr Minister, ist vorbei! Erst gestern hat mir ein Minister erzählt, daß der Bundesminister Lukaschek im Vermittlungsausschuß geschwiegen hat, als das Gesetz über die Teuerungszulagen der Unterhaltsempfänger verschlechtert wurde.
Unser Problem, meine Damen und Herren, ist viel zu ernst, die Verantwortung der Regierung und ihres Ressortministers viel zu groß. Wenn sich der Minister für Vertriebene zu schwach fühlt, dann möge er einer starken Persönlichkeit Platz machen, die sich durchsetzt und in der Regierung durchgreift.
— Suchen Sie sich jemanden! — Wir haben nichts davon, wenn der Minister für Vertriebene lediglich die Rolle eines Bettelmannes spielt. Das erkläre ich mit aller Deutlichkeit, Herr Kollege Mende, nicht nur im Namen meiner Gruppe, sondern ich erkläre das im Namen meiner Partei, des BHE, dessen zweiter Vorsitzender ich bin.
Die Erklärung des Herrn Ministers hat uns nicht befriedigt.